Michael Chabon
Die böse Liebesschwester
Als ich zurück in die Großstadt kam, war ich froh, Phlox wiederzusehen - beängstigend froh. An jenem Montag wartete sie abends auf dem Bürgersteig vor Boardwalk Books auf mich, und ohne lange nachzudenken, hob ich sie hoch, küßte sie und wirbelte sie herum, ganze dreihundertsechzig Grad, wie ein Soldat und ein Mädchen. Wir ernteten beachtlichen Beifall. Ich raffte den dünnen groben Baumwollstoff an der Taille ihres Strandkleids mit den Fäusten zusammen, packte fester zu und drückte sie an den Hüften an mich. Wir redeten eine Menge dummes Zeug und steuerten auf den Wok Inn zu, Köpfe zusammen, Füße getrennt, aneinandergelehnt wie die Spitze eines Kartenhauses. Ich erkundigte mich nach den neuen kastanienbraunen Strähnen in ihrem Haar.
»Sonne und Zitronen«, erklärte sie. »Man setzt sich einen locker geflochtenen Strohhut auf und zieht ein paar Haarsträhnen durch die Löcher. Dann nimmt man den Saft und läßt sich die Strähnen damit vollsaugen. Ich habe ein einsames Wochenende damit verbracht, mich vollzusaugen wie ein Schwamm.«
»Dito. Das ist aus dem Cosmo, diese Sache mit den Zitronen«, sagte ich. »Ich habe neulich morgens bei dir im Badezimmer davon gelesen.«
»Du hast mein Cosmo gelesen?«
»Alle deine Illustrierten. Ich habe sämtliche Liebestests ausgefüllt und so getan, als wäre ich du und würde die Fragen beantworten.«
»Wie habe ich abgeschnitten?«
»Du hast gemogelt.«
Wir kamen an einem Secondhand-Laden vorbei, dessen Fenster voll von alten Toastern war, von Lampen mit Sockeln in Form spanischer Galeonen und Schaufensterpuppen ohne Kopf, die mit Ziermünzen besetzte Kleider trugen. In einer Ecke des Schaufensters lag eine flache bunte Schachtel. »Twister!« rief Phlox. »Oh, Art, laß uns das Spiel kaufen. Stell dir nur mal vor.«
Sie packte mich am Arm und zerrte mich in das Geschäft. Die Verkäuferin holte das Spiel für uns aus dem Fenster und zeigte uns, daß es in Ordnung war; die Drehscheibe drehte sich noch, und die Spielmatte war leidlich sauber. Beim Abendessen lag es unter dem Tisch, schräg zwischen Phlox’ Fuß und meinem, und während wir erst unsere fröhliche, belanglose Plauderei fortsetzten und ich dann über das Wochenende in dem Landhaus berichtete, reizte und piekte mich die Twister-Schachtel bei jeder Bewegung von Phlox’ unruhigem Knöchel.
Im Wohnzimmer ihres Apartments schoben wir die Sessel und den Couchtisch beiseite und breiteten die Plastikmatte auf dem Teppich aus. Die primärfarbenen Felder und die verzerrten, schwungvollen roten Buchstaben oben und unten an der Matte, die das Wort »Twister!« ergaben, riefen eine Flut von Erinnerungen wach an Geburtstagspartys in den 60er Jahren, die an verregneten Samstagen in ausgebauten Kellerräumen stattgefunden hatten. Phlox verschwand im Schlafzimmer, weil sie »die beengende Hüllen der Zivilisation abstreifen« wollte, wie sie es ausdrückte, und ich setzte mich auf den Boden und schnürte mir die Turnschuhe auf. Eine seltsame Zufriedenheit überkam mich. Obwohl die gebrauchten Versandhausmöbel, der falsche Renoir, die Katzenfigur und der andere Kram nach wie vor irgendwie häßlich und geschmacklos wirkten, stellte ich fest, daß ich einen jener alltäglichen ästhetischen Kraftakte geleistet hatte, die darin bestehen, daß man sich ein geschlossenes System von Geschmacklosigkeiten - Las Vegas, eine Bowlingbahn oder Filme mit Jerry Lewis - einfach einverleibt und es dann schön und lustig findet.
Mit Phlox, überlegte ich mir, hatte ich in gewisser Beziehung das gleiche getan. Alles an ihr, was eher an ein Animiermädchen oder eine Gangsterbraut denken ließ, an eine Kurtisane aus einem schlechten Roman oder eine adrice in einem französischen Kunstfilm über Entfremdung und Langeweile - ihr zu dick aufgetragenes Getue und Make-up -, alles, was von zweifelhaftem Geschmack zeugte und mich hätte verlegen machen oder zum Kichern reizen können, hatte ich anzuerkennen gelernt, ich suchte danach und ermunterte sie noch dazu. Sie löste in mir das gleiche Entzücken aus wie hochtoupierte Frisuren und Elvis-Presley-Tinnef. Als sie in einem Nylonkimono und riesigen Pantoffeln aus türkisfarbenem Pelz aus ihrem Schlafzimmer kam, wurde mir fast schwindlig vor Vergnügen, und die knallbunte Twister-Plastikmatte zu meinen Füßen schien die Matrix, das gedruckte Konzept all dessen zu sein, was ich an ihr mochte. »Wer dreht?« fragte ich. »Ist Annette zu Hause?« Annette war Phlox’ Mitbewohnerin, eine große, aufdringliche, attraktive Krankenschwester, deren komplizierten Dienstplan in all seinen Absonderlichkeiten ich nie ganz durchschauen konnte.
»Nein. Wir werden die Drehscheibe hier neben uns stellen müssen und uns abwechseln.«
Ich kroch auf die andere Seite des Spielfelds und ging in die Hocke, Phlox ebenso. Einen feierlichen Moment lang sahen wir uns über die Matte hinweg in die Augen. Dann setzte Phlox den schwarzen Plastikzeiger der Drehscheibe in Bewegung. »Rechte Hand blau«, verkündete sie.
Ich beugte mich vor und legte die rechte Hand in die Mitte eines blauen Feldes. Phlox folgte meinem Beispiel, und als sie leicht nach vom kippte, gingen die Flügel ihres Kimonos auf und das Haar fiel ihr über den gesenkten Kopf. Zwischen ihrem wippenden zweifarbigen Haar hindurch spähte ich in die Schatten des Morgenrocks. Sie drehte noch einmal.
»Rechter Fuß grün.«
Damit kauerten wir beide halb auf der Matte und halb auf dem Boden. Die blauen und grünen Reihen lagen näher bei mir als bei ihr; ich hatte eine Art gestreckte Hocke eingenommen und die rechte Hand auf den rechten Fuß hintereinander auf die Matte gesetzt, doch Phlox mußte sich ganz herüberbeugen und den rechten Fuß in dem Pelzpantoffel vor die rechte Hand setzen. Sie hob ihr schimmerndes linkes Bein ein paar Zentimeter in die Luft, um besser an die Stelle heranzukommen, und schwankte einige Augenblicke, ehe sie auf die Seite fiel. »Verloren«, sagte ich und lachte, aber sie meinte, das zähle nicht, und schob mir die Drehscheibe zu, ehe sie sich wieder hochwuchtete; die weiche Haut auf ihrem gestreckten Schenkel zitterte vor Anstrengung. Ich drehte.
»Linker Fuß blau.«
Da ihre rechte Hand auf dem blauen Feld lag, wo ich meinen linken Fuß am geschicktesten hingesetzt hätte, und sie mich so auf das zweitbeste Feld verwiesen hatte, war ich gezwungen, das linke Bein durch das von ihrem rechten Bein und Arm gebildete Dreieck zu schieben, und ich spürte, wie mein linker Oberschenkel in der Bluejeans sanft ihren nackten Knöchel berührte. Wir stützten uns nun in Schräglage an drei Stellen ab, Kopf neben Kopf, und berührten uns leicht mit den Ohren. Ihr tiefes, italienisches Lachen, ganz nah an meinem Ohr, schien von dem Dunkel im Spalt des warmen Kimonos auszugehen, und ich merkte, wie sich zwischen dem oberen und unteren Ende meiner Wirbelsäule ein hektischer Nachrichtenaustausch entspann. Ich rutschte mit den Hüften ein Stück weg und drehte noch einmal.
»Rechte Hand gelb.«
Der Vorteil wechselte auf ihre Mattenseite; die rechte Hand auf dem Rücken, ließ sich Phlox nach hinten fallen, und einen Moment später lag ich, jetzt ebenfalls lachend, beinahe auf ihr; das wippende Haar hing so dicht vor meinem Mund, daß ich die nächsten losen Spitzen zwischen die Zähne nahm und auf ihnen herumkaute; es knirschte seltsam, bis mir die Haare aus den Lippen glitten und feucht und aneinanderklebend wie Pinselspitzen herunterhingen.
»Dreh«, sagte sie.
»Ich dreh gleich durch.«
Sie beobachtete mich, die Lippen zusammengekniffen, aber mit den Augen war sie drauf und dran, wieder loszulachen, doch dann spannte sie die Gesichtsmuskeln niedlich an, biß sich auf die Unterlippe und guckte ängstlich, als rechne sie damit, vielleicht doch zusammenzuklappen. Mit der linken Hand, die mir gerade noch einen Moment frei blieb, setzte ich die Drehscheibe erneut in Bewegung.
»Linke Hand grün.«
Ich streckte die Hand nach dem günstigsten Feld aus, doch sie gab sich alle Mühe, mir mit ihrem Körper den Weg zu versperren, und zwang mich, mit dem linken Arm unter ihren beiden Schenkeln durchzugreifen, so daß ich den Oberkörper nach hinten beugen mußte. Ich war mit dem Kopf in die Kuhle zwischen ihrer Hüfte und ihren Rippen geraten und blickte nun nach oben in ihre angenehm duftende Armbeuge. Mit bebenden Schenkeln streckte ich die Finger nach dem grünen Feld aus. Mir taten die Knie und die Schultern weh. Irgendwie war es ihr gelungen, sich aufrecht zu halten. Sie lachte über meine wackelige, in vier Richtungen gleichzeitig gehende Anstrengung, das Gleichgewicht zu halten, doch plötzlich mobilisierte ich ungeahnte Kräfte.
»Du drehst«, stieß ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
»Ich kann nicht.«
»Dreh, verdammt noch mal, dreh, dreh das Ding, na los.« Allmählich lockerte sich ihr schmerzhafter Griff um meinen rechten Fuß auf dem grünen Feld.
»Ich kann nicht.«
»Phlox!« Ich ließ meinen Kopf auf das glatte Nylon an ihrem Schenkel sinken. Ihre zitternde Brust verströmte flüchtig Opium und Schweiß. Ich hatte eine Erektion - ich bitte um Entschuldigung, daß ich noch einmal den Zustand meines Penis erwähne, der sich gegen die Stoffwände seiner einsamen Zelle stemmte. Ich merkte, daß meine Finger abrutschten.
Das Telefon klingelte: einmal, zweimal, dreimal.
»Fall«, sagte sie. Sie neigte sich vor, reckte den Hals wie ein Vogel und küßte mich auf die Lippen.
»Nein.« Meine schlüpfrigen Füße und Hände rutschten auf dem Plastik herum und machten kurze und verräterische Quietschgeräusche. Sie biß mich in die Nasenspitze.
»Fall!«
Ich fiel, mit einer Geschwindigkeit von 9,81 Meter pro Sekunde mal Sekunde.
Während der ersten Juliwochen kam Ordnung in mein Leben, woran man erkennt, daß Juli ist. Die Nächte verbrachte ich in Phlox’ Apartment, die Tage bei Boardwalk Books, und die Abende abwechselnd in Gesellschaft von Cleveland und Arthur oder der bösen Liebesschwester, wie Cleveland Phlox neuerdings nannte. Ein gewisser Zwang, den ich von meinem Vater geerbt hatte, und so eine Art unnötiges Feingefühl hatten mich stets dazu getrieben, meine Freunde säuberlich auseinanderzuhalten und Gruppenausflüge zu vermeiden, doch während dieser zwei ruhigen Wochen inmitten des Sommers war ich frei von den Schuldgefühlen, die mein Jonglieren mit Freundschaften für gewöhnlich begleiteten, und frei von dem Selbstvorwurf, ein doppeltes Spiel zu spielen, der damit einherging, daß ich die Menschen, die ich sehr gern hatte, in jeweils getrennte Nischen meines Lebens drängte; daher kam es, daß Phlox, Arthur und ich von Zeit zu Zeit auf dem gleichen Rasenstück unsere Mittagsbrote verzehrten.
Cleveland verbrachte die meisten Nächte mit Jane. Seit Jahren hatte sie eine erfundene Freundin namens Katherine Tracy, ein künstlerisch veranlagtes, zartbesaitetes Mädchen, das hin und wieder versuchte, sich das Leben zu nehmen, oder ernstlich an Dickdarmentzündung, Magersucht, Gürtelrose, Liebeskummer oder Hämorrhoiden erkrankte. Während dieser Phasen bedurfte Katherine Tracy ständiger Aufmerksamkeit und Gesellschaft, und Dr. und Mrs. Bellwether, die das schüchterne, äußerst gehemmte Mädchen mit der Zeit ziemlich ins Herz geschlossen hatten, stimmten stets wohlwollend zu, wenn Jane ein paar Tage außer Haus verbrachte, um bei der Betreuung von Katherine zu helfen, die zudem so eine neurotische Angst vor Telefonen hatte, daß sie keinen eigenen Anschluß wollte. Was Cleveland tagsüber tat, sollte ich bald herausfinden.
Für Arthur hielt der Julianfang zwei Abschlußklausuren in seinen Ferienkursen und einen schweren Fall von Krätze bereit, die, abgesehen von Herpes, die schlimmste Geschlechtskrankheit war, die man sich damals vorstellen konnte. Dieses Mißgeschick fesselte ihn weitgehend ans Haus, wo er büffelte und nach Kwell-Puder stank. Ich fühlte mich nicht gedrängt, dem einen Teil meines Lebens mehr Zeit zu widmen als dem anderen. Phlox (die früher als ich ahnte, daß an eine Versöhnung zwischen ihr und Arthur nicht zu denken war, ja die Arthur vielleicht nie gemocht hatte - einmal hatte sie sogar erklärt: »Mögen tu ich Jungs nie; entweder ich liebe sie oder ich hasse sie. «) und Arthur verdarben allerdings den einen Abend, an dem wir fünf gemeinsam ausgingen, nachdem sie uns den vorangehenden Nachmittag auch schon vermiest hatten.
Wiederum begann der Abend mit einem Anblick, der sich mir durch die großen Schaufenster von Boardwalk Books bot. Ungefähr fünfzehn Minuten früher als ich Phlox, Arthur, Cleveland und Jane erwartet hatte, die mich abholen kamen, schlenderten sie auf dem Bürgersteig an dem Geschäft vorbei, und während eines langen Augenblicks bemerkte ich sie, erkannte sie aber nicht. Sie tauchten paarweise auf. Die beiden Frauen gingen voran; die eine, merkwürdig aufgetakelt mit bunt zusammengewürfelten Kleidern aus drei oder vier Epochen, redete mit der anderen, die einen bonbonfarben gestreiften Rock und einen leuchtend gelben Pullover trug, und begutachtete deren Handgelenk und Armreif. Das Haar flatterte ihnen im Wind wie kurze Schals um die Köpfe, und ihre Gesichter sahen zynisch und fröhlich aus. Ein Stück hinter ihnen folgten die beiden Männer, der eine mit langer schwarzer Löwenmähne und schwarzen Stiefeln, der andere in weißen Stan-Smith-Jeans, beide wirkten angeregt und wohlhabend, waren in Sonnenlicht getaucht, und jeder hielt die Zigarette auf andere Art, der Korpulente mit ungezwungener Lässigkeit, der Dünne betont und wild gestikulierend, als sei die Zigarette ein Hilfsmittel beim Reden. Mein Gott! dachte ich in jenem verrückten Augenblick, ehe sie sich umdrehten und winkten. Wer sind diese schönen Menschen? Sie gingen weiter, und ich drückte mir die Nase an der Scheibe platt, um den verschwindenden Gestalten nachzusehen. Ich kam mir vor wie ein Südseeinsulaner, der beobachtet, wie seine weißen Götter in ihr schimmerndes Transportflugzeug steigen und wegfliegen, nur kam noch hinzu, daß ich bei diesem Eindruck das zutreffende Gefühl hatte, irgendwie an der Nase herumgeführt zu werden. Verstört drehte ich mich um und wollte nachsehen, ob jemand im Laden die Theophanie miterlebt hatte, was anscheinend nicht der Fall war, jedenfalls hatte sie zumindest niemand so aufgewühlt wie mich. Hinter der Registrierkasse hüpfte ich wie ein Gummiball auf der Stelle, hopste von einem Fuß auf den anderen. Ich stempelte mein Kärtchen. Als sie Punkt sechs zurückkamen, stürzte ich auf die Straße und blieb zögernd stehen, nach der mittäglichen Katastrophe immer noch verwirrt und unsicher, wen ich zuerst umarmen sollte; schließlich gab ich Arthur die Hand, ehe ich
Phlox in die Arme nahm. Vielleicht rührte ich durch diesen Fehler den ganzen Streit vom Mittag wieder auf. Als ich Phlox an mich drückte, zwickte sie mich leicht in den Arm, was Arthur natürlich bemerkte.
»Erst der Handschlag, dann die Umarmung«, sagte er zu ihr. »Paß bloß auf.«
Auch Jane umarmte ich, spürte kurz sanfte Arme und Chanel No. 5, dann stand ich Cleveland gegenüber, der die große schwarze Brille nach oben schob und die Stirn runzelte.
»Jetzt langt’s mit dem Herumgetatsche«, sagte er.
Wir machten uns auf den Rückweg zur Bibliothek, wo Cleveland den Barracuda geparkt hatte. Meine Gefühle waren absolut zwiespältig, es war schlimmer denn je. Ich hielt Phlox an der Taille umfaßt, mein Arm scheuerte sich an dem komischen weißen Ledergürtel, der ihr Kleid zusammenhielt, doch immer wieder ging ich rückwärts und sah mich nach Cleveland, Arthur und Jane um. Ich merkte, wie Phlox sich darüber ärgerte, aber ich sagte mir, daß ich ihr in letzter Zeit reichlich Aufmerksamkeit geschenkt hatte, und als Jane Clevelands Hand losließ und nach vorn kam, um mit Phlox zu reden, blieb ich zurück und schloß mich den Jungs an. Jane konnte Phlox gut leiden und sagte das auch unaufhörlich. Phlox fand Jane langweilig und blöd, weil sie trotz allem Cleveland die Stange hielt, und natürlich glaubte sie, Jane sei insgeheim in mich verliebt.
»Du wirst ganz schön Ärger kriegen«, sagte Arthur und lächelte. »Schön euch zu sehen.«
»Schön, auch dich zu sehen«, sagte Cleveland. Er schien bester Laune; mit eingezogenem Bauch und klappernden Stiefelabsätzen schnaufte er über den Bürgersteig. »Hör mal, Bechstein, wann hast du deinen freien Tag?«
»Am Mittwoch«, antwortete ich. Ich schielte zu Phlox hinüber. Sie lachte gerade über eine Geschichte, die ihr Jane erzählte und mit zahlreichen Gesten ihrer gebräunten Hände unterstrich; ich beobachtete das Hinternpaar und die vier auf hochhackigen
Schuhen stöckelnden Beine. Den Mittwoch hatte ich Phlox versprochen.
»Wir müssen uns treffen.«
»Wo?«
»Hier. In Oakland. Sagen wir bei der Wolkenfabrik.«
»Weswegen?«
Er gab mir keine Antwort. Arthur, der zwischen uns ging, drehte sich mit leicht verdrossener Miene zu mir um. Überrascht stellte ich fest, daß Cleveland Arthur offenbar nichts von meinem Vater erzählt hatte. Im ersten Moment war ich begeistert, als ich merkte, daß es zwischen Cleveland und mir etwas gab, woran Arthur nicht teilhatte, etwas außerhalb ihrer Freundschaft, doch dann wurde ich ebenso rasch traurig und schämte mich über das, was es war. Unsere größte Gemeinsamkeit hatte ich mir anders vorgestellt. Doch die Verlockung war natürlich unwiderstehlich.
»Okay«, sagte ich. »Aber können wir uns morgens treffen? Den Nachmittag habe ich für Phlox eingeplant.«
»In Ordnung«, meinte Cleveland. »Sagen wir zehn Uhr.« Er atmete kräftig ein und zog den ganze Rotz in seiner Nase geräuschvoll hoch. »Müssen wir eigentlich so schnell gehen?« Phlox drehte den Kopf um, kniff im Licht der untergehenden Sonne mehrmals die Augen zusammen, und der Ausdruck ihres Gesichts schwankte zwischen fürsorglich und verletzlich.
Auf unserem Programm standen Essengehen und Ella Fitzgerald, die an jenem Abend im Point Park auftrat. Cleveland behauptete, sie würde an einem Kranhubschrauber hängend nach Pittsburgh eingeflogen werden, wie Jesus in La Dolce Vita, und eines Tages, sagte er, würde man das gleiche mit ihm tun. Im Restaurant saß ich neben Phlox und gegenüber von Arthur; Jane hatte den Platz neben Arthur, und Cleveland nahm das ganze Kopfende des Tisches ein. Er brachte die Bedienung in Verlegenheit, weil er sie anscheinend von irgendwoher kannte, was Jane wiederholt rot werden ließ. Arthur und Phlox hatten schon ini Auto angefangen, sich auf kleinliche Weise anzugiften, mit unfreundlichen Witzen und viel Gegrinse.
Sie setzten den Zoff vom Nachmittag fort. Wir drei richteten es nämlich von Zeit zu Zeit so ein, daß wir uns in den Mittagspausen treffen konnten - hinter der Bibliothek, im Park oder auf dem Rasen vor der Soldiers’ and Sailors’ Memorial Hall, aber an diesem Nachmittag hatte mich das Glück verlassen, und mitten in einer schrecklich wichtigen Auseinandersetzung hatte ich unversehens Arthurs Partei ergriffen.
Wir sprachen über Born to Run von Bruce Springsteen. Ich erklärte, dies sei das katholischste Plattenalbum aller Zeiten. »Mal sehen, was alles dafür spricht«, sagte ich. »Da taucht im ersten Lied eine Mary - also Maria - auf, die zur Musik aus dem Radio wie eine Vision über die Veranda tanzt. Dann sind da Leute, die durch himmlische Gefilde streifen und vergeblich versuchen, das Feuer zu atmen, in dem sie geboren wurden. Und Engel in frisierten Wagen, Jungfrauen und Huren...«
»Nicht zu vergessen She’s the One«, sagte Arthur. »Das ist der Gipfel an Marienverehrung.«
»Stimmt.«
»Da singt er von killer graces and, secret places.«
»Das hasse ich«, sagte Phlox, während sie mit zwei langen Daumen eine Mandarine zerteilte. »Ich hasse dieses Lied über »intime Stellen, die kein Junge ausfüllen kann<. Das glaube ich nicht. Solche Stellen gibt es nicht.«
»Na hör mal, Phlox«, sagte Arthur. »Eine oder zwei intime Stellen mußt du doch wohl auch haben.«
»Die hat sie«, sagte ich. »Das weiß ich.«
»Intime vielleicht, aber nicht unausgefüllte. Wozu sollten Jungs denn gut sein, wenn sie nicht alle Stellen ausfüllen könnten?« Arthur und ich machten uns gemeinsam für die These von den unauslotbaren Höhlen der Frau stark. Phlox verteidigte ihre totale Erkennbarkeit dickköpfig und mit wachsendem Zorn, und irgend etwas an der Situation ärgerte sie. Teils weil die Auseinandersetzung so belanglos war, vermutete ich, und teils weil wir zwei gegen eine waren, aber in erster Linie störte sie wohl, daß ich ihr so gemein in den Rücken fiel.
Vielleicht kannte ich wirklich alle Gründe, weshalb sie sauer auf mich sein konnte, und vielleicht würden mir Frauen gar keine Rätsel mehr aufgeben, wenn ich bloß ein wenig über meinen beschränkten Horizont hinaussehen könnte. Jedenfalls war die Mittagspause sehr unangenehm verlaufen, und während wir nun vor unseren roten Pastatellern saßen, spitzte sich die Lage rasch zu.
»Das kommt davon, weil du so unsicher bist«, sagte Arthur gerade. »Außerdem kannst du dir nichts Schöneres denken, als den ganzen Tag an diesem Schalter zu sitzen - gib’s zu.«
»Kann ich wohl«, widersprach Phlox. »Ich hasse es. Du willst doch bloß selber dort sitzen.«
»Schon gut, schon gut«, sagte Cleveland mit vollem Mund.
»Du bist ja verrückt«, sagte Arthur. »Diese Putzfrauen haben dich wahrscheinlich nicht mal bemerkt.«
»Du hast selbst gesehen, wie ich weinte! Du hättest hören müssen, wie die über mich gelästert haben!«
»Was haben sie denn gesagt?« fragte Jane ganz freundlich. Sobald sie erfuhr, daß irgendwer jetzt oder früher irgendwie in Not war, löste das ihren Mitleidstick aus, und sie eilte zu Hilfe. Sie beugte sich über den Tisch und legte ihre Hand auf die von Phlox.
»Ich kann es nicht sagen. Ich habe es vergessen.«
»Ich nicht«, sagte Arthur.
»Das reicht, Artie«, sagte Cleveland.
»Du hast gesagt, sie hätten dich ein versifftes weißes Luder genannt, das sich für was Besonderes hält, weil es am Schalter den lieben langen Tag mit dem Arsch vor den Jungs rumwedeln darf.«
Schweigen senkte sich über unseren Tisch. Phlox warf stolz den Kopf in den Nacken, und ihre Nasenflügel zuckten. Ich hatte diese Geschichte schon ein paarmal gehört, aber Zwischenfälle mit anderen Frauen, die ihren eifersüchtigen Zorn an ihr ausließen, waren im Leben von Phlox an der Tagesordnung, deshalb hatte mich die imposante, eingängige Haßtirade der Putzfrauen aus der Hillman-Bibliothek bisher eher kaltgelassen. Ich hatte eine fürchterliche, ungewohnte, widerwillige Wut auf Arthur. »Stark!« sagte Cleveland schließlich.
Ein paar kleine Tränen sammelten sich in Phlox’ Augenwinkeln an und liefen ihr übers Gesicht: eins, zwei, drei. Ihre Unterlippe bebte und kam dann wieder zur Ruhe. Ich drückte Phlox die andere Hand. Jetzt wurden ihre beiden Hände gedrückt. »Arthur«, sagte ich. »Äh, du solltest dich wohl entschuldigen.«
»Tut mir leid«, sagte er sofort, aber es klang nicht sehr überzeugend. Er schaute nach unten auf seinen Schoß.
»Warum haßt du mich, Arthur?«
»Arthur, du bist schrecklich«, sagte Jane. »Er haßt dich nicht, Phlox, was, Arthur?« Sie schlug ihm auf die Schulter.
Ich blickte auf meine Linguini in roter Muschelsoße. Plötzlich schien die Wärme restlos aus ihnen gewichen zu sein, der darübergestreute Parmesan war kalt geworden und zu einer dicken klumpigen Käsedecke erstarrt, die sich über die Nudeln breitete, und mit den grauen Muschelstückchen wirkte das Ganze schleimig rot und organisch.
»Ich gehe«, sagte Phlox. Sie schniefte und ließ ihren Geldbeutel zuschnappen.
Ich stand mit ihr auf, und wir zwängten uns an Cleveland vorbei. »Scheint für uns alle noch ein lustiger Abend zu werden«, sagte ich leise. Ich warf etwas Geld auf den Tisch.
»Wen die Götter vernichten wollen«, sagte Cleveland, »dem machen sie vorher Pasta.« Er streckte die Hand aus und stupste mich am Ellbogen. »Mittwoch.«
»Mittwoch«, sagte ich und setzte mich in Trab.
Draußen auf der Straße rang Phlox nach Fassung und fingerte nervös an ihrer Handtasche herum. Ich trat von hinten auf sie zu und preßte das Gesicht in ihr Haar. Sie atmete tief ein, hielt die Luft an, atmete wieder aus; ihre Schultern entkrampften sich. In diesem Augenblick - gerade als sie sich mit ziemlich gelassenem Gesicht zu mir umwandte - drehten die Zikaden in den Bäumen alle durch, wer weiß wieso, und ihr Zirpen war so laut und grauenhaft wie tausend Fernseher, in denen gleichzeitig die Nachrichten laufen. In Pittsburgh sind selbst die Zikaden fleißig. Wir hielten uns die Ohren zu und lasen uns die Worte von den Lippen ab.
»Mann!« bildete sie mit den Lippen.
»Nichts wie weg von hier.«
»Was?«
»Das macht mich verrückt.«
»Was?«
Ich riß die Tür eines Lokals auf, einer Imbißstube direkt neben dem Restaurant, das wir eben verlassen hatten; wir standen im Vorraum neben dem Kaugummiautomat - einer Spende des Kiwanis-Klubs - und küßten uns in der Stille von klapperndem Besteck und dudelnder Musik.