Gerhard Zwerenz
Großer Gott Eifersucht (Bea)
Louis Wern war zumute, als fielen Weihnachten und Ostern auf diesen Mittwoch. Das seinen Augen sich darbietende Bild beschleunigte seinen Puls und erfüllte seinen Geist mit frischen Gedanken.
Mit einer mechanischen und unbewußten Bewegung schaute er auf seine Uhr. Danach blickte er wieder auf die Köstlichkeit gegenüber.
Entfernungen über vierhundert Kilometer legte Louis Wern mit dem Flugzeug zurück. Ansonsten nahm er den Intercity. Es sei denn, das Reiseziel lag abseits, dann wählte er den Wagen. Louis Wem war oft unterwegs. Sein Beruf stand in keinem der einschlägigen Verzeichnisse, ja, es gab eigentlich gar keine feste Berufsbezeichnung für das, was er tat und das er selbst nicht ohne einen Anflug von Verlegenheit als prinzipielle freie Mitarbeiterschaft charakterisierte.
Mit etwas loseren Worten pflegte Louis mitzuteilen, daß er für viele Herren arbeite. Da sei ein großes Architekturbüro gewesen, eine internationale Werbeagentur, eine Detektei. Auch führende Bankhäuser wandten sich an ihn. Zur Zeit war er meist für eine Firma unterwegs, die sich mit der Rettung bankrottbedrohter Unternehmen beschäftigte, aber auch den Aufkauf interessanter Objekte betrieb. Allerdings geschahen die Aufkäufe für andere Kunden, große Konzerne meist, die ihre marktbeherrschende Stellung auf die heimliche Weise weiter auszubauen suchten.
Louis Wern jonglierte mit Computern und Rechenmaschinen, er kannte sich in allen Geschäftszweigen aus und besaß eine teils angeborene, teils durch jahrelanges Training ausgebaute Sensibilität für Zahlen.
Es gab Fälle, die in der ganzen Branche berühmt wurden. Die besten Fachleute der Welt hatten sich bemüht und waren nicht weitergekommen.
Louis Wern reiste an, vergrub sich mehrere Tage und Nächte in den Aktenbergen und tauchte danach wieder daraus hervor mit einem knappen Rat und einem stichhaltigen Papier. Noch nie war einer seiner Klienten aufgelaufen, wenn er seinem Rat folgte. Wenn Louis abriet, kaufte man nicht. Riet er zu, wurde gekauft. Die traumhafte Sicherheit der Analysen und Prognosen dieses Fachmanns stand hundertprozentig fest. Sie erhöhte das Einkommen des Mannes mit dem Durchblick in jene abenteuerliche Dimension, wo das Geld den Kapital-Charakter gar nicht mehr abstreift. Mit einem Wort: Louis war das absolute As. Bis zu diesem Mittwoch morgen, wo er abwich vom Pfade der geschäftlichen Tugend.
Von Köln über Bonn und Koblenz bis Frankfurt hatte er allein in seinem Abteil Erster Klasse gesessen.
In der Bundeshauptstadt war es ihm gelungen, ein paar Herren durch ungnädige Blicke davon abzuschrecken, das Abteil zu betreten. Als geübter Intercity-Benutzer besaß Louis ein ganzes Repertoire abschreckender und abweisender Blicke und Gesten. Schon die Haltung, die er einnahm, signalisierte nach draußen auf den Gang, daß es nicht genehm sei zu stören. Diese Art sich mitzuteilen wirkte um so besser, als die meisten Intercity-Benutzer ebenfalls gern ein Abteil allein besitzen.
Wer oft und teuer mit diesen Zügen reist, legt es nicht auf Unterhaltung und Austausch von Höflichkeiten an. Nein, die Mehrzahl der TEE- und IC-Reisenden besteht aus hartarbeitenden Managern, die ihre Unterlagen mit sich führen, um während der Bahnfahrt darin zu lesen und sich Notizen zu machen. Die Bahnfahrt ist für sie eine Spanne Arbeitszeit, auch dies ein Grund, weshalb sie nicht fliegen.
Louis Wern war an diesem Morgen allerdings sehr wie Fliegen zumute.
Obwohl das Abenteuer mit einer Niederlage begann - war es dem deutlich abweisenden Herrn doch nicht gelungen, die Dame davon abzuschrecken, ins Abteil einzudringen.
Ja, sie setzte sich direkt gegenüber, was die Beinfreiheit beengte.
Erst als der Ärger ein wenig abgetaut war, nahm Louis das Bild seines Gegenübers in sich auf.
Seine Nerven begannen zu vibrieren.
Hinter Aschaffenburg, als es in den Spessart hineinging und die Höhen ringsum belaubte Mützen zu zeigen begannen, legte Louis seine Akte beiseite und beschloß mit einem seelischen Ruck, sich dem Leben zu widmen. Was den geschäftlichen und finanziellen Erfolg anging, so hatte er alles bereits erreicht, und seine tief im Herzen verschlossen gehaltene Unzufriedenheit nahm von Tag zu Tag mehr die Konsistenz jenes Sprengstoffs an, der bereits bei kleineren Erschütterungen explodierte.
Auch Berührungen können dazu führen, daß alles in Stücke gerissen wird.
Bea ging manchmal einfach auf den Hauptbahnhof. Oder sie fuhr mit dem Wagen zum Flughafen, parkte in der Abflugebene und schlenderte gemächlich durch die Hallen in der Erwartung, daß etwas geschehen würde.
Bea war jung genug, die Elastizität ihrer Wünsche und Freuden hielt mit der ihres in vielen ekstatischen Lieben durchtrainierten
Leibes Schritt, die lustvolle Biegsamkeit teilte sich in optischen Signalen mit.
Bea war vollkommen unerfahren in den Schmerzen der Liebe und eisern entschlossen, sich ihnen zu verschließen. Dafür hatte sie ihre eigene Methode entwickelt.
An diesem Morgen hatte sie in Frankfurt auf dem Bahnhof gestanden, als der IC von Köln langsam heranrollte. Das Profil eines Gesichts, das Bea sekundenlang erblickte, wurde zum Grund der Reise, die sie antrat, wenn auch ohne Fahrkarte.
Als der Zug hielt, stieg sie ein, zwei Waggons hinter dem Wagen, auf den sie es abgesehen hatte.
Sie wartete geduldig die fünf Minuten, bis der Zug sich erneut in Bewegung setzte.
Jetzt setzte die Frau sich ebenfalls in Bewegung.
Als sie das gesuchte Profil erkannte, ließ sie sich durch die feindselige Haltung des Mannes nicht abschrecken. Ohne ein Wort zu sagen, betrat sie das Abteil und nahm direkt gegenüber Platz.
Bea stand auf Gesichter. Sie waren ihre Schwäche, ihre Stärke, ihre Leidenschaft. In der Jagd nach Gesichtern entwickelte Bea alle jene Kühnheiten, die die Klassen der Männer der Klasse der Frauen untersagt haben, es sei denn, die Frau erkühne sich zum bezahlten Dasein der Prostitution.
Den Huren war von allen Ordnungen erlaubt worden, sich den offenen und verborgenen Wünschen der Männer anzugleichen und dem Geld mit abgestufter Schamlosigkeit zu begegnen. Geschäft ist Geschäft und Moral Form zu wahren.
Bea lächelte Louis Wern zu. Die Klugheit, die seine Züge ausdrückten, und die Anstrengung, die sich mit ihnen verband, weil es sich um eine fleißig angewandte Klugheit handelte, gefielen Bea, denn das Gesicht des über seinen Akten sitzenden Mannes verriet noch jene unterdrückte Sehnsucht, an deren Entfesselung der Frau gelegen war, seit sie entdeckt hatte, was sie damit bewirkte. In den Gesichtern der Männer las Bea alles über ihren
Körper, den Geist und die Seele, und sie erkannte den dankbaren Liebhaber auf Anhieb. Ihr lag weniger an den Männern, die sich offerierten und forsch darauf aus waren, ihr lag mehr an den andern, die sich verbarrikadiert und verpanzert hatten im Kampf um Erfolg und Macht und Geld.
Bea lächelte und gefiel sich in einigen ästhetisch ineinanderfließenden Bewegungen, denen zufolge ihr Kleid höherrutschte, ihre Knie beinahe unanständig auseinanderspreizten und die Augen des Herrn gegenüber das dunkle Grün eines tiefen Bergsees annahmen. Die einander widerstreitenden Parteien fochten ihre Kämpfe in Louis Werns Brust aus, und das wiegende Hin und Her von Sieg und Niederlage prägte sein schönes Männergesicht, das jetzt ein wenig an den Betrachter eines Kriegsfilms oder Fußballspiels erinnerte.
Bea saß lächelnd still und hielt ihre Schönheit dem Betrachter feil.
Der Intercity schlängelte sich durch gewundene Spessarttäler und rüttelte abgebremst übers verschlungene Gleisgewirr eines mittelstädtischen Bahnhofs, wo nicht gehalten wurde und ein paar wartende Fahrgäste standen, die von kleineren Zügen bedient würden und mit kaum verhohlener Sehnsucht dem Fernzug nachblickten. Verdrehte Bewegungen, abschrägende Blickwinkel, und schon war der Intercity am Stadtrand und legte erneut an Geschwindigkeit zu.
Als der Fahrkartenkontrolleur erschien, gab es die ängstliche Verwunderung, den gestockten Augenblick, und keiner der Anwesenden wußte, wie es enden würde. Bea nahm lässig die Knie zusammen, hielt die Ledertasche darauf, zahlte einmal Würzburg, steckte noch achtlos einen Schein dazu, winkte ab und lächelte andeutend.
Dreißig Minuten später, als der IC in Würzburg hielt, erhoben Bea und Louis sich, als handelten sie im offenen Einverständnis, dabei war kein einziges Wort gewechselt worden zwischen ihnen.
Ich, Bea Berondill, 24 Jahre alt, Tochter eines Berliners und einer Frau aus Lyon, aber der Berliner hatte einen Französisch-Schweizer zum Vater und die Mutter eine spanische Mutter.
Ich, Bea, mit neunzehn verheiratet, mit zweiundzwanzig geschieden, Besitzerin eines Mietshauses in Mannheim sowie eines Bankkontos mit fast einer Viertelmillion.
Ich, Bea, abgebrochenes Jurastudium, seither ununterbrochenes Studium der Welt, in der ich lebe. Mein Wagen: Golf GTI, knapp angebraucht gekauft beim Tachostand von 22 000 km, jetziger Stand 95 000 km. Ich fahre viel und weiß bei Antritt einer Fahrt selten, wo ich ankommen werde.
Ich, Bea, von Zeit zu Zeit jobbend, meist unterwegs, befreundet mit manchen, unzuverlässig, zugvogelhaft, im Frühjahr aus dem winterlichen Tiefschlaf aufwachend. »Wissen Sie was? So mieten Sie doch einen Wagen!«
Louis Wern mietete den größten, den sie da hatten, einen Audi 100, die Gänge ruckten und knackten ein wenig, doch fuhr es sich ansonst gut. Bea setzte sich von Anfang an hinters Lenkrad. »Kennen Sie den Spessart im Herbst?«
»Nicht im Frühling und nicht im Herbst.«
»Im Sommer?«
»Nicht im Sommer, nicht im Winter.«
»Damit Sie Bescheid wissen, ich bin geizig«, sagte Bea zu ihm. Da befanden sie sich schon auf der Autobahn Richtung Westen zum Spessart.
»Sie kommen auf für die Unkosten.«
Bea blickte ihn von der Seite an. Er nickte.
»Was haben Sie vor?« erkundigte er sich.
»Und Sie? Können Sie verkraften, daß Ihre wichtigen Termine ins Wasser fallen?«
»Nein. Kann ich nicht.«
»Und trotzdem?«
»Verdammt!« sagte er. »Und was ist, wenn wir immer schneller altern?«
»So schnell!« sagte die Frau und trat das Gaspedal bis unten durch.
»Wir gehen auf die Jagd«, sagte Bea, reichlich nebensächlich. »Sie bekommen alles, nur eines nicht.«
»Was ist das eine?«
»Ich bin das, was Sie nicht kriegen.«
»Und wenn ich kaufe?«
»Geld besitze ich selbst. Ich brauche keins und nehme keines. Nicht dafür.«
»Was nehmen Sie denn?«
»Sie!«
Mit achtzehn Jahren hatte Bea sich das erste Mal verliebt. Bis dahin war sie jemand mit einem Ziel vor Augen gewesen. Ohne sich darüber im klaren zu sein, war sie die Sklavin ihrer Eltern, der Familie und Schule gewesen. Den Blick fest aufs Abitur gerichtet, lebte sie in einer ewigen Dämmerung dahin.
Die Gesichter der anderen nahm sie schattenhaft wahr. Erst das Gesicht Berrys hellte sich zu jener Deutlichkeit auf, die ihr zusetzte und keine Ruhe ließ. Sie wußte noch nichts von ihrer besonderen Art und Weise zu lieben. Sie kannte sich zu wenig aus. Vielleicht war es eine Form von jugendlichem Selbstschutz gewesen, daß sie die Gesichter der anderen nicht deutlich genug wahrnahm. Denn jetzt, als sie es tat, trat Berry mit einem solchen Nachdruck in ihr Leben, daß es sich von einem zum anderen Tag änderte.
Ihre Entjungferung ertrug sie mit Gleichmut. Es war, als gehöre das lediglich dazu. Sie mußte aufgeschlossen werden für Berry. Ihre Sinnlichkeit war auf sein Gesicht gerichtet. Sie ahnte noch nichts von ihrem Fetischismus. Sie wußte nicht, das es dies gab, diese optische Verfallenheit. Doch sie spürte eine nicht zurückdämmbare Leidenschaft, einen Ansturm wilder Gefühle, näherte Berry sich ihr.
Ein Jahr später heirateten sie. Drei Jahre später ließen sie sich scheiden. Nein, Bea ließ sich von Berry scheiden. Dabei war es mit ihr noch immer wie zu Beginn. Sobald sie ihn sah, verfiel sie ihm in einer Liebe, die sie zugleich hinriß und erschreckte. Das war damals die Zeit ihrer langen Vormittagsspaziergänge gewesen.
Bea verließ die gemeinsame Wohnung und trieb durch die Straßen der Stadt, ziellos, absichtslos, die Eindrücke genießend wie eine von fern herandringende lockende Musik.
Oft kam sie mittags nach Hause und wachte erst auf, wenn sie durch die Tür in die Wohnung trat.
Ein ganzer Vormittag nutzlos vertan. Sie hatte nicht das Notwendige eingekauft und mußte nochmals los. Sie verbrachte die Vormittagsstunden, als wäre es auf andere Weise ein Schlaf. Sie träumte gehend.
Später, als sie darüber nachdachte, stellte sie verwundert fest, kaum jemand ging so wie sie ohne Absicht und Ziel. Wer überhaupt zu Fuß ging, hatte immer etwas vor, war in Eile, wußte, was er wollte.
Vielleicht bin ich irre, dachte Bea, und sie begann Bücher zu lesen über Seelenkranke. Sie erfuhr, diese Kranken gefielen sich oft im ziellosen Umherschweifen. Konnten tagelang unterwegs sein und kamen nie irgendwo an. Irgendwann wurden sie aufgelesen und in geschlossene Häuser gesteckt.
Bea fühlte sich nicht krank. Weder psychisch noch physisch. Es war auch so, daß sie sich wohl fühlte bei ihren Streifzügen. Doch die Kranken fühlten sich ebenfalls wohl dabei, das war der Grund dafür, daß sie sich in Bewegung setzten.
Als Bea mit ihren Überlegungen so weit gekommen war, begann sie sich Gedanken über ihre junge Ehe zu machen. Obwohl sie in diesen Jahren mit Berry nur Glück und Liebe und keinen Schmerz empfand, begann sie sich davor zu fürchten. Mit zunehmender Dringlichkeit befragte sie sich, was es denn sei, das sie Berry gegenüber dahinschmelzen lasse und wehrlos mache. Obwohl ihr dieser Zustand behagte, erfüllte er sie auch mit einem Gefühl des Widerstrebens und endlich des Widerwillens. Ihr Gefühl und ihre Liebe kamen, sobald Berry sich näherte, mit einer, wie ihr schien, zu ausschließlichen Macht über sie, die Willenlosigkeit ihres Zustandes machte sie betroffen, und sie begann erst Berry und dann sich selbst zu beargwöhnen.
Sie liebte Berry heftig, doch die Art und Weise, in der dies geschah und wie sie dadurch in den Zustand der Sklaverei versetzt wurde, erfüllte ihre Seele mit Unruhe. Berry, der selbstsichere junge Mann, bemerkte ihre Veränderung erst spät, was Bea ein weiteres Mal unsicher werden ließ, denn sie argwöhnte nun, Berry sei ein wenig dumm. Berry also gab sich doppelte Mühe, was indessen nicht viel hieß, denn bis dahin hatte er sich nur wenig anzustrengen brauchen, schmolz seine kleine Frau doch schon hin, wenn er ihr nur nahekam. Ja, er hatte von den ausgesprochen männlichen Linien seines Gesichts profitiert, in dieser Liebe und Ehe, und er konnte gar nichts dafür, denn in seinen jungen Jahren war ihm das deutliche Ebenmaß geschenkt worden, das er, um es zu behalten, erst noch würde verdienen müssen. Berry profitierte vom Glück der Natur, weshalb er es auch kaum beachtete und noch weniger bedachte, er nahm Beas Liebe einfach hin. Erst als sie damit zu zögern begann, wachte er ein wenig aus dem Dämmerschlaf auf, diesem Normalzustand seines Lebens, und suchte ein aufmerksamer Liebhaber für Bea zu sein.
Da war es schon spät. Zu spät, wie sich bald darauf zeigte. Bea verfiel ihrem Mann zwar jedesmal neu, wenn er es darauf anlegte, doch während seiner Abwesenheit bohrten die Gedanken in ihr, und sie schuf sich die Kraft einer Distanz, die neu war für sie.
Eines Nachts, als sie sich geliebt hatten, sprach Bea den Wunsch nach Scheidung aus.
»Liebst du mich nicht mehr, Bea?« erkundigte sich Berry.
»Ich liebe dich, wenn wir zusammen sind, Berry, aber ich kann dich nicht mehr ertragen. Verstehst du das?«
»Nein.«
»Wenn ich dich erblicke, wirkst du auf mich wie eine Droge. Begreifst du es jetzt?«
»Ich begreife nicht, was daran schlimm sein soll.«
»Für dich ist es nicht schlimm, für mich ist es eine Unfreiheit, die ich nicht dulden darf.«
»Du bist dir vollkommen sicher?«
Sie versuchte Berry die ganze Nacht hindurch verständlich zu machen, worum es ihr ging. Sie sprach, und je mehr sie sprach und argumentierte, um so weniger begriff Berry.
Das war die Stunde, da sie sich endgültig von ihm löste. Und es war die Stunde, in der sie begriff, daß Worte nichts erklären können, wenn sie nur dem Mund entstammen und nicht dem Herzen.
Nach der Scheidung gab es ihr jedesmal einen Stich, wenn sie Berry erblickte. Sie brauchte nur sein Bild zu sehen, und es geschah. Manchmal trafen sie einander in Hotels, wo sie miteinander schliefen. Bea kostete es aus, doch blieb sie stark genug, am Morgen danach heiter und unbeschwert fortzugehen. Im Gegensatz zu Berry, den ihre Scheidung tief verletzt hatte und der diese Niederlage nicht verwinden konnte, weshalb er sich in den Nächten, die sie wieder zusammenkamen, auch ganz besondere Mühe gab. So wenig verstand er seine junge geschiedene Frau, daß er sie mit jeder anderen insgeheim gleichsetzte und meinte, er müsse nur ein ganz besonders fleißiger, einfallsreicher und phantastisch guter Liebhaber sein, und sie werde zu ihm zurückkehren.
Berry hatte Bea nie begreifen können.
Sie behandelte ihn wie ein nettes kleines Kind. Sie war ihm auch als geschiedene Frau noch eine besorgte, gute und tüchtige Liebhaberin. Für die eine Nacht, die sie im Hotelbett zusammenlagen.
Am Morgen aber vergaß sie Berry in dem Moment, in dem sie ihn nicht mehr vor Augen hatte.
Bea hatte endlich ganz begriffen, wie sehr sie ein Augenmensch war, von ihren Augen sklavisch abhängig. Ihre Blicke waren ihre Schwäche. Was sie sah, ließ sie in Abwehrstellung gehen oder in wilder, leidenschaftlicher Liebe entbrennen.
»Wissen Sie, was Gesichtsfetischismus ist?« fragte Bea ihren Begleiter Louis Wern auf der Fahrt in den Spessart. »Es gibt Maler, die den Gesichtem ihrer Modelle verfallen sind«, antwortete Louis.
»Sind Sie wirklich der Meinung, daß es lediglich die Gesichter sind?«
Die Bereitwilligkeit, mit der Louis auf ihre Worte eingegangen war, verblüffte Bea. Es schien fast, als hege dieser Mann ähnliche Gedanken wie sie selbst. Das konnte aber auch ein bloßes höfliches Entgegenkommen sein, wie es solche Männer manchmal als Trick anwandten, um die Distanz zu verringern.
Louis hatte aber offenbar tatsächlich darüber nachgedacht. »Es gibt viele Gründe für Anziehung und Abstoßung, doch der stärkste Grund ist das Gesicht. Mich wundert, daß noch nie jemand eine Geschichte der Gesichter geschrieben hat. Ich meine, in den Gesichtern der Menschen steht alles geschrieben, ihre eigene persönliche Geschichte und dazu die Geschichte der Zeit.«
»Und die Körper?« warf Bea ein.
Louis lächelte. »Körper bereiten die meisten Täuschungen, denen wir unterliegen.«
»Nein!« sagte Bea schnell. »Es gibt schöne und häßliche Körper, genau wie bei den Gesichtern. Es gibt Körper, nach denen es uns leidenschaftlich verlangt, und nach anderen verlangt es uns nicht im geringsten.«
»Das ist eine Täuschung!« beharrte Louis und lächelte noch immer mit jener Nachsicht, die Bea nicht leiden mochte. Sie kam sich zum Kind degradiert vor. So wie Louis jetzt hatten die Eltern oft gelächelt.
»Mag sein, wenn wir sehr jung sind, faszinieren uns die Körper«, erklärte Louis, plötzlich ernst geworden und nicht im geringsten mehr lächelnd. Er sprach wie einer, der dabei nachdenken muß und Wert darauf legt, sich knapp und exakt auszudrücken. Keine Spur von Herablassung und keine Andeutung von Überlegenheit mehr. Louis dachte genau nach, während er sprach, und Bea empfand seinen Ernst als Zuwendung. Das freute sie. Zum ersten Male bei diesem Abenteuer fühlte sie sich bestärkt. Sie bemühte sich um keinen Unwürdigen. Mit nachtwandlerischer Sicherheit hatte sei einen Typen herausgegriffen, der es lohnte. Die Erkenntnis verschärfte das Gefühl, dem sie folgte, weil sie beherrscht werden wollte von dieser erotischen Leidenschaftlichkeit.
»Wenn wir den Kinderschuhen entwachsen sind«, fuhr Louis fort, »erkennen wir bald, daß uns die Körper bloße Zeichen von Nacktheit sind, die nur wenig bedeuten. Nacktheit ist noch keine Liebe und noch nicht einmal sexuelle Erregung. Nacktheit ist nur einfach die Abwesenheit von Verkleidung. Erst in Verbindung mit einem Gesicht beginnt uns das Nackte zu erregen.«
»Sie geben ein individuelles Psychogramm!« sagte Bea.
»Mag sein, daß ich nur von mir selbst rede. Übrigens, vielleicht verstehen Sie jetzt, daß ich nie zu Prostituierten gehen kann. Es erregt mich nicht. Es sei denn, ich fände das Gesicht der Hure interessant.«
»Ich bin eine Hure.«
»Wirklich?«
»Könnten Sie sich für mich interessieren?«
»Ich muß annehmen, Sie beabsichtigen irgendein Abenteuer. Leider gelang mir noch nicht, herauszukriegen, welch ein Abenteuer Sie vorhaben.«
»Sie kneifen vor meiner Frage, lieber Freund.«
»Ich muß Ihnen nicht erst sagen, daß Ihr Gesicht anziehend ist. Obwohl Sie offensichtlich nicht allein darauf vertrauten und mir eine andere Schönheit vorwiesen.«
»Ich wollte Sie unbedingt dazu bewegen, mitzukommen.«
»Und ich tat Ihnen den Gefallen.«
»Sie werden es nicht bereuen.«
»Falls Sie mich ermorden lassen wollen, erbitte ich mir die Gnade, in meinem letzten Augenblick Ihr Gesicht anblicken zu dürfen.«
»Das sind die Worte eines Romantikers, der Sie nicht sind.«
»Immerhin war ich romantisch genug, Ihnen zu folgen und mich in Ihre Hände zu begeben. Darf ich jetzt erfahren, was Sie Vorhaben mit meiner Wenigkeit?«
»Ganz einfach, ich möchte Sie beobachten!«
»Wie meinen Sie das - mich beobachten?«
»Wie ich es sagte - mir gefällt Ihr Gesicht. Ich möchte es beobachten, wenn es in Bewegung gerät.«
»In Bewegung -«
»In Erregung!«
»In Erregung?« Louis dämmerte, was gemeint war, und er lächelte wieder, doch ganz anders als vorher. Seine Eitelkeit, nicht überstark, doch auch nicht gerade sehr schwach, begann sich zu regen.
»Ich möchte Sie genau beobachten, wenn Sie lieben.« Bea gab die Erklärung bewußt beiläufig ab. So hielt sie es gern, wenn es um das Wichtigste ging, um ihre Herzensangelegenheit. Je mehr sie sich dem Ziel der Fahrt näherten, um so geiler fühlte sie sich. Es war eine wunderbare und ausschwingend freie Freude in ihr.
Bea steuerte den Wagen eine schmale pappelbestandene Allee entlang, die in ein Rondell mündete, das von einem hohen eisernen Tor begrenzt wurde.
Sie ließ den Wagen nahe ans Gitter heranrollen. Das Tor öffnete sich lautlos. Die beiden Flügel schoben sich beiseite, Bea fuhr in das parkartige Grundstück ein.
Der Weg war jetzt so schmal, daß nur ein Wagen darauf Platz fand, und es ging in langen Biegungen unter mächtigen Kiefern und Tannen hindurch.
Die Zufahrt mündete auf einen großen Platz, wo viele Wagen geparkt standen. Man befand sich jetzt vor einem schloßartigen Gebäude mit unverputzten Backsteinfronten.
Louis erkannte auf den ersten Blick, es handelte sich nicht um ein historisches Bauwerk. Offenbar hatte Anfang des Jahrhunderts ein schwerreicher Glückspilz hier seinen Wunschtraum verwirklicht und eine Mischung von altem Schloß und Fabrikantenvilla hinstellen lassen. Es paßte alles nur grob zusammen. Beim genauen Hinsehen paßte wiederum nichts zusammen. Jemand hatte seine Wünsche in Wohnarchitektur überführt, das große Geld eines erfolgreichen Unternehmers war zu einem schloßartigen Wohnsitz umgeformt worden.
Sie näherten sich einer kleinen hölzernen Pforte. Es dauerte kaum länger als einen Augenblick, und die Pforte wurde nach außen geöffnet. Zuerst erblickte Louis nur die schmale Hand der Dame, die die Tür aufhielt.
»Willkommen Bea!« sagte eine rauchige Stimme.
Louis war nicht überrascht von der Tatsache, daß seine Begleiterin hier bekannt war. Es hätte ihn überrascht, wäre es anders gewesen. Er verspürte eine anwachsende Neugier, eine Anspannung seiner Nerven. Die prickelnde Nervosität, die sich bemerkbar machte, erhöhte seine Lebenskraft und seine Bereitschaft zur Freude.
Es war doch richtig, daß ich nachgab und mitkam, dachte er. Die Empfangsdame, in ein langes weißes Seidengewand gehüllt, das vorn einen riesigen Ausschnitt hatte, in dem eine schwere goldene Kette schwang und die prallen, gänzlich freien Brüste sich wölbten, hatte Bea wie eine gute Freundin begrüßt und hielt ihrem Begleiter die schmale Hand hin. Louis antwortete mit einem Handkuß.
»Bitte unterlassen Sie es, Ihren Namen zu nennen«, hörte er die Dame sagen. »Der Umstand, daß Bea Sie mitbringt, ist uns Empfehlung genug.«
Sie gingen ein paar Schritte durch die kleine Halle und traten in eine größere Halle hinaus, die in eine noch größere mündete. Die zweite Halle war ohne jedes Mobiliar und mit einem blauen chinesischen Teppich ausgelegt, der so offensichtlich auf Maß gearbeitet war, daß er auf den Zentimeter paßte.
Die dritte Halle enthielt viele Sitz- und Liegemöbel. In ihrer Mitte war ein großes Schwimmbecken eingelassen, dessen Wasser von bunten Scheinwerfern gemustert wurde. Hier befanden sich viele Menschen. Manche trugen lange weiße Tücher, mehr oder weniger lässig umgeworfen. Die meisten waren nackt, und manche gruppierten sich zu zweit oder zu mehreren und waren damit beschäftigt, einander zu lieben. Am hinteren Ende des Schwimmbeckens ragten zwei verspiegelte Säulen aus dem Wasser, Springbrunnen, und das Wasser stürzte in Kaskaden an ihnen herab. Das Geräusch enthielt einen trommelartigen Rhythmus, und dieses Trommelgeräusch übte auf die Anwesenden eine geheimnisvolle anfeuernde Wirkung aus.
Louis empfand die Wirkung schon nach kurzer Zeit.
»Kommen Sie, mein Freund«, hörte er Bea sagen.
Sie traten zur Seite. Louis sah, daß seine Begleiterin sich auszog, und tat es ihr nach. Die Kleider kamen auf einen mattgold schimmernden Bügel, der an einer von oben herabhängenden Kette befestigt war.
»Merken Sie sich Ihre Zahl!« sagte Bea. Als Louis nicht gleich begriff, was sie meinte, nannte sie ihm seine Zahl. Er erkannte jetzt, die Zahl stand auf dem Bügel verzeichnet. Bea drückte einen Knopf, ihre beiden Bügel entschwanden nach oben. Louis blickte hinauf und sah, die Kleider der Besucher der Orgie hingen alle in Reihen oben an der Hallendecke.
»Kommen Sie!« sagte Bea. Louis spürte ihre Hand auf seinem Arm. Die Frau sagte mit einer vor andrängender Erregung vibrierenden Stimme: »Jetzt werde ich Sie beim Lieben beobachten!«
Er befand sich bereits in einem so freudigen Zustand, daß ihm der Gedanke, er könne ihren Erwartungen nicht entsprechen, gar nicht kam. Er wußte nicht genau, was sie von ihm wollte, doch er fühlte sich so stark angeregt, daß er sich dem, was bevorstand, mit einem wohligen Schauer des Entzückens öffnete.
»Sind Sie das erste Mal im Schloß >Spessartlust<?« erkundigte sich eine Dame bei Louis, während er sich bei ihr mit geschmeidigen Bewegungen einschmeichelte.
Louis schätzte die Frau auf Anfang Dreißig. Ihre Haut und der Tonus ihres Fleisches signalisierten zwar weniger Jahre, doch Louis glaubte seinen Blicken mehr als seinen tastenden Fingern und den wohligen Signalen seiner eigenen Haut. Die Frau unter ihm bewegte sich mit der Gelassenheit einer jungen, durchtriebenen Hure. Louis kannte sich bei Huren zwar nicht aus, doch wußte er Bescheid. Er paarte sich mit einer Frau, deren Liebesvermögen auf langes und intensives Training schließen ließ. Die Reaktionen ihres Gesichts unterschieden sich um Bruchteile von denen ihres Körpers, es war, als bleibe das Gesicht bewußt hinter den körperlichen Aufforderungen zurück. Louis erkannte, seine Partnerin trug eine Perücke. Unter dem langen, aufgesetzten Schwarzhaar schimmerten kleine blonde Strähnen. Louis stützte sich mit den Armen ab, richtete sich auf und warf einen Blick nach unten. Kein Zweifel, seine Partnerin war eine Blondine.
»Weshalb tarnen Sie sich?« fragte er.
»Wir wohnen in einer Kleinstadt ganz in der Nähe.«
Er begriff, sie fürchtete, von Nachbarn erkannt zu werden. »Und Sie haben eine Beobachterin mit?« fragte die Frau.
Er hatte sich ihr jetzt wieder angenähert. Sie lagen eng übereinander und schickten langsame Wellen durch ihre Körper.
»Es gefällt ihr, mich zu beobachten«, stimmte Louis zu. Er spürte, wie die Frau drängte. Sie drehten sich zur Seite, die Frau schwang weiter und lag jetzt auf Louis. Sie zog die Beine in Sitzstellung an, richtete den Oberkörper auf und stieß ungescheut einen schamlos gellenden Schrei aus.
Auf den Schrei hin wandten sich andere Anwesende den beiden zu. Manche kamen herbei und bildeten eine kleine Gruppe. Die Frau, auf Louis sitzend, lächelte ihm zu, beugte sich nach vorn und flüsterte etwas in sein Ohr. Louis war sich nicht sicher, ob er genau verstanden hatte, was sie flüsterte. Es klang wie: Ich möchte gern, daß mein Mann aufmerksam wird.
Ihm war, als suchte die Frau wiederum sein Einverständnis. Sie saß auf ihm und ritt ihn in einem nicht zu schnellen und heftigen Rhythmus. Ihr Gesicht, dessen feine Züge sich ihm jetzt in der anders einfallenden Beleuchtung enthüllten, wies die ersten erregten Spannungen auf. Jetzt befanden sich Gesicht und Körper im Gleichklang. In den Augen der Frau saß ganz deutlich sichtbar der Wille, sich nicht gehenzulassen, sondern zu zögern und abzuwarten. Ach ja, durchfuhr es Louis, sie möchte doch, daß ihr Mann aufmerksam wird. Er warf einen forschenden Blick in die Runde. Unter denen, die nahebei standen und ihnen zusahen, waren einige Männer, keiner allerdings ließ erkennen, daß er zu der Frau gehörte.
Während er von einem zum andern blickte, steigerte die Frau ihre Bewegungen, ihre Reize wurden kräftiger, ihr Atem keuchte, in ihren Pupillen gingen kleine Sterne auf, mit kreisenden Bewegungen. Ich habe ein Feuerrad-Mädchen aufgerissen, dachte er freudig bewegt, das war ein Wort aus seiner frühen Jugendzeit, Feuerrad-Mädchen nannten sie damals die Leidenschaftlichen. Wieder blickte er zur Seite und erkannte Bea. Sie stand Arm in Arm mit einem Mann und beobachtete mit großen, vor Erregung ganz runden Augen, was geschah. Er erkannte deutlich, sie hatte ihren Beobachterposten bezogen, es war ihre erklärte Absicht, ihm zuzusehen. Ach ja, dachte er, vor allen Dingen will sie mir ins Gesicht blicken. Er lachte freudig, doch indem er lachte, spürte er, wie sein Gesicht ihm den Gehorsam verweigerte, sein Gesicht lachte nicht, es wurde von anderen Kräften gefangengehalten und war seinem eigenen Willen entzogen. Sein Gesicht wurde, ganz wie sein Geschlecht, von dieser Frau regiert, seiner Partnerin, die auf ihm saß und sich mit allem Raffinement um ihn bemühte.
Oder aber bemühte sich diese Frau weniger um ihn und mehr um ihren eigenen Mann, mit dem sie hergekommen war und von dem sie hoffte, daß er nun in der Nähe sei und sie beobachtete? Ein kurzer Seitenblick verriet Louis, Bea stand noch immer an ihrem Ort, und der Mann, mit dem sie Arm in Arm dort stand, streichelte sanft ihre Hüften. Bea schien aus Erz gegossen zu sein und völlig ohne Bewegung. Nur ihre Augen, geweitet, rund, unnatürlich groß, enthielten Energien.
Louis wurde das Tempo der Partnerin zu heftig. Ihm schien es einfach zu früh, sich mitreißen zu lassen. Außerdem wollte er sich nicht zu schnell verausgaben. Er besaß keine Übung in solchen Veranstaltungen, ein stets vorhandenes Mißtrauen warnte ihn. So setzte er sich sachte zur Wehr, verzögerte und distanzierte, richtete sich endlich in einem passenden Moment auf, seine Partnerin umfassend, an sich drückend mit dem Oberkörper, und jetzt, da die Brüste der Frau infolge der aufrechten Sitzstellung ihre Normalform einnahmen, senkte Louis den Kopf und bedeckte sie mit leichten, kosenden Küssen. »He!« sagte die Frau, und es klang fast, als wäre darin ein Schluchzen enthalten: »Sie sind ja ein Zärtlicher!«
Louis nutzte die Gelegenheit dazu, sich zu lösen, doch indem er sich befreite, umschlang er die Frau zugleich mit seinen Armen und legte sie lang auf den Rücken. Mit einer Zärtlichkeit und einem Geschick, die ihn beide selbst überraschten, streichelte und umschmeichelte er den Leib der Frau, und seine Hände und Finger, seine Lippen, sein Kinn, seine Stirn und seine Zunge waren zugleich hier und dort und überall, so daß ihm ein langes, glückliches Stöhnen antwortete.
Louis führte währenddessen Regie selbst bei seinen heimlichen Gedanken. Er hörte sich innen lachen, argwöhnisch darauf achtend, daß es kein äußeres, sichtbares und hörbares Lachen würde, was die Frau gewiß mißverstünde und verübelte. Nein, er lachte nicht über sie, sondern über sich. Er hatte um diese Stunde längst über seiner Arbeit hocken sollen, um Geld zu verdienen - auch für andere Geld zu verdienen. Statt dessen war er, in seinem vierundvierzigsten Lebensjahr, abtrünnig geworden. Die Intensität seines unterdrückten inneren Lachens schlug durch bis ins Zwerchfell. Louis schmiegte sich an die Frau, die unter seinen Händen noch immer erschauerte. Sie spürte seine Begierde und bedrängte ihn dankbar.
»Und Ihr Mann, sieht er Ihnen jetzt zu?« flüsterte er.
»Ach, mein Mann, was kümmert mich mein Mann!« antwortete sie, unbedacht und unvorsichtig laut. Und Bea, dachte Louis, was ist mit Bea? Er hob den Kopf und blickte zu der Stelle, wo sie gestanden hatte. Doch da war sie nicht mehr, und Louis verspürte einen winzigen, bohrenden Schmerz. Großer Gott, dachte er, das ist die Eifersucht.
Später entdeckte er Bea, die zusammen mit einem riesenhaften Neger den umschwärmten Mittelpunkt einer Gruppe bildete. Louis, der schon an mehreren kleineren Gruppen vorübergekommen war, trat erst aufmerksam näher, als er eine Stimme vernahm.
Es war die Stimme der jungen Frau, die ihn hergelockt hatte. Sie klang ganz anders als beim Sprechen, und dennoch erkannte er sie sofort.
Wieder verspürte er das Bohren der Eifersucht, die er aber nicht wahrhaben wollte, denn sie signalisierte ihm die Unfreiheit seines Gefühls. Er mochte diese vielen Abhängigkeiten nicht. Ja, er bestand mit unbezähmbarer und willentlicher Wildheit auf seiner Freiheit und Autarkie. Nie in seinem Leben, abgesehen von der Schulzeit, hatte er Gefühlen gestattet, seine Gedanken und Entscheidungen zu dominieren.
Er trat näher an die Gruppe heran und schob sich zwischen die starren Leiber. Männer wie Frauen standen da und blickten fasziniert auf die Darbietung des Paares in ihrer Mitte.
Louis schob sich weiter nach vorn, und er stellte fest, es waren mehr Frauen als Männer, die die Paarung beobachteten. Frauen sind die besseren Voyeure, dachte er ironisch. Im allgemeinen galten Frauen als untauglich zum Voyeurismus. Man billigte ihnen einen starken Trieb zur Entblößung zu, nahm aber an, daß sie selbst kaum voyeuristische Bedürfnisse besäßen. Ihre Sexualität galt als zu ichbezogen. Auch nahm man an, ihr optischer Sinn, ja ihre optische Leidenschaftlichkeit seien unterentwickelt.
Die gebannt dastehenden und die Vorführung des Paares in ihrer Mitte verfolgenden Frauen straften diese Vorstellungen Lügen. Mindestens verrieten ihre angespannten Gesichter, wie angestrengt und interessiert sie die Darbietung verfolgten. Während Louis sich zwischen ihnen nach vorn schmuggelte, wobei er sich mit artistisch-tänzelnder Leichtigkeit durch die einzelnen Leiber fädelte und darauf acht gab, keine Person zu berühren, weil es die gesteigerte Situation geschwächt hätte, erfaßte er genauer als je zuvor den Charakter des weiblichen Voyeurismus.
Die Frauen um ihn herum unterschieden sich von den männlichen Spannern. Es war exakt der Unterschied wie bei Modenschauen. Die Männer starrten durch die vorgeführten Kleider hindurch auf die Haut und die Gestalten der Mannequins. Ihre Blicke waren entblätternd, die modischen Kreationen dienten als Vorwand. Die Frauen hingegen schätzten die gezeigten neuen Moden auf ihre Wirkung hin ein. In Gedanken führte jede der anwesenden Frauen die Mode selbst vor, und wenn etwas gefiel, dann deshalb, weil es eine stärkere Wirkung versprach.
Louis achtete schon aus beruflichem Interesse auf psychologische Feinheiten, denn er war in seinem Beruf darauf angewiesen. Ein Großteil seiner Stärke und seines Erfolgs bestand in seinem Vermögen, menschliche Verhaltensweisen zu dechiffrieren. Jedesmal erfüllte ihn die Entschlüsselung mit jener bittersüßen Freude, die einesteils Vorgeschmack eines neuen Erfolgs war, andernteils die eigene Eitelkeit hochreizte.
Was bin ich doch für ein kluges Haus! sprach Louis dann spöttisch zu sich selbst; der Spott steigerte sein Wohlbefinden. Indessen war er durch die erstarrten Leiber der beobachtenden Gäste fast ganz nach vorn gedrungen.
In der Mitte der Gruppe befand sich ein großer Eichentisch, der eine Last trug.
Bea lag mit dem Rücken auf der Tischplatte. Ihr Kopf ragte ein wenig darüber hinaus und knickte im Genick leicht nach unten ab. Ihr langes Haar fiel in Kaskaden nach unten, wo die Spitzen den Teppich berührten und auf ihm hin- und herschlugen.
Die Wellen, die durch Beas Leib rollten, liefen, sich verjüngend, in ihren Haarschweif aus. Die Ähnlichkeit des fallenden Haares mit dem buschigen Schweif eines stolzen, rassigen Pferdes drängte sich Louis so stark auf, daß er den Vergleich mit einem Pferd mühelos noch weitertrieb. Beas Gesicht, auf das er von der Seite her blickte, verlängerte sich in der Perspektive über die sowieso schon vorhandene Länge hinaus, und auch hier stellte der Beobachter die rassige Schönheit fest, die ihn bei edlen Vollblütern faszinierte. Am meisten faszinierte ihn Beas Blick, der unter den etwas zu weit hervordrängenden Lidern mit einer irren Leuchtkraft hervorschoß.
Sie hat Drogen genommen! dachte Louis, verwarf den Gedanken jedoch sofort wieder.
Über Bea lag der riesige Leib eines athletisch gebauten Negers. Trotz seiner Größe und Stärke strahlte sein Körper eine grazil anmutende Formschönheit aus, wie wenn ein durchtrainierter Boxer die Meisterschaft im Ballett erreichte.
Die schmale Gestalt Beas verschwand fast unter dem Körper des Mannes, der sie bedeckte und ihr in einem rhythmischen Tanz Stöße versetzte.
Lange Zeit verharrte das Paar in der einfachen Missionarsstellung, der schwarze, schweißglänzende Arsch des Mannes hob und senkte sich wie ein maschinell getriebener Hammer, und wenn er gegen die Oberschenkel und den Unterleib der Frau stieß, sandte er eine Welle der Erschütterung durch die Frau hinauf bis in ihre Stirn und den Fall des langen, losen Haares hinab auf den Teppich.
Aus den leicht geöffneten Lippen Beas drang ein vibrierendes »Ah - ah -«, unter den Lidern drängten die Pupillen hervor, in unendlichen Kreiselbewegungen verfangen, diese Augen nahmen nichts Äußeres wahr und wandten ihre Aufmerksamkeit nach innen, von wo auch die Laute kamen.
Jetzt lockerte der junge Schwarze seinen Griff, erleichterte sein auf der Frau lastendes, nieder drückendes Gewicht. Bea hob ihre Schenkel an, ihre Beine streckten sich steil nach oben, als wolle sie eine Kerze schlagen, der Schwarze ging auf die Bewegung ein, und im nächsten Moment warf Bea ihre Beine, in den Knien einknickend, über die Schultern des Partners, dessen Leib sich nun gegen die Unterseiten von Beas Schenkel preßte, und wieder begann er mit seinen mächtigen Stößen.
Wenn er auf Bea niederfuhr, drängte sein Körpergewicht die Schenkel der Frau gegen ihren Leib, daß sich ein spitzer Winkel bildete, und erreichte er seine optimale Spitze, entrang sich Beas Lippen der Lustschmerzenslaut. Danach, im Zurückfedern des kopulierenden Mannes, lockerte sich der gepreßte Zustand der Frau, und im Moment der größten Lockerung entrang sich ihren Lippen ein kaum hörbarer, leichter Seufzer.
Das Gleichmaß von Lust und weitabgewandtem Schlaf war es, das die Umstehenden festbannte. Louis hatte noch nie ein so selbstvergessen liebendes Paar gesehen, und die überraschende Wahrnehmung verbannte für eine kurze Zeit jede Regung von Neid und Eifersucht aus seinem Herzen. Er war Bea dankbar dafür, daß sie ihn hierher mitgenommen hatte. Seine tiefe Befriedigung resultierte weniger aus dem Akt, den er sah, sondern aus dem, wie das geschah, was er jetzt beobachten durfte. Er begriff es zwar noch nicht restlos, seine Dankbarkeit speiste sich aus dem Glücksgefühl jener tiefen Seelenruhe, die ihn erfüllte, während er unter den andern stand und zusah. Auf eine seltsame Weise fühlte Louis sich gesteigert in seiner Lust und zugleich entlastet, es war ein wenig wie bei einem großen Boxkampf, nur weniger brutal und auf alle Fälle sehr viel intelligenter, schöner, leichtfüßiger, kurzum: betörender.
Als er so weit gekommen war mit seinen Überlegungen, verschlang sich die Zweiergruppe auf dem Liebestisch zu einem einzigen Gliederknoten, die fließenden Bewegungen gingen in die Starre des gebannten Augenblicks über, die rotglühenden Lippen Beas rissen auseinander zu einem lackglänzenden O, aus der Kehle der Frau entrang sich ein langgezogener, schmerzlich-jauchzender Schrei, dem der Schwarze, der reglos über der Frau lag, ein tiefes, kehliges Brummen folgen ließ.
Gemächlich begann das Paar sich wieder zu bewegen. Mit einer abgestimmten Wendung drehten die beiden sich, Bea lag auf dem Rücken, der Schwarze über ihr, die Schenkel der Frau spreizten sich weit, der stechenden Gier der Zuschauer Einblick gewährend. Alles drängte nahe herbei. Louis fühlte sich vorgeschoben, er roch die Liebe des Paares, der Duft von Schweiß, Parfüm, Sperma hüllte ihn ein, gebannt gingen die Augen der Beobachter vor und zurück, den Stößen des prächtigen schwarzen Körper folgend, der die unter ihm liegende, gegenhaltende Frau immer weiter ins Delirium trieb, aus dem sie lallende Signale gab, bis sie den Kopf hob und schrie: »Ja - mehr - stoß zu...« Der Ansporn setzte den schwarzen Hammer unter Druck, mit keuchendem Pochen sauste er auf und nieder, knallende Geräusche hervorrufend, der leuchtende Leib der Frau entschwand unter der drückenden Last, im rasenden Rhythmus peitschte der Mann die Frau voran, eine weiße Hand schlug gegen den rotierenden Arsch des Schwarzen, die Bewegungen ließen nach und verlangsamten sich, bis ein gemächliches Stampfen entstand. Es war, als gingen die beiden nebeneinander her, ihre Züge entspannten sich, der Schwarze nahm die verkrampften Hände von Beas Brüsten, deren Warzen steil aufgerichtet blieben, Mandelkerne, die sich abhoben, die Warzenhöfe, geweitet und gekörnt, unterstrichen die harte, gespannte Elastizität des Gewebes, das ganz und gar Empfindung wurde, und die genäßten Lippen der Frau bewegten sich, »Küß mich, Bob!« Der Schwarze bedeckte den verlangenden Mund mit der Fülle seiner vorgewölbten Lippen, und während sie einander beatmeten, zeigten ihre schneller ineinanderstoßenden Leiber an, daß sie sich entschlossen hatten, den Akt mit einem doppelten Höhepunkt zu beschließen.
In die Heftigkeiten ihres Ficks mischten sich die Vorläufer der Entladung, die sich mit zuckenden Muskelkontraktionen abzeichneten und eine Vielzahl keuchender Explosionen bewirkten. Es sah aus, als erschüttere ein Erdbeben die einander verschlingenden Leiber, sie hoben, stampften und prallten ineinander, der Kuß ihrer Lippen riß, beide Lippenpaare blieben durch eine erigierte Zunge verbunden, die lackglanzrot aufleuchtete, den aus Beas Kehle kommenden Schrei erstickend; die Lippen verknoteten sich erneut, die Übergabe des Samens geschah, der schweißnasse Arsch des Negers verlangsamte die Gangart, und wenn er sich vom Schoß der Frau abhob, federte die Möse nicht nach, der schwarze Schaft zog fast zur ganzen Länge heraus, die Wulste der Schamlippen aufspreizend, ein letztes Mal nahm das Glied des Mannes von der gesättigten Möse Besitz, aus der es rann und tropfte, dann brach der Liebhaber auf der Frau zusammen, und beide verharrten eng ineinandergeflochten, kaum daß sie atmeten.
Es herrschte vollkommene Stille um sie herum. Ihnen allen war, als erstürbe mit der Bewegung der beiden eine jede andere Bewegung in der Welt. Sie verhielten, als seien sie ein Bild. Der Bann des Geschehens hatte sich mit dem Bann des Zuschauens vereinigt. Gemeinsam kosteten sie die junge Schönheit des Schocks aus, den sie verweigerten und von dem sie dennoch wußten, daß er zum kulturellen Folterwerkzeug gehörte. In ihren Handlungen und mit ihnen als Darsteller und Publikum kehrte die Gesellschaft zu den Ursprüngen des Theaters zurück, zum Kult der Entfesselung.
Als einige Zeit vergangen war, löste sich der Bann, indem sich die gestockte Energie freisetzte: kaum endenwollender Applaus, glänzende Augen, knisternde Berührungen zwischen den Umstehenden, in die das eigene Leben zurückkehrte, aufgeladen durch die Energien des genossenen optischen Abenteuers. Ein wenig später schob Bea sich im Vorübergehen kurz an Louis und fragte:
»Hat es Ihnen gefallen?«
»Sie waren wunderbar!« antwortete er mit naiver Ehrlichkeit. Sie blickte ihm forschend und sehr ernst in die Augen und schien zu finden, wonach sie suchte.
»Wir sind uns nähergekommen, mein Freund.«
»Was heißt das?« Er hielt sie, die sich schon wieder entfernen wollte, zurück.
»Ich weiß nicht, wonach Sie fragen -«
»Wozu wollen wir uns näherkommen?«
Sie nahm seine Hand von ihrer Schulter, wohin er sie besitzergreifend gelegt hatte.
»Das Ziel ist die Autarkie der Gefühle!« sagte sie, jetzt ein wenig lächelnd, und verschwand im Gewühl.
Da fühlte er sich zurückgestoßen und gab seiner Eifersucht wieder Raum.
Die Autarkie der Gefühle, dachte er bitter, besteht offenbar darin, mit einem Neger öffentlich zu bumsen.
Er war sehr unzufrieden mit sich. Auch mit seinen dummen Gedanken und feindseligen Empfindungen.
Immerhin hatte er einiges empfunden, das nicht nur feindselig gewesen war, nein, einige seiner aufrührenden Gefühle signalisierten Sympathie und Hingabe. Er war sich zwar gewiß, daß sein erster Impuls gewesen war, den Neger von Bea loszureißen und sich selbst an dessen Stelle über sie zu werfen. Da Louis aber ein Mann von nicht unbeträchtlicher Intelligenz war, überdies mit einem nie ganz unterdrückbaren Hang zur Ehrlichkeit, gelang ihm immerhin so viel an Selbstanalyse, daß er sich vor sich selbst zu schämen begann.
Es muß möglich sein, eine Liebe zu erlangen, ohne die Feindschaft eines anderen Menschen zu entfachen, sagte er sich. Indem er sich derart weniger zur Ordnung als zur Befreiung aufrief, fühlte er sich auch viel befreiter, und die Feststellung, daß es so sei, beglückte ihn geradezu.
Um jemanden zu lieben, bedarf es nicht der vorangehenden Panzerung und des Feldzugs gegen Konkurrenten, stellte er fest. Und fügte hinzu: Neu ist meine Einsicht nicht, nur geht sie zum erstenmal unter die Haut. Bislang war sie lediglich nachgeplapperte Theorie gewesen. Welch ein riesiger Unterschied, welch klafterweite Differenz trennte das eine vom andern.
Als fiele es ihm wie Schuppen von den Augen, so sah er die Paarung wieder vor sich, und gänzlich ohne Haß und Feindseligkeit, bar aller mörderischen Eifersuchtsqualen. Was geschehen war, was er beobachtet hatte, zählte zu den köstlichsten Schönheiten, die einer genießen durfte, wenn er sich traute. Die Schönheit des optischen Genusses war an die Voraussetzung innerer Freiheit gebunden. Die Sklaven des Vorurteils reagierten mit Schreck, Haß und Feindschaft. Er würde ihnen künftig nicht mehr zugehören.
Louis traf Bea wieder an der kleinen, ein wenig ausgegrenzten Bar, hinter der ein asiatisches Mädchen im hochgeschlossenen Seidenkleid bediente. Das Mädchen lächelte höflich, und seine Maske hielt die Gäste auf Distanz.
»Sie wurde extra wegen ihrer strengen Unnahbarkeit ausgewählt«, erläuterte Bea, die mit den Besitzern des Privatklubs gut bekannt war.
»Jetzt weiß ich, weshalb die Bardame hier ist«, entgegnete Louis. »Und nun möchte ich gern wissen, weshalb Sie hier sind!«
Sie warf ihm einen forschenden Blick zu.
»Wissen Sie das nicht?«
»Nein.«
»Aber Sie haben es vorhin beobachtet!«
Er wußte bisher nicht, ob sie ihn gesehen hatte. Eigentlich war er davon ausgegangen, daß sie ihn nicht bemerkt haben konnte. Hingegeben, wie sie war, bei dem artistischen Akt.
»Ich bewunderte Ihre Vorführung, doch beantwortet sie nicht den Grund, weshalb es geschieht.«
»Weil ich es gern habe, und weil ich meine, die Kopulation müßte etwas von dem fatalen Charakter der Notdurft verlieren. Ich betrachte sie als das schönste Spiel des Lebens. Es gibt kein schöneres und aufregenderes. Ich weiß, nicht alle Menschen denken und fühlen so. Ja, ich fürchte, nur sehr wenige besitzen Mut und Charakter genug, dies zu bekennen. Lieber töten sie einander und lassen töten, um alles in der Welt möchten sie nicht in den Ruch der Geilheit und Sinnlichkeit kommen. Es sei denn, sie sind unter sich, und dann bilden sie eine Bande verschworener kleiner biertrinkender Übeltäter. Sage mir, wie du die Kopulation bewertest, und ich sage dir, was für ein Mensch du bist.«
Bea blickte Louis über ihr Glas hinweg wieder nachdenklich prüfend an.
»Es fällt mir schwer, so wie Sie darüber zu sprechen«, antwortete er nach einer Weile des Überlegens. Er war besten Willens, genau das zu sagen, was er dachte und fühlte, doch fiel es ihm sehr schwer, sich ein genügend sicheres Urteil zu bilden. Zwar neigte er dazu, Bea zuzustimmen, und ihre Ansichten gefielen ihm, doch argwöhnte er, unter den betörenden Eindrücken des Ortes zu stehen, an dem er sich befand. Überdies beeindruckte ihn Bea.
»Wenn ich es recht verstehe, möchten Sie jetzt, daß wir es miteinander tun?« fragte sie.
»Ich weiß nicht, ob ich Ihnen so viel bieten kann, und ich muß gestehen, ich bin nach dem, was ich sah, meiner nicht sicher genug.«
»Gehen wir davon aus, daß ich Sie schon im Eisenbahnabteil von meinen Absichten in Kenntnis setzte. Beruhigt Sie das nicht?«
»Im Abteil wußte ich noch nicht, was ich jetzt weiß. Ich war um eine Erfahrung ärmer, die ich nun keinesfalls missen möchte. Doch wer sagt mir, ob sich an dieses sympathische Erlebnis nicht ein weniger schönes anschließt, wenn ich Ihre freundliche Aufforderung annehme?«
»Meine Liebe zu Ihnen sollte Sie ermutigen.«
»Woher nehmen Sie die Sicherheit, von Liebe zu sprechen?«
»Ich fuhr nie mit jemandem hierher, den ich nicht auf eine unbezähmbare Weise mochte.«
»Sie holen sich öfter jemanden nach hier?«
»Sooft ich jemanden finden kann, der mich weder abstößt noch ängstigt. Und sein Gesicht muß mir versprechen, es wird sich öffnen wie eine Blume am Morgen, wenn die Sonne über den Horizont tritt.«
Bea lächelte auf eine ermutigende Weise, und so mochte Louis nicht mehr widerstehen. Seine Zweifel waren nicht beseitigt, doch sein Lebensmut war angestachelt worden. Vor Feinden oder auch nur neutralen Beobachtern hätte er es nicht über sich gebracht.
Beas Worte und Blicke jedoch waren von einer so bestärkenden Art gewesen, daß er sich geschämt hätte, den Antrag weiterhin abzuschlagen.
Er folgte Bea zurück in den großen Saal, und nach einigen Schritten hielt er sich mit ihr gleichauf. Zwar merkte er, wie sie ihn auf ein Ziel lenkte, doch wurde es ihm erst bewußt, als sie beide einhielten und vor dem großen Eichentisch standen, auf dem der riesige schwarze Supermann und Bea gelegen hatten. »Keine Bange«, flüsterte Bea und hauchte ihm einen Kuß auf die Lippen, bevor sie sich zurücklegte und öffnete.
Louis warf einen scheuen Blick zur Seite. Beruhigt registrierte er, die anderen Gäste hatten sich miteinander verbrüdert und verschwestert, sie bildeten kleinere und größere Gruppen, innerhalb derer sie ihre Liebesvorstellungen mit Eifer zu verwirklichen trachteten.
Er legte sich, noch ein wenig befangen und ungeschickt, auf Bea, die ihn in ihren sanften Anfangsrhythmus einbezog, als wolle sie ihn in Schlaf wiegen. Da besann er sich und legte eine härtere Gangart vor.
Nichts von dem, was um sie herum geschah, drang noch zu ihm durch, während sie sich paarten.
Ganz zu Anfang erinnerte er ein paar angelesene Sätze: »Da der notierende Naturalismus des Geschlechtsverkehrs keinerlei Sensationen mehr zu bieten hat, ist es an der Zeit, die in jedem Fick enthaltene Poesie zu entdecken und zu befreien. Auch auf die Gefahr hin, daß die Maschinenficker ratlos die Schultern heben: Derlei widerfährt uns nie.
In der Tat, es gibt Millionäre, die so arm sind, daß sie vor lauter Trübsal und Langeweile zu Vogelscheuchen erstarren. Und wir kennen windige Typen mit leeren Taschen, die vergnügt ihren Steifen vor sich her tragen. Weshalb aber sollte es nicht möglich sein, weder arme Sau noch kastrierter Millionär zu sein? Wer maßt sich die alte dumme Einteilung und Hierarchie an, die den einen Geld und Ekel zumißt und den andern Armut und Vitalität? Warum darf ich kein vitaler, sympathischer, kämpfender und gern auf diesem verdammten Erdboden weilender Millionär sein?«
Ihm fiel nicht ein, von welchem humoristischen Romanschriftsteller diese Sätze stammten, die ihm durchs Gehirn sprangen und zuckten. Er war auch nicht mehr ganz Herr seiner Gefühle, nicht ruhig genug fürs Erinnern und für die Wonnen der Zitatmaschine. Er lag inmitten der andern und versuchte sich den Griffen Beas zu öffnen, was ihm schwer genug fiel, denn der Mann ist mehr noch als die Frau eine Rinde am Baum - ein Schutz nach außen, also rauh und verwittert. Er lag und experimentierte mit der Weichheit seines Herzens und versuchte arglos zu sein, freundlich, also ganz und gar ohne Arg und Hinterlist. So bemühte er sich, gegen alle zurückliegenden Lebenserfahrungen anzuleben, gegen die Kriegsmaschine Mensch.
Ganz am Anfang leistete der Rest Außenwelt in seinem Inneren hinhaltenden Widerstand. Ein wenig Erinnerung an die Pflichtverletzung, die er sich zuschulden kommen ließ, war da, und ein Schatten Unbehagens, weil er sich’s so leicht machte, dann dachte er daran, daß er sich in einem Zustand gänzlich ohne Haß und Feindschaft und Konkurrenzkampf befand. Seine Gegner verloren an Schwerkraft, seine Bekannten entschwanden in die tiefen Täler des Vergessens, er besaß Zeit, viel Zeit, und die Ruhe des Genusses umgab ihn als eine zurückgewonnene Natur. Er wußte, er hatte sich schon lange danach gesehnt, dorthin zurückkehren zu können, von wo er vor langen Zeiten ausgesandt und ausgestoßen worden war.
Sein Blick senkte sich und traf auf den Blick der unter ihm ruhenden Frau, die ihn aufnahm und mit speichelfeuchten Lippen murmelte: »Komm!«
Er tat weder eine Pflicht, noch beglich er angelaufene Schulden, noch tat er es, weil er es zu tun hatte und es von ihm verlangt wurde. Es war ganz anders und auf eine erfrischende, umstürzende Art und Weise neu.
Aus den letzten erkennbaren Tiefen seines Gewissens rief ein verborgener Mund die Worte heraus, die Bea vordem gesprochen hatte. Jaja, dachte er und sprach es wohl auch aus, rauben wir dem Leben etwas von seinem tödlichen Gewicht und dem Coitus die schwere Gewichtigkeit der Notdurft. Er fühlte sich leicht und beschwingt und wie jemand, der fliegen kann.
Am Morgen frühstückten sie zu dritt. Er, Bea und der schweigsame Schwarze. Louis Wern betrachtete das seltsame Paar, das ihm gegenübersaß, die Stühle eng aneinandergerückt und die Berührung mit Armen und Schultern suchend.
Louis fühlte sich leicht und fröhlich und wohl wie seit langem nicht mehr. Seine Pflichtvergessenheit berührte ihn nicht im geringsten. Das ließe sich ausbügeln oder auch nicht. Er mochte diese Nacht in seinem späten Leben nicht missen. Er beugte sich ein wenig vor und betrachtete das Gesicht des schweigsamen Schwarzen.
Es war ein großes, ausgeglichenes und sehr sympathisch wirkendes Gesicht. Louis verstand Beas Vorliebe für diesen Schwarzen. Ihre Liebe. Erstaunt erblickte er die glimmenden Punkte in den Pupillen seines Gegenübers.
»Geben Sie sich keine Mühe, Bob ist stumm!« erläuterte Bea. »War er schon von Geburt stumm?«
»Seine Stummheit ist die Folge einer schweren Kopfverletzung. Eine junge Gewerkschafterin, die ihn liebte, nahm ihn zu Demonstrationen mit. Einmal kam es zu schweren Auseinandersetzungen. Junge Anarchisten prügelten sich mit der Polizei. Die Gewerkschafter verließen den Platz. Die Anarchos liefen davon. Bob allein blieb stehen. Ein ganzes Jahr lang lag er in der Klinik. Sein Mädchen, die Frau von der Gewerkschaft, sorgte für ihn, er hat viele Frauen, die für ihn sorgen, und alle kommen von Zeit zu Zeit hierher, um Bob zu besuchen.«
»Aber er sagt doch kein einziges Wort -«
Bea antwortete auf diese Dummheit nicht. Sie glich sich ihrem Freunde, dem Schwarzen, an.
»Was sind das für Frauen, die Bob hier aufsuchen?« gab er dem Gespräch eine andere Wende.
»Sie würden sie als Aussteigerinnen bezeichnen.«
»Wo steigen sie aus? Was verlassen sie?« Er hielt nicht viel von Aussteigern. Es kam ihm vor wie Davonlaufen. Obwohl er verunsichert genug war. Doch wollte er nicht ein Extrem durch das entgegengesetzte auswechseln. Er war selbst verändert, einer, der aufbrach und sich löste und nicht recht wußte, wohin es ihn führen würde. Was Bea über Bobs Freundinnen andeutete, begann ihn zu interessieren. Er dachte an die Frauen in seinem Verwandten- und Freundeskreis. Ihm schien, als deutete sich da auch manches an. Aber was war es, das sich andeutete? Was bereitete sich vor? Es gab Frauen, die plötzlich nicht mehr wie vordem alles taten und akzeptierten. Doch was wollten sie eigentlich?
Als kenne Bea seine Gedanken, antwortete sie: »Die Frauen beginnen das Abenteuer des Lebens zu entdecken. Ich könnte dir Bobs Freundinnen schildern, und du würdest staunen, wie unterschiedlich die Typen sind, du würdest dich wundern, weil sie in nichts zueinander passen, ausgenommen in dem einen -«
»Ausgenommen in dem einen?«
»Frauen besaßen nie einen eigenen Willen.«
»Doch, den Willen ihres Mannes. Und blieben sie ohne Mann, wagten sie nicht, einen eigenen Willen zu entdecken und zu behaupten.«
»Das wird jetzt anders.« Bea lächelte ihm zu und wandte sich zu Bob an ihrer Seite. Ihn mit der Schulter zart berührend.
Es wirkte nicht wie - es war wirklich und wahrhaftig eine durch und durch liebevolle und ebenso glücklich-obszöne Berührung. Tatsächlich erhielten unter Beas Griffen die Berührungen ihre alte gute Bedeutung des Obszönen zurück. Die Muskeln zuckten. Die Haut ist keine Wüste. Aller Anfang alles Lebens ist das Leben. Louis begriff, daß Bea versuchte, ihn für sich und Bob und ihre Freunde und Freundinnen zu gewinnen, und er überlegte, ob er es fertigbrächte, so ohne Mordgedanken zu existieren, wie sie es verlangten.
»Sie verstehen, was wir erwarten, Louis?«
Er zögerte mit der Antwort.
»Bisher wurde zwischen Leben und Kunst getrennt, wir aber versuchen, das Leben zum Kunstwerk zu gestalten. Das bedeutet nichts Geringeres, als daß wir uns bemühen, jede unserer Handlungen dem Ziel des Gestaltens unterzuordnen.«
Bea hielt Bob umschlungen und küßte ihn mit vorgewölbten Lippen. Sie griff Bob hinter den Gürtel.
Louis beobachtete die beiden und fragte sich unsicher, ob er es fertigbrächte, so zu sein wie sie. Er war aber weder eine Frau noch ein von seinem Gedächtnis befreiter schwarzamerikanischer Liebesheld. Nein, in ihm überdauerte das alte, mörderische Erbe des weißen Eroberers, und ihm fiel die verbale und akustische Nähe der beiden Genitive auf: des Eroberers - des Europäers.
Wollte einer wie er, Louis, die Nähe, die Freundschaft und Zärtlichkeit gewinnen, mußte er sich weit von seinem alten Adam entfernen, von seinen eingetrichterten Schulweisheiten, von der Kasernenhofdisziplin, von den Techniken der Inbesitznahme. Die Gefühle, die ihn bewegten und durch und durch pflügten, drangen so weit vor, daß sie die leuchtende Klarheit begriffener Worte annahmen, und unter den weiten Mänteln der Worte zeichneten sich die scharfen Begriffe ab.
Louis war dankbar.
Er beachtete, wie Bea Bob entblößte.
Vor Louis’ geweiteten Augen spielte ein Film, er sah sich aufwachsen in seiner Familie, sah die offenen und die verborgenen Handlungen, ja, so war sein Leben verlaufen, immer abgetarnt und verlogen, stets auf der Hut vor Entdeckung: die Liebe war, wenn es sehr weit kam, ein argloser Kuß. Er hatte ein Leben der andauernden Verleugnungen geführt.
Was Bea ihn lehrte, war das Gegenteil, war eben, und jetzt wußte er, wie sie es gemeint hatte, die Suche nach neuen Formen und Darstellungen, die Expedition zu neuen Erfahrungen, neuen Höhen und Tiefen.
Er glaubte nun, etwas von dem, was Bea tat, zu begreifen. Sie arrangierte ihr Leben als Kunstwerk, nicht wie ein Kunstwerk, sondern als wirkliches Kunstwerk, und sie benötigte Publikum dazu, denn die Kunst verlangt nach Öffentlichkeit. Außerdem tat der Künstler das Ungewohnte, Revolutionäre, eben das andere, und indem er die Schale des Eingefahrenen und Gewohnten durchbrach, drang er zu einer neuen Kunsterfahrung durch und schuf ein neues Werk der Kunst.
Louis, indem er es so genau durchdachte, erschrak vor der Schwierigkeit der Aufgabe, ihn schwindelte vor der Kühnheit. Er argwöhnte, jemand, der sich so viel vornähme, habe sich zu viel vorgenommen. Weshalb aber nicht wenigstens einen Versuch wagen? Louis beugte sich erneut weit über den Tisch vor und beobachtete die winzigen Irrlichter und sich drehenden Feuerräder in den großen kastanienbraunen Augen des Schwarzen, dessen Blick in die Weite gerichtet schien.
Er beugte sich noch weiter nach vorn, denn er wollte alles sehen und erkennen. Und er erkannte ein kaum merkliches Zucken, eine winzige Veränderung im Blick des Schwarzen, die sich fortsetzte, die Pupille verließ, über die Lidfalte in die ruhigen Züge eindrang. Es war wie die erste Andeutung eines lächelnden Signals, eines erahnbaren Einverständnisses, ein gehauchtes Signal und Versprechen: Wozu auf Worte warten, wenn wir uns begreifen.
Louis beugte sich vor zu den beiden anderen und sprach, ihnen über das Haar streichend, mit einer ihn selbst überraschenden vollkommenen Zärtlichkeit: »Ich begehre euch.« Er wußte, er würde diesen Ort als ein Verwandelter verlassen. Er verspürte eine ungekannte Lust, so als berührten ihn liebevoll tastende Finger unter der Haut, und es war ihm wie Samt auf Samt. So schritt er über diese Aschehalde, ein leuchtendes Glitzern in den Augen.