Susanne Seitz

Fedor war zu Hause, als Lisa klingelte.

Zuerst erkannte sie ihn gar nicht, denn er trug nicht seinen schwarzen Cut, sondern einen blau-gelben Morgenrock, obgleich es bereits nach Mittag war. Normalerweise sah man ihn nur in Schwarz, selbst sein Malerkittel hatte keine andere Farbe. Kurzes Erstaunen erschien auf ihrem Gesicht.

Da Begrüßungen zwischen ihnen nicht üblich waren, sagte sie gleich: »Ich habe sehr lange nichts mehr von dir gehört. Da dachte ich, ich müßte mal vorbeikommen.«

Nach einem abschätzenden Zögern nickte er.

»Ist dies ein Privatbesuch?« wollte er wissen.

Lisa lachte und schlug den Schleier ihres Hütchens zurück. »Natürlich. Solltest du jedoch weiterhin berufliches Interesse an mir haben, stehe ich zur Verfügung.«

Fedor trat zurück und ließ sie eintreten. Als Lisa die nackte Frau auf den Fellen sah, erschrak sie etwas.

»Oh«, sagte sie. »Stören will ich nicht.«

Fedor nickte der Frau zu, befehlsgewohnt wie immer. Sofort stand sie auf und verschwand, um sich anzuziehen. Lisa sah ihr nach. Die Frau war nicht mehr schön und auch nicht mehr allzu jung.

»Ich würde dir sagen, wenn du störst«, sagte Fedor, goß Wasser in die Waschschüssel und wusch sich die Hände. Lisa stand unschlüssig im Raum. Inzwischen kam die Frau angezogen wieder hinter dem Paravent hervor, warf Lisa einen kurzen Blick zu und ging dann an ihr vorbei. Früher mochte sie einmal recht hübsch gewesen sein, doch jetzt sah sie verlebt und verwelkt aus. Sie war stark geschminkt und auffällig angezogen. »Montag?« fragte sie Fedor.

Ohne sie anzusehen, gab Fedor zurück: »Montag.«

Erst als die Tür ins Schloß fiel, blickte er hoch. Er war keineswegs verlegen. Er hatte die Frau nur bereits vergessen.

Lisa zog ihren Mantel aus und warf ihn über einen der beiden Stühle.

»Wer war das?« fragte sie.

»Uninteressant für dich.«

»Eine Prostituierte?«

»Eine Prostituierte.«

»Schläfst du mit ihr?«

Jetzt drehte er sich um und sah sie mit seinem sonderbaren Halb-Lächeln an. Eine Erwiderung kam nicht.

Sein Blick tastete sich über ihr Kleid. Es war neu und von dunklem Rot. »Wie ich sehe, verkaufst du dich inzwischen recht gut«, sagte er.

»Leander ist nicht kleinlich. - Abgesehen davon verdiene ich weiterhin bei Gregorian.«

Sie ging davon aus, daß er von ihrem Verhältnis mit Niki wußte. Ganz Schwabing wußte davon. Langsam nahm sie ihren Hut ab. Fedor schien in sich hineinzulachen. »Leander ist zwar ein ahnungsloser Kleckser, aber vielleicht ganz nützlich.«

»Inwiefern?«

»Er hat dich reif gemacht.«

»Reif? Wofür?«

»Für mich.«

Lisa lachte auf. »Du glaubst doch nicht, daß ich mit dir schlafe, nachdem du fünf Minuten vorher dieses Weibsstück gehabt hast.«

»Du glaubst doch nicht, daß ich danach frage.«

Er war auf sie zugetreten und stand direkt vor ihr. Angriffslustig

und trotzdem etwas beklommen sah sie zu ihm hoch. Seine Kiefer hatten sich gespannt. Plötzlich griff er mit einer Hand in ihr Haar. Es tat weh. Lisa ließ sich hochziehen.

»Du kannst nicht mehr zurück«, hörte sie ihn sagen. »Jetzt nicht mehr.«

Zurück? Sie wollte überhaupt nicht zurück. Er sollte ihr weh tun, er sollte sie auslöschen.

Mit Fedor war es Leidenschaft.

Mit Fedor entdeckte sie die eigene Hemmungslosigkeit und darin sich selbst. Auf Fedor hatte sie gewartet.

Lisa verstrickte sich in eine tiefe Hörigkeit. Einem Mann wie ihm war sie noch nie begegnet. Er magnetisierte ihre Extreme mit den seinen, er war stärker als sie, er hatte eine enorme psychische Kraft, die ihm Macht gab. Er nahm ihr ihren Willen und lehrte sie, das Spiel der Unterwerfung zu genießen.

Er konnte mit ihr machen, was er wollte - sie ließ es zu. Mehr noch, sie forderte ihre Versklavung heraus. Genug war nicht genug für sie. Fedor schenkte ihr ein breites Lederarmband, ein »Sklavenband«, das sie von da an immer trug.

Trotzdem lebte sie weiterhin mit Niki, dem dieses Armband ebenso auffiel wie gelegentliche blaue Flecke und Striemen auf ihrer Haut, Folgen ihres Ungehorsams. Er tobte wie ein Wahnsinniger und schrie: »Wer war das? Wer war das?«

Eigentlich erwartete sie, Niki werde sie hinauswerfen, aber sonderbarerweise geschah das nicht. Statt dessen sagte er ihr zum ersten Mal, er könne ohne sie nicht leben und werde sie niemals gehen lassen. Er führte fürchterliche Szenen auf, die alle die Handschrift Leanderscher Dramatik trugen. Dramatisch - so empfand Lisa jetzt ihr ganzes Dasein.

Dramatisch war es vor allem, zwischen zwei Männern zu stehen, einem, dem sie verfallen, und einem, der ihr verfallen war. Seit Niki von seinem Nebenbuhler wußte, versuchte er sich zu rächen, indem er Lisa wissen ließ, daß er mit anderen Frauen schlief. Leider ließ sie das völlig kalt - und doch war sie in seinem Bett leidenschaftlicher denn je. Die sadomasochistisch gefärbte Affäre mit Fedor beanspruchte Lisas ganzes Denken und Fühlen. Niki war ihr nicht unangenehm, sie mochte ihn, aber er hatte keinerlei Macht über sie. Ihre beiden Liebhaber waren auch sonst äußerst verschieden.

Fedor lebte sehr zurückgezogen, während Niki den Champagner fließen ließ. Das eine wie das andere kostete Lisa aus. Wenn Fedor allerdings zu lange nichts von sich hören ließ, wurde sie hysterisch. Es widerstrebte ihr, von sich aus zu ihm zu gehen; er hätte sich ihr verweigern können.

Fühlte sie sich von Fedor verlassen, kam es vor, daß sie schluchzend in Nikis Armen lag und ihr Schicksal anklagte. Nikis Sinn für Tragik war ansteckend.

Natürlich verriet sie ihm nicht, wie dieses Schicksal aussah, doch sie nahm an, daß Niki die Zusammenhänge, wenn auch nur wie im Nebel, erahnte. Dennoch tröstete er sie. Ja, wirklich, das tat er... Ein Trost, ein wirklicher Trost, waren ihr solche Momente natürlich nicht. Niki und die übrige Welt konnte sie nur genießen, wenn sie sich Fedors sicher war.

Sie selbst verstand das auch nicht recht. Fedor blieb ihr weiterhin fremd. Sie hätte ihn aufreißen, sich in ihn wühlen, in ihm untergehen wollen, doch er blieb, trotz aller sexuellen Leidenschaft, kühl. Ein Geheimnis schien um ihn zu sein, in das sie nicht dringen konnte. Je undurchdringlicher er ihr erschien, desto unbedingter wurde ihre Leidenschaft.

Selbst seine Grausamkeit faszinierte sie. Sogar in seiner Freundlichkeit lag etwas Brutales. Er forderte von ihr vollkommene Selbstverleugnung. Lisa unterwarf sich. Solange sie gehorchte, sprach er in einem gelassenen, ruhigen Ton zu ihr, begehrte sie auf, wurde er ein Teufel.

Sie erkannte sich in der Frau ohne Willen nicht wieder. Eigentlich nahm Fedor ihr die Selbstachtung, und doch war sie selbstsicherer und freier denn je.

Er nannte sie nie beim Namen. Wenn er sie ansprach, nannte er sie »junge Frau«, und manchmal hieß er sie einfach eine Hure. »Ich hasse dich!« schrie sie ihn an. »Ich hasse dich!« - Und doch wäre sie mit ihm in die Hölle gegangen.

Körperlich war er ein ausgesprochen schöner Mann, athletisch, breitschultrig, schmal in den Hüften. Ihn bloß anzuschauen war erregend. Dann diese Augen, sein zwingender Blick... Für Fedor war sie immer bereit, für ihn war sie die »Hure aus Passion«. Über ihre wirklichen Gefühle für ihn war sie sich noch nicht so recht im klaren. Sie wußte auch nicht, was Fedor für sie empfand. War er denn gar nicht eifersüchtig auf Niki?

Eines Nachmittags wagte sie es, ihn darauf anzusprechen. Sie lag mit ihm im Bett, ihr Kopf ruhte erschöpft an seiner Schulter, ihre Finger spielten mit seinen Brusthaaren.

»Ist es dir eigentlich egal, daß ich bei Leander wohne?«

Wie ein Stich fuhr es in sie hinein, als er erwiderte: »Völlig.« Und dann sagte er noch: »Du wirst ihn irgendwann vergessen.«

»Wer sagt das?«

»Ich.«

»Und wie kommst du darauf?«

»Du bist nur in dich selbst verliebt.«

Lisa nahm den Kopf von seiner Schulter und stützte sich auf. »Wieso sagst du das?«

»Weil es deine Selbstverliebtheit ist, die dich so geil macht.«

»Ich bin also nicht in dich verliebt?«

Fedor antwortete nicht. Ihre Finger glitten über seine feste, muskulöse Brust - eine ungewöhnliche Brust für einen Künstler, ihr Mund wanderte über seine Haut.

»Ihr Weiber sollt endlich einsehen, worum es geht. - Du willst gründlich gevögelt werden. Das kannst du haben.«

Seine Hand griff in ihren Nacken und bog ihren Kopf herauf. Durchdringend und hart ging sein Blick ganz in sie hinein. Dann griff er ihr zwischen die Beine und begann jenes Spiel, mit dem er sie am liebsten folterte. Er erregte sie, bis sie ganz außer sich war, versagte ihr aber die Erlösung. Er griff ihr ins Fleisch, daß sie vor Schmerz schrie, und drang gleich darauf mit der Zunge ganz zart in sie ein, bis sie glaubte, sich aufzulösen. Er tat ihr weh und führte sie an die für sie so sinnraubende Schwelle zwischen Schmerz und Lust, und dann wieder war er sanft und spielerisch wie ein Windhauch. Als sie schon halb den Verstand verloren hatte, befahl er ihr, ihn französisch zu befriedigen, und als sie nicht sofort gehorchte, taumelnd noch in der eigenen Erregung, riß er sie herum und drückte ihren Kopf zu seinem Geschlecht hinunter. Sie umspielte es mit den Lippen, reizte es, gab sich ihm hin, und die ganze Zeit lag seine Hand zwingend in ihrem Nacken.

Ehe er kam, fuhr er ihr mit den Fingern ins Haar und zog sie hoch. »Bitte!« sagte sie - und er ließ sie um ihren Orgasmus flehen. Eine Menge kleiner Grausamkeiten fielen ihm ein, um ihre Erleichterung hinauszuzögern. Dann sagte er: »Ich will dir zusehen. Mach’s dir selbst.«

Lisa blieb auf den Knien, während sie sich mit der Hand befriedigte. Wie hypnotisiert sah sie Fedor in die Augen, schrie ihren Orgasmus hinaus und sank in sich zusammen. Fedor warf sie auf den Rücken, stieß ihre Beine auseinander und nahm sie mit wenigen, harten Stößen. Noch einmal ließ sie sich stöhnend in das Gefühl fallen, benutzt zu werden, und fühlte Fedor ganz tief und überall und weinte fast. Oh, mein Gott... jajaja...

Danach sah Fedor sie mit analytischer Neugier an. Lisa gab den Blick ruhig zurück.

Merkwürdigerweise war es ausgerechnet Fedor, der ihren künstlerischen Ehrgeiz wenigstens in Ansätzen zurückholte. Sie erklärte ihm, bei ihren ersten Begegnungen keineswegs gescherzt zu haben und wirklich Malerin werden zu wollen. Fedor sagte zwar nicht viel dazu, stellte sie eines Tages aber vor eine Leinwand und sagte:

»Fang an!«

Sie begann, verspielt und ohne rechten Sinn, zu pinseln.

»Sieht sehr nach Leander aus«, meinte Fedor nach einer Weile. »Da muß noch einiges passieren.«

Lisa lächelte. Fedor glaubte also an ihr Talent.

Von da an ließ er sie des öfteren zu Pinsel und Farbtopf greifen. Wenn ihm etwas absolut nicht gefiel, führte er ihr für einige Striche die Hand, um ihr zu zeigen, wie man welche Effekte erzielen konnte. Manchmal schien sie ihn zu amüsieren. Es war dann, als wolle er sagen: Schau an, schau an...

Im Frühsommer zogen beide in die Parks hinaus. Sie zeigte sich mit Fedor in aller Öffentlichkeit, obwohl sie wußte, daß Niki Zuträger hatte. Man kannte Fedor wie Niki überall - und Lisa inzwischen auch. Sie kümmerte sich nicht darum.

Lisa merkte, daß Fedor sie ebenso zu formen versuchte wie Niki, nur mit dem Unterschied, daß es Fedor tatsächlich gelang. Fedor ließ ihr ihren eigenen Stil. Recht oft mußte sie sich aber von ihm anhören: »Hübsch, das Idyll.«

Ihre mit leichter Hand hingeworfenen Landschaften verrieten ganz allmählich eine Formgebung, aber Fedor konnte damit natürlich nichts anfangen. Für ihn war das Sonntagsmalerei.

Von ungefähr kam es nicht, daß Lisa Idyllisches aufs Papier bannte. Es war, als hätte das Bekenntnis zur Lust, das ja zu ihrer eigenen Natur sie frei gemacht für eine allumfassende Liebe zum Leben.

Gerade wenn sie mit Fedor arbeitete, er mit ernsthaft versunkenem Gesicht, sie aus Spieltrieb, überkam sie manchmal eine ganz warme Welle, die über sie hinwegrollte, sich tief in sie hineinspülte und eine Zärtlichkeit in ihr weckte, der sie kaum Herr wurde.

Ihr Hunger trieb sie so manchem Mann in die Anne - für eine Nacht, für eine Woche, vielleicht für einen Monat. Das ganze Leben schien Liebe zu sein.

Nikis Kunst blieb ihr verständlicher, nachvollziehbarer und angenehmer, doch ihre Bewunderung gehörte Fedor. Intuitiv spürte sie, daß er einen eigenwilligen, ihm allein gehörenden, kompromißlosen Weg ging, der in Neuland führte und neue Horizonte künstlerischer Darstellungsmöglichkeiten aufriß, während Niki als bewunderter, renommierter Bohemekünstler den Zeitgeschmack traf, wenn er auch mit seiner erotischen Freizügigkeit ein bißchen schockierte. Niki blieb im Vordergründigen, im Plakativen. Er redete sehr viel über sich und seine Werke - und Fedor schwieg.

Für Fedor und seine rücksichtslosen Provokationen war die Welt noch nicht reif.

Inzwischen begann er sich mystischen Themen zuzuwenden und arbeitete an einem Kreuzgang-Zyklus, obwohl er sich eigentlich zum Atheismus bekannte. Er malte in derben, waghalsigen Linien, verzichtete auf Feinheiten und suchte die Expression. Blau-Schwarz-Farbkombinationen bestimmten diese Phase.

Lisa sagte einmal: »Es sieht aus, als wären all die Leute, die du malst, einander fremd, obwohl sie in ein Bild gehören. - So stelle ich mir die Erlösung nicht unbedingt vor.«

Lakonisch erwiderte Fedor: »Ich auch nicht.«

Sie konnte mit dieser Antwort nichts anfangen, fragte aber nicht nach, da ihr seine gefurchte Stirn verriet, daß er in Ruhe gelassen werden wollte.

Freilich war Fedor kommerziell absolut nicht erfolgreich. Als Suchender führte er eine typische Hungerleider-Existenz. Zeitweise fütterte ihn Lisa richtiggehend durch. Niki hatte überhaupt keinen Überblick über seine Finanzen, konnte sich aber jeden Luxus leisten. Lisa fand nichts dabei, auch für Fedor einzukaufen. Sie brachte ihm oft einen Korb mit Butter, Brot, kaltem Huhn, Pastete, Würsten, Wein, Bier und Kuchen und gab vor, es für ein gemeinsames Picknick - wenn sie draußen arbeiten wollten - mitgenommen zu haben, obwohl die Mengen für sechs Personen mit Heißhunger gereicht hätten. Fedor schwieg dazu. Er bedankte sich nicht, aber ebensowenig hätte er gefordert oder gebeten.

Unterdessen kühlte Nikis Eifersucht ab und loderte wieder auf. Es schien ihm in erster Linie um die Szene und nicht um Lisas Liebhaber zu gehen, wenn er zu rasen anfing. Freilich erfuhr er, daß sein Erzfeind der große Rivale war. Zweimal wies er Lisa die Tür, doch sie war noch im Flur, als er sie wieder zurückrief. Niemand in Schwabing verstand, wieso er Lisa, die ihn doch offensichtlich betrog, nicht endlich hinauswarf, zumal er Frauen gegenüber nicht besonders liberal war. Aber das tat Niki nicht.

Dieser spektakulären Affäre wegen, die in jeder Hinsicht öffentlich stattfand, war Lisas Name plötzlich in aller Munde.

Lisa kam es so vor, als wären Reitenau und Neuherrenach Orte hinter der Milchstraße. Manchmal zuckte sie bei dem Gedanken, ein Kind zu haben, zusammen. Irgendwann mußte sie davon geträumt haben...

Eines Nachmittags, als sie für Fedor wieder Modell lag - als nackte Maria Magdalena -, schickte sie ihre Gedanken spazieren. Unvermittelt fragte sie ihn: »Hast du je einen Menschen geliebt, Fedor?«

Wenn er arbeitete, hörte er immer nur mit halben Ohr hin. Es wunderte sie deshalb nicht, daß er nicht antwortete.

»Ich schon. Aber das ist wie in einem anderen Leben«, fuhr sie fort. Fedor warf ihr einen prüfenden Blick zu und zog dann eine strenge Gerade übers Papier.

Lisa lag still. Ein paar unzusammenhängende Bilder zogen durch sie hindurch. Sie wurde dösig und wäre fast eingeschlafen. Dann hörte sie, wie Fedor sich ein Glas Wein einschenkte und von drei Metern Entfernung seine Schöpfung betrachtete. »Stell dir vor«, sagte sie, »dort, wo ich herkomme, habe ich den Pfarrer verführt - den Pfarrer! Unseren Heiligen. Wenn’s nicht so schnell gegangen wäre, hätt’s mir richtig Spaß gemacht. Ob irgend jemand dahintergekommen ist?«

Sie erwartete keine Erwiderung. Fragen, die ihm nicht paßten oder ihn nicht interessierten, ignorierte er.

»Du hast dunkle Augen heute«, sagte Fedor plötzlich.

»Was?«

»Ja, deine Augen sind heute dunkel. Schwermütig. Zu weich für eine Maria Magdalena.«

»Ach was. Du malst sowieso nie mich, du benutzt mich. Du schaust mich an, aber was du aus mir machst, bin nicht mehr ich.«

»Ich male das Bedrohliche in dir.« Und dann sagte er ganz hart: »Du bist verschlingend.«

Einen Moment war sie betroffen. »Das ist nicht wahr!«

Fedors Blick, eben noch dunkel und bohrend, Schalen sprengend, hellte sich auf. Er stellte das Weinglas fort. Ein unsichtbares Lächeln des Erkennens huschte durch seine Augen. »Widersprich nicht. Es ist wahr. Im Rausch bist du dein Bild von dir, die sich verschwendende Hetäre. In Wirklichkeit ist alles schwer in dir und verschlingend.«

So ähnlich hatte auch Klages zu ihr gesprochen. Lisa starrte Fedor entsetzt an, als würde sie seine Gedanken spüren.

Fedor sagte: »Ich will, daß du jetzt gehst.«

Sein Blick war zurückgekehrt und stieß sich mit solcher Wucht in sie hinein, daß sie fast das Gleichgewicht verlor und in die Kissen fiel.

Ihr war ganz übel. Wortlos stand sie auf und zog sich an. Fedor sah ihr zu. Sein Beobachterblick machte sie fahrig.

Ohne ihn noch einmal anzusehen, ließ sie ihn allein.

Sie hatte keine Lust, nach Hause zu gehen, in Nikis laute Champagner-Gesellschaft. Doch sie wußte nicht, wohin sie sonst hätte gehen sollen.

Niki war nicht da. Ganz mechanisch begann sie, das Durcheinander in der Wohnung aufzuräumen. Wahllos schien Niki alles, was er angefaßt hatte, im Raum verstreut zu haben.

Schließlich, als sie die Sinnlosigkeit ihres Unternehmens erkannte, ging sie ins Schlafzimmer, setzte sich aufs Bett und fing zu weinen an. Sie fühlte sich ermordet.

So saß sie vielleicht zehn Minuten, als das Haus sich mit Stimmen zu füllen begann. Niki kam und brachte Freunde mit. Lisa sprang auf und drückte die Schlafzimmertür zu. Sie wollte von niemandem gesehen werden. Als Niki nach ihr rief, antwortete sie nicht.

»He, Lilly, wo steckst du? - Bist du nicht da?«

Das Atelier schien bereits gedrängt voll. Niki schrie: »Schreibst du etwa wieder?«

Dann stieß er auch schon die Schlafzimmertür auf und sah sofort Lisas tränenverquollenes Gesicht.

»Wie? Was machst du hier? Was ist los? Ist etwas passiert?« Auf diesen Schwall von Fragen hätte sie gut verzichten können. Daß sie nur allein sein wollte, spürte Niki nicht.

»Es geht vorbei, nur eine Stimmung«, sagte sie und versuchte zu lächeln.

Mißtrauisch sah Niki sie an. Dann breitete sich ein Lächeln über seine Züge. Er wollte feiern und alles Dunkle schnell über Bord werfen.

»Komm mit rüber! Ich muß dich unbedingt dem Riedheim vorstellen. Das ist der Mann, der meine Ausstellung organisiert.«

»Jetzt nicht. Ich komm später.«

»Keine Trübsal blasen, Lilly!« Er kam auf sie zu, griff nach ihren Armen und zog sie hoch. »Weißt du«, meinte er lachend, »nach einem Glas Champagner sieht die Welt schon ganz anders aus.« Und so zog er sie mit sich in den Tumult des überfüllten Ateliers. »Also, jetzt trinken wir erst mal einen...«

Der 21. Juli 1913 sollte Nikolaus Leander den größten Erfolg seines Lebens bringen. An diesem Tag wurde seine Ausstellung eröffnet.

Schon morgens war es schwül. Lisa stand lange vor dem Kleiderschrank und fragte sich, was sie anziehen sollte.

Niki eilte in großer Aufregung durch die Räume.

»Du wirst schön sein wie noch nie«, sagte er zu ihr. »Keiner soll sagen können, ich hätte dir geschmeichelt. Du wirst noch heute die Königin von München sein!«

Seine Nervosität übertrug sich auf sie. Eigentlich hatte sie keine rechte Lust, sich heute öffentlich zu zeigen. Sie hatte zu nichts richtig Lust, sah aber die Unausweichlichkeit ein. Obwohl Niki sie bisher nie als Göttin oder als mythische Gestalt abgebildet hatte, wünschte er, sie solle das griechische Bacchantinnen-Gewand anziehen, das er für sie einmal zu einem Maskenball entworfen hatte. Außerdem sollte sie sich das Haar hochstecken, wie es die Helleninnen getan hatten.

Entsetzt meinte Lisa: »So kann ich doch nicht bei hellichtemTag unter die Leute gehen! Da kommt ja die Sitte!«

Niki winkte ab. »Es steht dir so gut!«

Nun - Lisa hatte zwar wenig Griechisches in ihrem Aussehen, aber sie beugte sich Nikis Wunsch. Als sie in der Tunika aus weißer Seide vor dem Spiegel stand, fand sie ihren Aufzug recht amüsant. Sie steckte sich auch noch das Haar hoch und zog ein paar Strähnen heraus. Ein bißchen Farbe gönnte sie ihrem blassen Gesicht, auch Rot für die Lippen. Mit goldenen Reifen an den Oberarmen und einem goldenen Gürtel um die Taille sah sie wirklich ausgesprochen extravagant aus - eine etwas nordisch erscheinende Griechin im Kleid eines längst verklungenen Heidenfestes.

»Aber das tust du weg«, sagte Niki und deutete auf Fedors Sklavenband.

Lisa schüttelte den Kopf.

»Es sieht lächerlich aus und paßt nicht! Du gehst als stolze Griechin - nicht als versklavte Lykierin!«

»Dann bleibe ich eben zu Hause.«

»Du machst mich nicht zum Gespött!«

»Das tue ich ja auch nicht.«

»Natürlich tust du das. Wie sieht das aus: Meine Geliebte erscheint mit dem Lederband eines anderen am Arm!«

»Das weiß niemand. - Außerdem ist es zu Ende mit Wassilijew.«

»Das sagst du dauernd.«

»Ich sag’s seit fünf Tagen.«

»Egal! Weg mit dem Ding!«

»Nie!«

Niki tobte etwa eine halbe Stunde durch sämtliche Räume. Danach sah es aus wie nach einem Wirbelsturm - nur echter. Lisa meinte ruhig: »Wir kommen zu spät.«

Niki hatte sich wieder beruhigt. Nach seinen Ausbrüchen war er immer friedlich und für kurze Zeit lammfromm. Dennoch sah man ihm seine Verstimmung an. Er brummte vor sich hin und sagte sich, daß er Lisa auf die Straße setzen würde. - Danach! Vorerst aber griff er nach ihrem Arm und zog sie mit sich, um nicht allzu spät in der Galerie zu erscheinen.

Er hatte eigens einen Wagen kommen lassen, einen weißfunkelnden Mercedes-Benz, um »Vorfahren« zu können, wie es ihm gebührte. Als er ausstieg, klatschten die Leute wie verrückt, und die Reporter notierten eifrig, Nikis Publikumsgunst und sein Erfolg seien das Ereignis der Saison. Als Lisa aus dem Wagen stieg, wurde sie ebenfalls mit Beifall bedacht. Sie fühlte sich zuerst etwas unwohl, denn ihr Kleid war mehr als gewagt. Aber dann machte es ihr Spaß, in so einem tollwitzigen Aufzug Anstoß zu erregen. Niki hatte seinen großen Tag. Sein Glanz fiel auch auf Lisa. Bei einem Glas Sekt flüsterte er, alle Auseinandersetzungen vergessend, ihr ins Ohr: »Jetzt bist du so berühmt wie Saskia.«

Im Gegensatz zu Rembrandt, dachte Lisa, wirst du aber das Jahrhundert nicht überdauern...

Es war eine Menge los. Viele Schaulustige drängten sich, die Konkurrenz schnupperte herum, der biedere Bürger fand Niki provozierend, weil er viel nacktes Fleisch zeigte und sich zur

Renaissance bekannte, er wurde von der Presse umringt und von Bewunderern verfolgt. Ständig flankierte ihn eine Schar Neugieriger. Endlich hatte er Gelegenheit, seine quirlige Lebhaftigkeit einem großen Publikum vorzuführen.

Man behandelte auch Lisa als Berühmtheit. Ein paar Journalisten befragten sie sogar. Sie galt ja ganz offiziell als Nikis Muse. Nach ihrem Namen gefragt, antwortete sie nur: »Lilly.«

»Und weiter?«

»Lilly - nicht mehr und nicht weniger.«

Dann sah sie auch schon die Vogels. Einen Moment lang hörte sie Walzermusik im Kopf und sah Bilder von Neuherrenacher Festlichkeiten. Blaß werdend, ließ sie die auf sie einredenden Presseleute einfach stehen, flüchtete den Gang hinunter und verschwand in einem Nebenraum. Ob sie bereits erkannt worden war? Nein! Das hätte sie doch gemerkt. Aber vielleicht wußte schon jeder... nein, nein! Niemand durfte sie finden. Sie wollte sich nicht mehr erinnern.

Nach einer Weile öffnete sie vorsichtig die Tür und spähte in die Galerie hinaus. Am Ende des breiten Korridors - jetzt war es allerdings eng wegen der vielen Bilder - sah sie Niki stehen und gestikulieren, ein Glas Sekt in der Hand, hübsche Mädchen und jovial erscheinende Herren um sich herum. Stimmengewirr brandete auf und nieder. Ein Diener balancierte ein mit Sektgläsern beladenes Tablett für die Ehrengäste herum. Niki hatte an alles gedacht und sich wirklich nicht lumpen lassen.

Lisa vergaß, daß sie eigentlich vor den Vogels davongelaufen war, um inkognito bleiben zu können. Sie stand in der offenen Tür und beneidete Niki grenzenlos. Auch sie wäre gern zwischen all diesen Menschen gestanden - umjubelt, vergöttert, selbstbewußt, ein von allen geliebter und gehätschelter Skandal.

»Zehn Pfennige für Ihre Gedanken«, hörte sie eine sonore Stimme hinter sich sagen und drehte sich um.

»Ach, Herr Riedheim. Wir haben uns heute noch gar nicht gesehen. Grüß Sie Gott. Na, ich kann nur sagen, daß Sie Herrn Leander zum größten Erfolg seines Lebens verholten haben. Wenn ich nicht irre, zeichnen Sie für die Organisation dieses Massenauflaufs.«

Riedheim lachte, daß es dröhnte. Er war klein und recht dick, aber es blitzte gescheit und listig aus seinen kleinen Augen. Er sagte auch prompt: »Sie sehen unzufrieden aus.«

»Unzufrieden? Ich? Nein!«

»Oder besser: Sehnsüchtig. Ja, das kann man wohl behaupten. Sehnsüchtig. Wenn ich etwas für Sie tun kann...«

»Tun?« fragte sie gedehnt.

Riedheim lachte wieder. Er lachte so, daß sein dicker Bauch bebte und ihm der Zwicker von der Nase fiel. Freundlich lächelte Lisa zurück.

Eine Weile schien sie zu überlegen. Als sie sicher war, dabei nicht rot zu werden, meinte sie mit dunklem Timbre in der Stimme: »Für mich könnte man eine ganze Menge tun.« Riedheims Augen verengten sich. Er hatte sich den Zwicker inzwischen wieder auf die Nase gesetzt. Sein Mund war geschürzt, und er nickte vor sich hin.

»Was zum Beispiel?« fragte er jetzt ganz ernst.

Lisa wußte auch nicht, wieso sie plötzlich so klar dachte. Sie wußte nicht einmal, wieso ihr ganzes Bewußtsein auf einmal wieder zum Anfang zurückkehrte.

»Ich habe mich immer malen lassen«, sagte sie. »Ich will aber eigentlich selbst malen.«

»Wo liegt die Schwierigkeit?«

»Daß ich davon nicht leben kann - noch nicht.«

Immer noch hielt Riedheim die Lippen geschürzt.

»Sie können sich bei Gelegenheit an mich wenden«, sagte er leise, zückte seine Karte und reichte sie ihr. Ehe sie danach greifen konnte, zog er seine Hand zurück und steckte ihr das Kärtchen mit süffisantem Lächeln in den Ausschnitt.

Er schien noch etwas sagen zu wollen, als die schrille Stimme seiner Frau das Stimmengewirr übertönte: »Eugen - Eugen, wo bleibst du denn?«

Auch Niki eilte gerade auf Lisa zu. Mit besitzergreifender Geste legte er den Arm um ihre Schultern und sah in die umstehende Menge, ehe er bekanntgab: »Das ist Lilly - die inspirierendste aller Musen.«

Zwischen Niki und der »inspirierendsten aller Musen« war es nicht mehr so, wie es einmal gewesen. Niki konnte nichts dafür. Es lag allein an ihr und ihrem törichten Herzen.

Wie es ohne Fedor weitergehen sollte, war ihr ein Rätsel. Wenn sie ganz mit sich allein war, fühlte sie sich sterbenselend. Lieber verrückt werden als so viel Sehnsucht! Sie wurde nicht verrückt. Sie mußte es aushalten, manchmal an der Grenze zum Wahnsinn. Sie steigerte sich hinein und tat merkwürdige Dinge, zerstörte Spiegel, zerfetzte Kleider, schüttete einmal sogar Salzsäure auf ein Bild, das Niki von ihr gemalt hatte, fertigte eine Skizze von Fedor und durchstieß sie mit Nadeln, saß oft stundenlang in nächtlicher Dunkelheit und wiegte sich vor und zurück, geriet plötzlich mitten in einem Gespräch in einen Zustand der Abwesenheit, fügte sich mit einem Rasiermesser kleine Schnittwunden an den Unterarmen zu und kratzte die Blutkrusten wieder auf, ehe sie vernarbten. Außerdem holte sie eine schwarze Katze ins Haus, die überall herumstrich, Farbtöpfe umwarf und an der von Niki bearbeiteten Leinwand ihre Krallen wetzte.

Von Niki wegen solcher Absonderlichkeiten zur Rede gestellt, ließ sie seine Tiraden geduldig über sich ergehen; in ihren Augen war ein dunkler Schimmer, an den Nikis Gezeter nicht herankam. Zwischendurch benahm sie sich dann wieder völlig normal.

Für Niki empfand sie absolut nichts mehr. Sie wußte auch nicht, ob sie je etwas für ihn empfunden hatte. Fedor hatte alles mitgenommen.

Ihre innere Balance war dahin. Trotz aller Wellenschläge, trotz Himmel- und Höllenfahrten hatte sie früher immer eine Gerade in sich gekannt, eine Linie, einen Weg, an dem sie sich orientierte, den sie zwar verließ, jedoch nie aus den Augen verlor. Jetzt war der Weg verschwunden.

Eine schmerzhaft glühende Sehnsucht engte ihr Bewußtsein ein. Sie sah nicht mehr darüber hinaus.

Früher hatte sie Franziska zu Reventlows Stoßseufzer verstanden: »Warum bin ich nur glücklich, wenn ich viele habe?« Jetzt glaubte sie, für Fedor alle anderen aufgeben zu können. Sexuell kam sie sich ohne ihn völlig tot vor, und trotzdem quälte sie eine sich nur auf ein Ziel richtende, blindwütige Lust, die keine Befreiung mehr fand.

Dann kam der Tag, an dem sie es nicht mehr aushielt und den Rest von Stolz über Bord warf.

Sie ging zu dem alten, verfallenen Haus, wo Fedor wohnte. An der Tür klingelte sie erst nach einigem Zögern. Er war nicht da. So ging sie wieder. Zwei Tage später traf sie ihn endlich an. Er öffnete, sah sie an und fragte:

»Was willst du?«

Die Frage traf Lisa in den Magen. Ihr wurde dunkel vor Augen, doch die Wirklichkeit ließ sie nicht los. Sie mußte es durchstehen - auch das.

»Ich will zu dir«, sagte sie und bemühte sich um einen selbstverständlichen Ton.

»Ich habe dich nicht gerufen«, sagte Fedor kalt und machte die Tür wieder zu. Sie stand draußen.

Wie betäubt wankte sie die Treppe hinunter, atmete den Bohnerwachsgeruch der Halle ein und stürzte dann hinaus. Sommerglut empfing sie. Ihr brach der Schweiß aus. Ein nüchterner Gedanke riet ihr: Geh nach Hause...

Nach Hause!

Sie erreichte Nikis Wohnung auf zitternden Beinen. Es war still. Niemand hier.

Lisa warf Hut und Täschchen weg. Dann holte sie, ganz ohne zu überlegen, Leinwand und Farben und begann, wie eine Besessene zu malen. Sie malte und malte und ertränkte sich in Farben, in einen wahren Blutrausch aus Rottönen und Bestialitäten.

Als Niki kam, traf ihn schier der Schlag. Er konnte bloß stammeln: »Was soll das denn?«

Sein Zornesausbruch kam erst ein paar Tage später, als er leicht angetrunken sein Atelier betrat und Lisa wieder vor der Leinwand fand. Sie malte ein Zimmer. Weiß. Dunkle Konturen. Ein Zimmer und trotzdem das Nichts.

Niki wütete, es sei pervers, ein leeres Zimmer sei für jeden Künstler uninteressant, sie brauche sich gar nichts einzubilden, sie besitze keine Spur von Talent, man müsse, wenn man schon auf die Darstellung von Menschen verzichte, wenigstens die Natur verherrlichen, aber ein leeres Zimmer, nein, das sei der Gipfel der Dekadenz. Da seien ihm ja noch Wassilijews »nackte Abartigkeiten« lieber!

Lisa hörte Fedors Namen, griff nach der Sherry-Karaffe neben sich auf dem Tischchen und donnerte sie zu Boden. Wortlos packte sie daraufhin das Nötigste ihrer Sachen zusammen und zog, mit nur ein paar Mark in den Taschen, in die nächste Pension, wo sie sich eine Woche lang einschloß und nahezu Tag und Nacht malte. Ihr ganzes Geld ging hin für Farben, Kohlestifte, Leinwand und Papier.

Als sie von allein nicht zurückkam, holte Niki sie wieder. Recht willenlos ließ sie sich diesen neuerlichen Eingriff in ihr Leben gefallen. Er zog sie sofort ins Bett und schien in seiner Leidenschaft nicht zu bemerken, wie kühl sie blieb. Jedenfalls versprach er ihr, sie täglich zwei Stunden malen zu lassen.

Den ganzen Herbst und den ganzen Winter über hatte Lisa das Gefühl, nur für zwei Stunden am Tag zu leben. Oft vergaß sie die Zeit und mußte von Niki daran erinnert werden, daß es nach elf sei. Ihre Bilder gaben ihre Gefühlswelt wieder. Niki war von ihrer »perversen Phantasie« einigermaßen schockiert. Am meisten mißfiel ihm ihre künstlerische Anlehnung an Wassilijew. Er nannte ihre Bilder »Alpträume« und verstand nicht, was Lisa zwanghaft dazu trieb, Visionen des Grauens festzuhalten. Er verstand überhaupt nichts von Lisas Kampf.

Niki rettete sich in Weibergeschichten. Vollkommen unberührt sah Lisa zu. Mit Mia, einer makellos gewachsenen, sehr hübschen Schwarzhaarigen, trieb er es nahezu vor ihren Augen. Und es war ihr egal. Mit einer sonderbaren Faszination schaute sie zu, am meisten fasziniert von sich selbst, weil sie nicht litt, aber spürte, daß Niki litt und sie es nicht verstand.

Anfang Januar ließ Lisa sich ihrerseits in eine amouröse Verstrickung ein. Ein junger, weithin unbekannter Lyriker, der ihr »neuromantische« Liebesgedichte en masse schickte, hatte sich während einer kurzen Begegnung auf einem Maskenball zu Ehren des griechischen Gottes Dionysos in sie verliebt. Blond und zart wie ein Engel, war er ihr auf diesem wilden Boheme-Fest wie ein Verirrter erschienen. Er hatte von einer Ecke aus zugesehen, mit Augen voller Sehnsucht nach dem Leben, das ihn nicht erreichte. In seiner sonderbar hellen, unschuldigen Reinheit hatte er Lisa ein wenig an Morell erinnert, nur gefühlsverwurzelter und weniger intellektuell.

Wenn Niki außer Haus war, schickte ihr Riloff, der Neuromantiker, Blumen und empfindsame Verse, über die Lisa lächeln mußte. Seine Verehrung ließ sie sich aber gerne gefallen.

Für Rainer Riloff war sie eine Madonna, unbefleckt vom Schmutz der Welt. Sie sah alles und blieb doch immer eine »reine Lilie«. Dabei war er es, der alles sah und nur das »Reine« spürte. Er legte seine eigene Weitsicht in sie hinein. Daß Lisa mit einem Mann zusammenlebte und Fedor Wassilijews Sklavenband trug, nahm er einfach nicht zur Kenntnis.

Es gab keine Liaison. Riloff liebte platonisch. Lisa förderte seine Verliebtheit nicht, tat aber auch nichts dagegen. Sie war amüsiert und ein bißchen geschmeichelt.

Als Niki von der Sache Wind bekam, war seine Reaktion dramatisch wie immer. Er schlug Rainer Riloff, dieses schwärmerische Menschenkind, das nur Gedichte rezitiert und in Lisas Augen geschaut hatte, einfach zusammen und stieß ihn in den Schnee. An Lisas Liebhabern hatte er sich bisher noch nie vergriffen, sondern immer nur Lisa für schuldig befunden. Seit er jedoch wußte, Lisa nicht mehr verletzen zu können, richtete sich seine Aggression gegen den Anlaß des Ärgers.

Vom Fenster aus sah sie zu, wie der arme Poet verprügelt wurde. Der Schmutz der Welt schien Rainer Riloff eingeholt zu haben... Angeekelt wandte sie sich vom Fenster ab und beschloß, gleich morgen Eugen Riedheim aufzusuchen.

Eugen Riedheim war - neben seiner Tätigkeit als Kunstmäzen, die ihm in der Regel Gewinne in Form von Prozenten einbrachte - im bürgerlichen Leben Kolonialwarengroßhändler. Er empfing Lisa in seinem Büro, dessen Protzigkeit ein Hinweis auf Neureichtum sein mußte.

Seinem Büro schloß sich ein weitläufiges Kontor an, in dem mindestens fünf Sekretäre arbeiteten, die Riedheim durch ein Glasfenster beobachten konnte. Als Lisa eintrat, schob er das Glasfenster zu und spielte den Überraschten.

»Oh, wen sehe ich! Ich bin entzückt! Fräulein Lilly!«

Er stand auf und reichte ihr die Hand, und wenn die Glasscheibe nicht gewesen wäre, hätte er sicher ihren Handrücken geküßt und ihrem Besuch damit jede geschäftliche Note streitig gemacht. Seine Hand war feucht. Lisa zog die ihre rasch zurück, lächelte aber sehr freundlich.

»Bitte - setzen Sie sich. Ich hoffe, es geht Ihnen gut. Sie sehen jedenfalls blendend aus, wie immer. Also, was kann ich für Sie tun?« Du könntest zum Beispiel aufhören, Süßholz zu raspeln, dachte Lisa und fühlte sich durch und durch unwohl. Trotzdem setzte sie sich, schlug die Beine übereinander und ließ etwas von den Seidenstrümpfen zwischen Stiefelbund und Rocksaum sehen. Lächelnd taxierte sie den Mann im gepolsterten Ledersessel. Er war klein und dick und trug seine dünnen Haare in der Mitte gescheitelt; der Zwicker auf seiner fleischigen Nase war wie aus dem Witzblatt. Außerdem hatte er kleine Augen und wulstige Lippen, und beides gefiel Lisa überhaupt nicht. Nichts gefiel ihr an diesem Eugen Riedheim.

Dennoch warf sie ihm einen charmanten Blick zu, mischte in ihren Augenaufschlag eine Andeutung erotischen Versprechens, bewegte die Beine, daß die Seidenstrümpfe aneinanderrieben, und meinte wie nebenher: »Ach, wissen Sie, Herr Riedheim, ich dachte, ich wende mich am besten gleich an Sie. Ich möchte Sie bitten, sich einige meiner Bilder anzusehen. In den letzten Monaten habe ich viel gearbeitet.« Nach drei stummen Sekunden fügte sie hinzu: »Zuviel, wenn ich es recht bedenke.« Ihr Lächeln breitete sich aus. »Wenn ich den richtigen Rahmen zum Arbeiten finden würde, wäre ich freier. Sie sollten sich meine Arbeiten wirklich einmal ansehen.«

Riedheim hatte nicht die geringste Lust, um den Brei herumzureden. Er wollte wissen: »Was ist mit Leander?«

»Ich verlasse ihn.«

So glaubte Lisa den Beginn ihrer Karriere einzufädeln.

Es dauerte keine drei Tage, bis Riedheim, ohne ihre Arbeiten auch nur anzusehen, mit der Nachricht kam, ein Atelier für sie gemietet zu haben. Lisa war zufrieden.

Ihr neues Domizil war weit von Niki und auch weit von Fedor entfernt. Sie bezog das Erdgeschoß einer Villa im Landhausstil, die idyllisch in einem großen, schattigen Garten lag, einem wahrhaften Garten Eden, umgeben von uralten Eichen, hohen Kastanienbäumen, weißen Birken, dunklen Rotbuchen... Wie herrlich, wenn erst der Frühling käme!

Über ihr wohnte eine alte Frau mit ihren Katzen. Sie unterzog Lisa bei deren Einzug scharfen Blicken hinter dicken Brillengläsern, sagte aber freundlich »Grüß Gott!« und lud Lisa zum Kaffee ein.

Wie ein Waldhaus mutete die alte, efeuumrankte Villa an, als es

Frühling wurde. Lisa ließ sich nun in allen Ehren aushalten. Die alte Frau beobachtete alles, sagte aber nichts. Allerdings lud sie Lisa des öfteren zum Kaffee ein und sprach mit ihr über die Ereignisse des Jahres 1865, als sie sich zum ersten und einzigen Mal in ihrem Leben verliebt hatte.

Endlich konnte Lisa malen!

Riedheim beurteilte ihre Bilder als »außerordentlich vielversprechend«, doch sie wußte natürlich, daß er das jeder bereitwilligen Dilettantin gesagt hätte, deren Busen ihn erregte. Während sie arbeitete, erkannte sie, daß sie gelernt hatte, nicht von Niki, aber von Fedor. Sie versuchte nicht mehr, die Impressionisten zu kopieren, sie strebte nicht mehr nach der Auflösung im Licht, nach dem zart Verschwimmenden. Jetzt bekannte sie sich zu ihrem kühnen Strich, zur Leidenschaft, zur Ungezügeltheit. Langsam und doch unverkennbar trieb sie dem Expressionismus entgegen, ja ihre Bilder trugen bereits surrealistische Züge. Es waren Anfänge. Sie merkte, ganz am Anfang einer künstlerischen Eigenständigkeit zu stehen, obwohl ihr Stil immer noch Wassilijews Stempel trug und ihn noch Jahre weiter tragen würde. Fedor hatte sie nie malen gelehrt, doch er hatte ihr seine Augen gegeben und war, in gewissem Sinn, ihr künstlerischer Vater. Die wichtigsten Anstöße hatte er gegeben. Nun mußte sie zu sich selbst finden.

Dieser Weg war schon deshalb so schwer, weil Lisa innerlich von Fedor nicht freikam. Es gab Zusammenbrüche, auch Zusammenbrüche unter der Last des nie zu erreichenden künstlerischen Ideals, das Fedor auf einmal für sie war, jetzt, wo sie sehen konnte wie er. Vor allem aber fühlte sie sich verstoßen, ausgesetzt ins Niemandsland ihrer selbst.

Es gab keinen Weg zurück zu Fedor.

Aus künstlerischer Sicht durfte es auch kein Zurück geben. Die Malerin in ihr wußte und akzeptierte das, die Frau in ihr wollte zurück zu der schmerzhaften Lust, in das Sich-Auflösen in der Unterwerfung, zurück zu den besinnungslosen Orgasmen. Riedheim machte ihr allzu deutlich, was sie mit Fedor verloren hatte. Sie war nur froh, daß ihr Gönner zu Hause eine eifersüchtig über ihren Gatten wachende Frau sitzen hatte, der er nur selten entkommen konnte, ebenso, wie er seinen gesellschaftlichen Verpflichtungen Tribut zahlen mußte. Ein braver Bürger - Gott sei Dank.

Die Liebesstunden mit ihm gestalteten sich für Lisa erwartungsgemäß nicht besonders erquicklich. Riedheim hatte eine deutliche Neigung zum Masochismus, und da Lisa diese Neigung teilte, kamen sie nicht so recht zusammen. Genaugenommen ertrug Lisa diesen um Qual winselnden Mann kaum. Da Riedheim gut in den Fünfzigern steckte, dazu schwerfällig und phlegmatisch war, mußte sie allerlei Kunstgriffe anwenden, um ihm überhaupt eine Erektion zu verschaffen. Sie hatte sich die Aufgabe einer Liebesdienerin einfacher vorgestellt. Einmal arbeitete sie eine halbe Nacht daran, Riedheim zum Erguß zu bringen. Wenn gar nichts mehr half, tat sie ihm den Gefallen und benutzte den Riemen.

Immer wieder versprach er ihr, sie eines Tages - bei passender Gelegenheit - »groß herauszubringen«.

Sie wagte sich jetzt auch an Porträts heran, eine Aufgabe, die sie bisher ängstlich gemieden hatte. Da es sie zur Perfektion trieb, arbeitete sie hart. Es gab nichts Wichtigeres als die Kunst. So kam sie auch langsam über Fedor hinweg. Sie malte den Schmerz und die Enttäuschung aus sich heraus - doch eine Sehnsucht, groß und weltenfüllend, blieb zurück.

Sie lernte in dieser Zeit aber auch das Glücksgefühl genießen, vor einem gelungenen Bild zu stehen und einfach nur zu spüren, daß es gut geworden war.

An Niki dachte sie kaum. Wenn, so mit angenehmer, leiser Wehmut, ohne Sentimentalität. Es war vorbei, die Zeit dafür abgelaufen. Sie wünschte es nicht zurück, obwohl es manchmal schön gewesen war.

Von ihren Liebesdiensten an Riedheim abgesehen, lebte sie bis in den Sommer hinein fast keusch. Es gab keine Liebhaber. All ihre Leidenschaft, auch ihre erotische Phantasie, fand Eingang in ihre Malerei.

Im Juni jedoch, als sich bereits ein schweres Gewitter über Europa zusammenbraute, forderte die Natur ihr Recht. Lisa war eine leidenschaftliche Frau - und gab für zwei Wochen einem Wanderschauspieler die Ehre.

Der Krieg kam für Lisa aus heiterem Himmel.

Am Anfang ignorierte sie ihn erschrocken, da er nicht in ihre Welt paßte.

Beim Metzger wie beim Bäcker hatte sie die Leute über einen drohenden Krieg mutmaßen hören, aber nie daran geglaubt. Krieg - das war »Männerspiel«, das ging sie nichts an.

Alle Welt schien jedoch auf diesen Krieg vorbereitet zu sein, nur sie nicht. Sie merkte, daß sie alles, was sie nicht ganz direkt anging, fortgeschoben hatte, um in einer Welt zu leben, die sie sich schuf. Nun sollte es anders werden...?