Mustafa Yassin war stolz auf seine Arbeit. Er überprüfte noch einmal das Ergebnis der Bohrung und schaltete dann alle drei Geräte ab. Yassin war schlau genug gewesen, Aziz zu sagen, dass er etwas länger brauchen würde, als er selbst ursprünglich geschätzt hatte. Jetzt würde sein Auftraggeber natürlich sehr zufrieden mit ihm sein, wenn er erfuhr, dass er sogar früher als erwartet fertig geworden war.
Nachdem er die drei Bohrer samt dem Haltegestell entfernt hatte, setzte sich Yassin auf seine Werkzeugkiste und zündete sich eine Zigarette an. Der rundliche Mann zog den. Rauch tief ein und nahm dann sein Funkgerät zur Hand, um Aziz zu verständigen.
Aziz aß gerade ein Sandwich in der Messe des Weißen Hauses, als ihn der Funkspruch erreichte. »Mustafa, hier Rafik. Was willst du?«
»Ich bin soweit.«
Aziz legte sein Sandwich nieder und wischte sich die Krümel von den Fingern. »Sag das noch mal.«
»Ich bin soweit. Wenn du kommst, dann fange ich mit dem letzten Teil der Arbeit an.«
Aziz war hoch erfreut. »Ich bin gleich da.« Er nahm seine MP-5, stand auf und blickte zu den Geiseln hinüber. Er suchte nach Sally Burke, der Sekretärin des Präsidenten. Als Mutter von fünf Kindern war sie genau die Richtige, um die entsprechenden Gefühle beim Präsidenten hervorzurufen. Wenn die Leibwächter des Präsidenten sich nicht kampflos ergeben wollten, würde er Mrs. Burke als Schutzschild verwenden. Aziz fand sie schließlich in einer Gruppe von Frauen. Mit seinem langen, dünnen Zeigefinger signalisierte er ihr, dass sie ihm folgen solle.
Sally Burke zeigte aufgeregt auf sich selbst und fragte: »Ich?«
»Ja, Sie, Mrs. Burke.« Lächelnd streckte Aziz eine Hand aus, um ihr aufzuhelfen.
Widerwillig nahm sie seine Hand und stand auf. »Was haben Sie mit mir vor?«
»Keine Angst. Ihnen geschieht nichts. Wir müssen nur mit jemandem sprechen.«
»Mit wem?«
»Machen Sie sich keine Sorgen. Es wird alles gut.« Aziz drückte aufmunternd ihre Schulter und versicherte ihr noch einmal, dass sie keine Angst zu haben brauche. Dann führte er sie aus dem Zimmer hinaus. »Muammar«, sprach er in sein Funkgerät, »wir treffen uns im Presseraum.«
Zu seiner Rechten sah Rapp zwei Türen; die eine führte in den Presseraum, die andere in den Säulengang hinaus. Er wollte beide überprüfen, um zu wissen, ob sie genauso gesichert waren wie die Türen im Esszimmer des Präsidenten und die Tür im Oval Office.
Als Rapp zum Presseraum hinüberging, begann plötzlich eine lebhafte Diskussion, die er über Funk mitbekam. Gleichzeitig hörte er Stimmen von irgendwo ganz in der Nähe. Er kehrte um und lief in die Richtung zurück, aus der er gekommen war.
Über Funk meldete sich General Campbell. »Iron Man«, sagte er mit aufgeregter Stimme, »uns läuft die Zeit davon. Sie haben aufgehört zu bohren und stehen kurz davor, die Bunkertür zu öffnen.«
Rapp konnte nicht antworten – er hatte im Moment Wichtigeres zu tun. Außerdem galt es jetzt, so leise wie möglich zu sein. Wenige Sekunden später war er zusammen mit Adams in der Speisekammer. »Sind Sie sicher?«, flüsterte er in sein Mikrofon.
»Ja.«
»Wie viel Zeit haben wir noch?«, fragte er, während er zusammen mit Adams durch das Esszimmer eilte und weiter auf den Flur hinaus, wo sie durch den geheimen Durchgang schlüpften.
»Wir wissen es nicht genau.«
Rapp schloss den Durchgang hinter sich und signalisierte Adams, dass er schon die Treppe hinuntergehen solle. »Was würden Sie schätzen?«, flüsterte er.
Es folgte eine kurze Diskussion in der Zentrale, ehe die Antwort kam. »Zehn Minuten maximal.«
Sie kamen an der Tür zur Horsepower-Zentrale vorüber und Rapp schob Adams in den Tunnel hinein. Als sie drinnen waren, schloss Rapp die Tür, sodass er wieder sprechen konnte, ohne Gefahr zu laufen, von Aziz’ Leuten gehört zu werden. »Zentrale – also, wie es aussieht, haben die Kerle das ganze Haus mit Sprengfallen gesichert. Unsere einzige Möglichkeit ist, die SEALs loszuschicken, damit sie wenigstens einen Teil der Bomben entschärfen, bevor das HRT eingreift.«
»Es gibt da noch ein Problem. Wir haben gerade bemerkt, dass einer der Monitore von Horsepower die Bilder einer Dachkamera zeigt.«
Rapp überlegte kurz und fand schließlich eine Lösung. »Ich warte hier unten, und wenn der Tango in Horsepower unsere Leute kommen sieht, schalte ich ihn aus.«
Er sah Adams an und wartete auf Campbells Antwort. Es frustrierte ihn, dass er von den Diskussionen ausgeschlossen war, die in der Zentrale abliefen. Nachdem er mehr als zehn Sekunden gewartet hatte, rief er in sein Mikrofon: »Irene, bist du da?«
»Ja.«
»Ihr könnt das nicht alles ohne mich entscheiden. Ich bin der Einzige, den ihr hier vor Ort habt, und es bleibt uns nicht genug Zeit, um jede Kleinigkeit lang und breit zu diskutieren.«
»Iron Man«, meldete sich General Flood, »wir schaffen das alles nicht mehr rechtzeitig. Wir müssen uns jetzt vor allem auf die Rettung des Präsidenten konzentrieren.«
»Dann schickt die Delta Force früher los – vor allem aber müssen Harris und seine Leute unbedingt kommen, sonst sind die Geiseln so gut wie tot.«
»Das lässt sich vielleicht auch so nicht verhindern«, stellte General Campbell fest. »Ich würde sagen, die Chancen, dass wir das HRT ins Weiße Haus bekommen, sind nicht viel größer als null. Und wenn wir sie reinbekommen, sind die Chancen, dass sie lebend wieder rauskommen, kaum größer.«
Rapp war ziemlich verärgert. Die Minuten verstrichen, und diese Leute in der Zentrale bekamen kalte Füße. »Ich brauche Hilfe. Ich kann den Tango in Horsepower ausschalten. Ich kann vielleicht auch den Tango im Roosevelt Room ausschalten, aber mit all den Bomben werde ich unmöglich allein fertig, und auch nicht mit den Tangos in der Messe. Wir müssen jetzt ein gewisses Risiko eingehen!«
»Wir wollen auch nicht, dass die Geiseln sterben«, erwiderte Flood mit seiner tiefen Stimme, »aber wir sind nicht bereit, unsere Männer in ein Selbstmordkommando zu schicken.«
»Wir werden dafür bezahlt, dass wir solche Risiken eingehen, General Flood. Sie waren selbst früher draußen an der Front, und wenn Sie zwanzig Jahre jünger wären, würden Sie jetzt auch ins Weiße Haus hineinwollen – egal, wie gering die Chancen sind. Fragen Sie doch Harris und seine Leute, und ich garantiere Ihnen, dass sie die Sache durchziehen möchten.«
Es, folgten einige Augenblicke der Stille, ehe General Campbell schließlich sagte: »Es stimmt. Wir müssen es versuchen.«
Dr. Kennedy und Stansfield waren derselben Ansicht wie Campbell, sodass der ganze Druck auf General Flood lastete. Es war eine riskante Operation, aber Flood wusste genauso wie die anderen, dass es keinen Ausweg gab. Nach einigen Augenblicken des Nachdenkens gab der Vorsitzende der Joint Chiefs schließlich seine Einwilligung. General Campbell drehte sich sogleich um und rief den Offizieren, die vor ihm saßen, die entsprechenden Befehle zu.
Die MC-130 Combat Talon war drei Minuten vom Absprungpunkt entfernt, als das Startsignal vom Joint Special Operations Command kam. Die vier SEALs begaben sich mit ihren Fallschirmen, dem Gepäck und den MP-10-Maschinenpistolen zur Heckrampe, wo sie sich in einer Reihe aufstellten. Reavers führte die Gruppe an; er überprüfte noch einmal die Schirme seiner Kameraden und ging dann auf seinen Platz an der Spitze der Gruppe.
Harris trat an seine Seite und blickte zum Horizont hinaus. Im Westen war die Sonne bereits untergegangen, doch der Himmel war immer noch hell. Im Osten sah es so aus, als stünde der Weltuntergang kurz bevor. Dort war der Himmel schwarz, so weit das Auge reichte. An den sturmgepeitschten Bäumen konnte man erkennen, wie stark der Wind sein musste.
»Tolles Wetter für einen Absprung!«, rief Mick Reavers seinem Kommandanten ins Ohr. »Welcher Idiot ist bloß auf diese verrückte Idee gekommen?«
Harris lächelte. »Wir haben schon Schlimmeres überstanden, Mick«, sagte er und klopfte ihm auf die Schulter. Dann kehrte er an seinen Platz am Ende der Gruppe zurück und wartete auf das Signal zum Absprung.
In dem gespenstischen roten Licht, das den Raum erfüllte, begann das grüne Absprunglicht zu blinken. Reavers hob die rechte Hand und signalisierte den Männern damit, sich auf den Absprung vorzubereiten. Wenige Sekunden später gab Reavers das Startsignal und sprang in die Tiefe. Tony Clark war der Nächste, gefolgt von Jordan Rostein. Als Letzter sprang schließlich Dan Harris aus dem Flugzeug.
Die vier Männer drehten sich in der Luft um hundertachtzig Grad und tauchten im freien Fall in der so genannten Froschlage in die Tiefe hinunter. Das Leuchtband an den Helmen half ihnen, sich aneinander zu orientieren. Unter ihnen war in südlicher Richtung das Weiße Haus bereits deutlich zu erkennen.
Rapp bekam laufend Informationen von Langley, während er über verschiedene Probleme nachdachte. Zwei davon konnte er sofort in Angriff nehmen. Er wandte sich an Adams und fragte: »Ist die Tür zur Hosepower-Zentrale eigentlich versperrt?«
»Ja.«
»Kann man sie mit dem S-Schlüssel öffnen?«
»Ja.«
»Nimm den Monitor ab, rasch.« Während Adams der Aufforderung nachkam, griff Rapp nach seinem Mikrofon. »Zentrale, ich schicke jetzt Milt zum Dach hinauf, damit er das Team durch den Tunnel führt.«
»Sind Sie sicher, dass das notwendig ist?«, fragte General Campbell. »Die Jungs haben die Pläne studiert.«
»Wir können uns keine Irrtümer leisten. Milt kennt sich am besten aus.« Rapp schob sein Mikrofon beiseite. »Milt, du gehst zu Anna und holst dir meine schallgedämpfte Pistole. Ich will nicht, dass du die deine benutzt. Sag ihr, sie soll schnell hierher kommen – ich brauche ihre Hilfe. Dann gehst du zu der Treppe, die zum Dach hinaufführt. Es wird sich jemand über Funk bei dir melden und dir sagen, ob die Luft rein ist. Wenn du hörst, dass die Scharfschützen auf den Terroristen oben in der Wachkabine gefeuert haben, gehst du sofort aufs Dach hinaus. Falls der Kerl noch lebt, dann schaltest du ihn aus. Du musst verhindern, dass er noch eine Nachricht über Funk durchgeben kann.« Rapp nahm Adams rasch den Monitor ab. »Beeil dich, Milt«, fügte er hinzu.
Adams stürmte die Treppe hinunter und verschwand im Tunnel. Rapp blickte auf die Uhr und lauschte dem Funkverkehr in seinem Kopfhörer. Während er auf Anna Rielly wartete, stellte er den Monitor auf die Kamera direkt vor der Horsepower-Zentrale ein. Im nächsten Augenblick erschien der Hinterkopf des Terroristen auf dem Bildschirm.
Keine dreißig Sekunden später kam Anna Rielly atemlos die Treppe herauf geeilt.
»Es gibt da etwas, das du für uns tun könntest«, sagte er und hielt den S-Schlüssel hoch. »Dort drüben gibt es eine Tür, die man mit diesem Schlüssel öffnen kann. In diesem Zimmer sitzt einer der Terroristen an einigen Monitoren. Es könnte sein, dass wir ihn ausschalten müssen, aber wir tun es nur, wenn es unbedingt sein muss.«
»Du willst also, dass ich die Tür aufsperre?«
»Ja. Sobald ich die Tür hier aufgemacht habe, dürfen wir nur noch flüstern. Danach mach einfach das, was ich dir sage, dann wird es schon klappen.« Rapp schlich zusammen mit Anna zu der Tür hinüber. Er legte seine MP und den Monitor auf den Boden, ließ sich auf ein Knie nieder und befeuchtete das gezackte Ende des S-Schlüssels mit Speichel. Dann griff er nach dem Türknauf und ließ das Ende des Schlüssels ins Schloss gleiten. Er blickte immer wieder zwischen dem Monitor und dem Schloss hin und her und schob den Schlüssel jedes Mal ein Stückchen weiter hinein. Als er etwa zu einem Drittel im Schloss war, hielt Rapp inne. Der Terrorist lehnte sich in seinem Stuhl zurück und verschränkte die Hände im Nacken. Rapp rührte sich nicht und hielt für fünf Sekunden den Atem an; dann schob er den Schlüssel ganz ins Schloss.
Er beugte sich zurück und signalisierte Anna, dass sie sich neben ihn auf den Boden hocken solle. »Wenn ich dir das Signal gebe«, flüsterte er ihr ins Ohr, »dann greifst du nach dem Schlüssel und dem Türknauf. Sage ich dann ›los‹, machst du so schnell wie möglich die Tür auf und wirfst dich rasch zur Seite.«
Drei MD-530-»Little-Bird«-Helikopter zogen über dem Potomac River dahin. Die wendigen kleinen Helikopter wurden von den besten Piloten des 160th Special Operations Regiment der Army geflogen, den so genannten »Night Stalkers«. Jede der Maschinen hatte vier Delta-Force-Männer an Bord, die jeweils zu zweit auf einer Landekufe des Helis standen.
Die Hubschrauber flogen knapp über dem windgepeitschten Fluss auf die Brücken südlich der George Mason Memorial Bridge zu. Anstatt die Maschinen hochzuziehen und über die Brücken hinwegzufliegen, brausten die Piloten unter den vier Brücken hindurch, während sie sich in nördlicher Richtung dem Weißen Haus näherten. Als sie auf die Arlington Memorial Bridge zuflogen, wurden sie etwas langsamer und gingen direkt unter der Brücke in den Schwebeflug. Hier würden sie warten, bis man sie rief.
Unterdessen war ein zweiter Schwarm von Little Birds über dem Anacostia River in nordöstlicher Richtung unterwegs. Die drei Helikopter überflogen die Frederick Douglass Bridge und wandten sich dann nach Norden. Mit gut 110 km/h zogen sie über die Dächer von Wohnblocks und Reihenhäusern hinweg. Sie flogen an der Ostseite des Kapitols vorüber, damit man sie von der National Mall aus nicht sehen konnte. Schließlich erreichten sie das Hoover Building, wo sie eineinhalb Meter über dem Dach in den Schwebeflug gingen, um ebenfalls zu warten, bis man sie brauchte.
Die Männer, die auf den Landekufen der Helikopter standen, waren für jede Art von Gefecht bestens ausgerüstet. Es gab nur eines, das ihnen Probleme bereiten würde, und zwar Bomben. Wenn die SEALs sie nicht entschärfen konnten oder keinen Weg fanden, sie zu umgehen, dann stand den Männern hier eine äußerst unangenehme Operation bevor.