Vizepräsident Baxters Rede an die Nation hatte nicht einmal fünf Minuten gedauert. Sie enthielt die übliche Verurteilung des Terrorismus, die Bestätigung, dass Präsident Hayes im Bunker in Sicherheit war, die üblichen Phrasen zur Stärkung des Nationalgefühls und zuletzt natürlich die Aufforderung zum Gebet.
Dallas King stand nervös im Arbeitszimmer des Vizepräsidenten, während er einem Meinungsforscher der Demokratischen Partei zuhörte, der von den ersten Ergebnissen der Ansprache berichtete. Mehrere Mitglieder des Stabes standen um ihren Chef herum und taten ihre Meinungen zu verschiedenen Themen kund. Die Kameras waren noch da, weil man davon ausging, dass man sie noch einmal brauchen würde, bevor die Krise bewältigt war. Dallas King hörte mit vorgetäuschter Aufmerksamkeit zu; in Wirklichkeit war er mit den Gedanken woanders.
Nervös blickte er auf die Uhr. Er würde zu spät zu dem Treffen kommen – einem Treffen, bei dem sich, wie er hoffte, das Angenehme in idealer Weise mit dem Nützlichen verbinden würde. Der junge Stabschef ließ Baxter nur ungern mit den anderen Mitgliedern des Stabs allein – doch das war nun einmal nicht zu vermeiden. Er nahm sein Sportsakko von der Lehne seines Stuhls und schickte sich an, zu gehen.
Der Vizepräsident blickte fragend zu ihm auf. »Wo wollen Sie denn hin?«
»Ich habe noch etwas Dringendes zu erledigen«, antwortete King augenzwinkernd und warf sich das Sakko lässig über die Schulter. Das Augenzwinkern sollte ausdrücken, dass er es ihm erzählen würde, wenn sie allein waren. Baxter nickte, und Dallas ging zur Tür. »Wir sehen uns dann morgen früh«, sagte er. »Wenn es etwas Neues gibt, können Sie mich ja übers Handy erreichen.«
King öffnete die Tür, nickte den beiden Sicherheitsbeamten zu, die am Gang postiert waren, und ging raschen Schrittes auf den Parkplatz hinaus. Er warf sein Sakko achtlos auf den Beifahrersitz seines metallic-blauen BMW-Kabrios und setzte sich hinter das Lenkrad. Eigentlich wollte er das Dach seines Kabrios schließen, doch dann beschloss er, damit noch zu warten, bis er an den Reportern vorbei war, die am Haupttor postiert waren. Er fuhr den kleinen Sportwagen aus dem Parkplatz und brauste zum Tor hinunter. King ließ die Scheinwerfer zweimal aufleuchten, um den Secret-Service-Leuten anzuzeigen, dass er es war. Als er das Tor erreichte, war es bereits ein Stück weit offen, sodass King ohne anzuhalten durchfahren konnte.
Der Amtssitz des Vizepräsidenten wurde von Reportern belagert. Vor dem Haupttor an der Massachusetts Avenue drängten sich die Wagen der Fernsehanstalten, und Fotografen versuchten noch schnell ein Bild von Kings Wagen zu schießen, als er an ihnen vorüberbrauste. King ließ den Fuß auf dem Gaspedal, als er in die Massachusetts Avenue einbog, während Secret-Service-Leute den Verkehr in beiden Richtungen anhielten. Während er nordwärts fuhr, blickte er kurz in den Rückspiegel und bog nach nur vier Straßen rechts ab. Mit über hundert Stundenkilometern brauste er durch ein Wohnviertel und schoss trotz eines Stoppschildes direkt vor einem herannahenden Taxi über eine Querstraße, was der wütende Taxifahrer mit lautem Hupen und dem Stinkefinger quittierte.
Er hatte sich um einiges verspätet; die Frau, die auf ihn wartete, würde gar nicht erfreut sein. King fuhr etwas langsamer, als er in eines der notorisch verstopften Viertel gelangte. Schließlich hielt er vor Stone’s, einer besonders schicken neuen Bar.
Als er das Lokal betrat, kam eine asiatische Frau auf ihn zu. Sie trug ein hautenges rotes Kleid, dessen Schlitz vom Boden bis zur linken Hüfte zu reichen schien. Sie blickte zu Dallas auf und hielt ihm die linke Wange hin. Die junge Lokalbesitzerin hatte keine Ahnung, was King beruflich machte, und es interessierte sie auch nicht weiter. Sie wusste nur, dass er ein gut aussehender, geschmackvoll gekleideter junger Mann war, der zumindest einmal die Woche ihr schickes Lokal besuchte – und das für gewöhnlich in Gesellschaft einer Frau. Die asiatische Schönheit wurde von nahezu jedem zweiten Mann, der das Lokal betrat, irgendwann gefragt, ob sie mit ihm ausgehen würde, und sie überlegte, wann wohl er an der Reihe wäre.
Als King sie auf die Wange küsste, ließ die Frau ihre Hände unter sein Sakko schlüpfen und legte sie direkt über seinen Gürtel, was bei ihm durchaus eine gewisse Regung hervorrief. Er atmete den Duft ihres Parfüms ein und sagte mit einem flüchtigen Lächeln: »Kim, du siehst wie immer umwerfend aus.«
Die junge asiatische Frau nahm das Kompliment lächelnd entgegen und löste ihre Hände von Kings Hüften. »Danke.«
King sah sie einen Moment lang an, um ihr Gelegenheit zu geben, die nahe liegende Frage zu stellen, nämlich wie es im Weißen Haus derzeit aussehe. Sie sagte jedoch nichts, und es dämmerte King allmählich, dass diese exotische Schönheit entweder ein wenig beschränkt sein musste oder tatsächlich keine Ahnung hatte, wer er war.
King blinzelte kurz und begann sich dann durch die Menge der Anwesenden zu schieben. Das Lokal schien heute Abend bis auf den letzten Platz gefüllt zu sein; das Geiseldrama lieferte der Stadt reichlich Gesprächsstoff. Für Lokalbesitzer in Washington war ein Skandal oder eine Krisensituation so etwas wie ein großes Sportereignis. Einige der Anwesenden erkannten den jungen Kalifornier als Vizepräsident Baxters Stabschef und begannen aufgeregt zu flüstern, als King sich durch die Menge kämpfte.
Als er in den Restaurantbereich kam, sah er sich nach seiner neuesten Flamme um. Am letzten Tisch vor dem Münztelefon und den Toiletten sah er sie schließlich. Sheila Dunn saß vor ihrem Laptop-Computer und hielt das Handy in der einen Hand und das Weinglas in der anderen. Als sie King erblickte, sagte sie ins Telefon: »Er ist da. Ich rufe dann zurück.« Die vierunddreißigjährige Reporterin legte das Handy auf den Tisch; das Weinglas behielt sie in der Hand.
»Dallas, wo zum Teufel warst du so lange?«
»Es tut mir Leid.« King beugte sich hinunter, um die blonde Frau zu küssen.
Sheila Dunn hielt ihm die Wange hin. »Ich habe noch fünfzehn Minuten für meine Geschichte, und mein Chefredakteur ist schon ziemlich sauer auf mich.« Mit einem zornigen Blick fügte sie hinzu: »Also erzähl bitte schnell.«
King setzte sich ihr gegenüber, worauf sogleich ein Kellner erschien. Sheila Dunn hielt ihr fast leeres Glas hoch und sagte: »Noch zwei davon«, um sich gleich wieder King zuzuwenden. »Du kommst eine Stunde zu spät. Findest du das galant?«
»Es tut mir Leid«, murmelte King ein klein wenig gereizt. »Ich weiß nicht, ob es dir aufgefallen ist, aber wir haben zur Zeit eine kleine Krise am Hals, und da bin ich im Moment eben ein bisschen beschäftigt.«
»Spar dir deinen herablassenden Ton, Dallas. Ich weiß genau, was los ist, aber ich habe trotzdem eine Deadline einzuhalten. Wenn du dann eine ganze Stunde zu spät kommst, ohne anzurufen, dann kannst du nicht von mir erwarten, dass ich außer mir bin vor Freude, so wie eine von deinen hirnlosen kleinen Freundinnen.« Sheila Dunn holte tief Luft und verschränkte die Arme vor der Brust. Ihr Zorn war durchaus beabsichtigt, denn so würde Dallas ihr am ehesten die gewünschten Informationen zukommen lassen.
Genau das war der Grund, warum King sie so attraktiv fand. Sie war eigenwillig und temperamentvoll. Die meisten Frauen, mit denen er ausging, sahen zwar toll aus, hatten aber nichts im Kopf. Sheila Dunn war anders. Sie sah recht gut, aber sicher nicht atemberaubend aus, doch mit ihrer Intelligenz und ihrem Temperament war sie für ihn mindestens so attraktiv wie irgendeine langweilige Schönheit. Und was das Wichtigste war, sie war verheiratet – etwas, das King vor Jahren noch als Hindernis angesehen hätte, das er aber mittlerweile als einen Vorteil betrachtete. Verheirateten Frauen ging es nur um Sex. Man musste keine Unsummen ausgeben oder irgendwelche langweiligen Spielchen mitmachen, bevor man ans Ziel kam.
Sheila Dunn hatte Kings Annäherungsversuche bisher stets zurückgewiesen, doch er spürte, dass ihr Widerstand allmählich nachließ. Sie war politische Korrespondentin der Washington Post, und als Baxters Stabschef war es für King besonders wichtig, gute Kontakte zu den Medien zu unterhalten, um ihnen bei Bedarf Informationen zuspielen zu können.
Er griff nach ihrer Hand und fragte: »Wie geht’s mit deinem Mann?«
»Beschissen«, lautete Sheilas knappe Antwort.
Zärtlich ihre Hand reibend, fragte er: »Wann habt ihr das letzte Mal miteinander geschlafen?«
Sie zog rasch ihre Hand zurück. »Das geht dich wirklich nichts an, Dallas.«
»Na schön … du brauchst nicht zu antworten, aber du bist trotzdem eine viel zu schöne Frau, um so einsam zu sein.«
»Dallas, wechseln wir das Thema.«
King hatte sie in letzter Zeit immer wieder bearbeitet, und er spürte, dass er bei ihr vorankam. Sheila Dunn zweifelte sehr an ihrer Ehe. Sie wusste, dass King sie wollte, und sie dachte, dass dies womöglich kein schlechter Zeitpunkt wäre, um ihren Trumpf auszuspielen. Was sich im Moment in Washington abspielte, war das spektakulärste Ereignis seit dreißig Jahren, und niemand hatte eine Ahnung, was im Weißen Haus oder in der Kommandozentrale des FBI vor sich ging. Es drang einfach nichts nach außen. Wenn sie dadurch, dass sie mit King schlief, an ein paar echte Informationen herankam, dann war es das wohl wert.
Die Drinks kamen, und King nahm einen kräftigen Schluck von dem Merlot. »Du würdest es nicht glauben, was für ein Mist da abläuft«, sagte er schließlich.
Sheila Dunn beugte sich vor und legte die Unterarme auf den Tisch. »Was zum Beispiel?«
King verdrehte die Augen. »Margaret Tutwiler, diese dumme Zicke. Sie ist schuld, dass Schwartz und seine Sekretärin tot sind. Sie kam auf die blödsinnige Idee, den Irren da drin zu reizen, indem sie nur einen Teil des Geldes herausrückte.« King hielt inne und nahm noch einen Schluck Wein. Er dachte an die Warnung, die dieser Mann von der CIA vor versammelter Runde ausgesprochen hatte; er hatte Aziz’ Reaktion genau vorhergesehen.
»Ich habe davon abgeraten, aber sie hat sich durchgesetzt. Du weißt ja, wie sie ist. Diese Frau wird von dem schlimmsten Penisneid beeinflusst, der mir je untergekommen ist. Sie wollte sich ganz einfach die Gelegenheit nicht entgehen lassen, es diesen Militärtypen einmal so richtig zu zeigen.« King schüttelte den Kopf. »Und das Schlimmste ist, dass sie nicht mehr da ist, um es auszubaden. Sie hat einen Nervenzusammenbruch bekommen, als Schwartz erschossen wurde, und jetzt liegt sie im Krankenhaus.«
»Du machst Scherze?«, fragte Sheila Dunn ungläubig.
»Nein«, erwiderte King mit Nachdruck. »Ich wünschte, es wäre so. Ich wünschte, sie wäre hier, um es auszubaden.« King zeigte auf sich selbst. »Jetzt kann ich die Suppe auslöffeln.«
Sheila Dunn stellte ihr Weinglas nieder und begann auf die Tasten ihres Laptops einzuhämmern. »Justizministerin Tutwiler ist also aus dem Spiel … Was zum Teufel hat das FBI bloß vor?« King zuckte nur die Schultern und trank noch einen Schluck Wein. Sie würde noch etwas nachhelfen müssen. »Komm schon, Dallas. Gib mir ein paar Hintergrundinformationen. Ich verlange ja nicht, dass du mir irgendwelche Staatsgeheimnisse verrätst.« Sie hielt inne, um ihm Zeit zu geben, darüber nachzudenken, und fragte dann mit leiser Stimme: »Was hat das FBI vor?«
King sah sie über das Weinglas hinweg an. »Sie bereiten sich auf alle Eventualitäten vor. Sie sammeln Informationen und suchen nach einem Weg aus der Krise. Sherman sagt, dass sie erst etwas unternehmen dürfen, wenn sie garantieren können, dass sie auch die restlichen Geiseln freibekommen.«
»Und was ist mit dem Präsidenten? Stimmt der ganze Unsinn, den dein Boss da in seiner Rede erzählt hat?«
»Ja, dem Präsidenten geht es gut, so wie Sherman gesagt hat«, bestätigte King. »Die Leute im Pentagon meinen, dass er wochenlang in dem Bunker überleben könnte.« King nahm noch einen Schluck Wein und beugte sich dann über Sheilas Laptop, sodass er ihr Parfüm einatmen konnte. »Du duftest wunderbar«, sagte er.
»Danke«, entgegnete Sheila mit einem halbherzigen Lächeln und wechselte sofort wieder das Thema. »Was gibt es sonst noch? Weißt du, wie die nächsten Forderungen lauten?«
»Nein. Wir werden erst morgen früh wieder etwas von den Kerlen hören.« Kings Aufmerksamkeit verlagerte sich etwas nach unten. An Sheilas Bluse war ein Knopf mehr geöffnet als üblich, sodass viel von ihrer zarten Haut zu sehen war. »Ich möchte so gerne mit dir schlafen«, sagte er.
Sheila Dunn fasste ihn ans Kinn und zwang ihn, ihr in die Augen zu sehen. »Was du mir da über Justizministerin Tutwiler gesagt hast, ist wirklich gut, Dallas, aber da ist mehr im Gange als du mir bis jetzt erzählt hast. Wenn du wirklich mit mir schlafen willst, musst du dich schon etwas mehr anstrengen … und das schnell.«
King spürte, wie ihm das Blut in den Unterleib strömte. Er überlegte, was er ihr noch sagen könnte, um den Pakt zu besiegeln, doch es fiel ihm nichts mehr ein. Die Wahrheit war, dass überhaupt nichts passierte. Alle saßen nur herum und warteten … bis auf … bis auf einen. King lehnte sich zurück. Nein, darüber konnte er nicht sprechen – doch es gab da etwas, das damit zu tun hatte, etwas, über das er sehr wohl sprechen konnte und das eine tolle Schlagzeile liefern würde. »Es gibt da schon etwas«, sagte er und überlegte, wie viel er ihr sagen sollte.
Sheila Dunn sah, dass er zögerte und beugte sich vor.
»Was … was meinst du?«
King blickte sich um und beugte sich zu ihr vor. »Hör zu, es darf niemand erfahren, dass du das von mir hast.«
Sheila Dunn tat beleidigt. »Dallas, ich habe noch nie eine meiner Quellen verraten.«
King verdrehte die Augen. »Ich sage ja nur, dass das eine sehr ernste Sache ist, okay?«
Sheila Dunn nickte eifrig. »Jaja, du hast mein Wort. Ich werde deinen Namen sicher nicht preisgeben.«
Der Stabschef des Vizepräsidenten blickte noch einmal um sich, um sicherzugehen, dass niemand lauschte, und sagte dann im Flüsterton: »Die CIA hat von dem Anschlag gewusst, bevor er passierte.«
Sheila Dunn starrte ihn mit großen Augen an. »Was? Und sie haben nichts unternommen?«
»Sie haben es erst kurz vor dem Anschlag herausgefunden«, erwiderte King. »Und sie haben sofort den Secret Service verständigt. Nur deshalb hat Hayes es noch bis in den Bunker geschafft.«
»Also hat die CIA dem Präsidenten das Leben gerettet.«
King zuckte die Schultern. »Na ja, in gewisser Weise schon.«
Sheila Dunn sah ihn mit einem breiten Lächeln an. »Das könnte eine gute Geschichte werden«, sagte sie und begann fieberhaft zu tippen. King sah ihr eine halbe Minute zu, dann schloss Sheila ihren Laptop und steckte ihn zusammen mit ihrem Handy in die Tasche. »Ich muss das noch schnell in die Redaktion bringen«, sagte sie, stand auf, beugte sich vor und streichelte mit einer Hand Kings Wange. »Wir beide unterhalten uns ein andermal weiter. Wenn du so weitermachst, werde ich noch schwach.« Sie zog ihn zu sich und strich mit der Zunge zärtlich über seine Oberlippe, lange genug, damit er sich nach mehr sehnte, dann drehte sie sich um und ging.