Vladimir Nabokov

Noch immer in Parkington. Schließlich wurde mir doch noch eine Stunde Schlaf zuteil - aus dem mich der sinnlose und schrecklich erschöpfende Verkehr mit einem kleinen, behaarten, mir völlig fremden Hermaphroditen weckte. Mittlerweile war es sechs Uhr morgens, und mir kam plötzlich der Gedanke, es könne ratsam sein, früher als angekündigt im Camp anzukommen. Ich hatte von Parkington aus noch hundert Meilen zu fahren, und bis zu den Hazy Hills und nach Briceland wären es noch mehr. Wenn ich gesagt hatte, ich würde Dolly nachmittags abholen, so nur, weil meine Phantasie darauf bestand, daß so bald wie möglich die barmherzige Nacht über meine Ungeduld herabsank. Doch jetzt sah ich Mißverständnisse aller Art voraus und zitterte bei dem Gedanken, daß eine Verzögerung ihr Gelegenheit zu einem Telefonanruf in Ramsdale gäbe. Als ich aber um 9 Uhr 30 zu starten versuchte, stellte ich fest, daß die Batterie leer war, und es war nahezu Mittag, als ich Parkington endlich verließ.

Ich erreichte meinen Bestimmungsort gegen halb drei; parkte meinen Wagen in einem Fichtenwäldchen, wo ein grünbehemdeter, rothaariger Lümmel stand und in griesgrämiger Einsamkeit Hufeisen auf einen in die Erde gerammten Pfeil warf; wurde von ihm wortlos zum Büro in einem weißen Stuckhäuschen gewiesen; mußte mehrere Minuten mehr tot als lebendig das neugierige Mitgefühl der Camp-Leiterin über mich ergehen lassen, eines schlampigen, abgekämpften Weibsbildes mit rostrotem Haar. Dolly, sagte sie, habe schon gepackt und sei reisefertig. Daß die Mutter krank sei, wisse sie, aber nicht, daß es etwas Ernstes sei. Ob Mr. Haze, ich meine Mr. Humbert, gern das pädagogische Personal des Camps kennenlernen möchte? Oder die Hütten besichtigen, in denen die Mädchen untergebracht waren? Jede einem Disney-Geschöpf gewidmet? Oder das Haupthaus besichtigen? Oder solle Charlie gehen und sie holen? Die Mädchen legten für einen Tanzabend gerade letzte Hand an den Schmuck des Eßsaals. (Und später würde sie vielleicht zu diesem oder jenem sagen: »Der arme Kerl sah aus wie sein eigenes Gespenst.«)

Es sei mir erlaubt, diese Szene mit all ihren trivialen und schicksalhaften Einzelheiten einen Augenblick lang festzuhalten: die Hexe Holmes, die eine Quittung ausstellt, sich am Kopf kratzt, ein Schreibtischschubfach aufzieht, Wechselgeld in meine ungeduldige Hand schüttet und dann säuberlich einen Schein mit den fröhlichen Worten: »... und fünf!« darüber breitet; Photos von kleinen Mädchen; einen noch lebendigen, prächtig bunten Nachtfalter oder Schmetterling, der fest an die Wand gespießt ist (»Naturkunde«); das gerahmte Diplom der Diätistin des Camps; meine zitternden Hände; eine Karteikarte, die die tüchtige Holmes hervorzieht und die einen Bericht über Dolly Hazes Betragen im Juli enthält (»befriedigend bis gut; Vorliebe für Rudern und Schwimmen«); rauschende Bäume, zwitschernde Vögel und mein hämmerndes Herz... Ich stand mit dem Rücken zur offenen Tür und fühlte plötzlich das Blut zu Kopfe schießen, als ich ihren Atem und ihre Stimme neben mir hörte. Sie schleifte ihren schweren Koffer bumsend neben sich her. »Hei!« sagte sie, blieb stehen und sah mich aus schlauen, frohen Augen an, die weichen Lippen zu einem etwas törichten, aber wunderbar liebenswerten Lächeln geöffnet.

Sie war dünner und größer geworden, und eine Sekunde lang kam mir ihr Gesicht weniger hübsch vor als das Bild, das ich länger als einen Monat in mir bewahrt hatte: Ihre Wangen sahen hohler aus, und zu viele Sommersprossen tarnten ihre ländlich rosigen Züge; und aus diesem ersten Eindruck (einem sehr schmalen menschlichen Intervall zwischen zwei Tigerherzschlägen) ging unausgesprochen, aber klar hervor, daß Witwer Humbert alles tun müsse, alles tun wollte und tun würde, um dieser abgemagerten, wenn auch sonnengebräunten kleinen Waise aux yeux battus (und sogar dieser bleierne Schatten unter den Augen war voller Sommersprossen) eine solide Erziehung zu geben und eine gesunde, glückliche Jugend, ein reinliches Heim, nette gleichaltrige Freundinnen, unter denen ich (wenn die Parzen mich zu belohnen geruhten) vielleicht ein hübsches kleines Mägdlein für den Herrn Doktor Humbert allein finden würde. Doch im nächsten Augenblick war meine wohltäterhafte Verhaltensstrategie ausradiert, hatte ich meine Beute eingeholt (die Zeit läuft unseren Phantasievorstellungen voraus!), und sie war wieder meine Lolita - und sogar mehr denn je meine Lolita. Ich ließ meine Hand auf ihrem warmen, kastanienbraunen Kopf ruhen und ergriff ihren Koffer. Sie war ganz Rose und Honig in ihrem buntesten, mit roten Äpfelchen bedruckten Kattunkleid, und ihre Arme und Beine waren von tiefem Goldbraun; darauf waren Kratzer wie winzige Punktlinien aus geronnenen Rubinen, und die gerippten Stulpen ihrer weißen Wollsocken waren genau so weit umgeschlagen, wie ich es in Erinnerung hatte; und ihrer kindlichen Tracht wegen oder weil ich sie in Gedanken immer in flachen Schuhen gesehen hatte, schienen mir ihre weißbraunen Lederhalbschuhe irgendwie zu groß und zu hochhackig für sie. Leb wohl, Camp Q. Leb wohl, einfaches, ungesundes Essen, leb wohl, Freund Charlie. Sie setzte sich neben mich in den heißen Wagen, erschlug eine flinke Fliege auf ihrem entzückenden Knie; dann kurbelte sie, während ihr Mund energisch einen Kaugummi bearbeitete, rasch das Fenster an ihrer Seite herunter und lehnte sich wieder zurück. Wir fuhren durch den sonnengestreiften und gefleckten Wald.

»Wie geht’s Mama?« fragte sie höflich.

Ich sagte, die Ärzte wüßten noch nicht recht, was ihr fehle. Jedenfalls etwas Gastrointestinales. Was garstig Infernalisches? Nein, Intestinales. Wir müßten eine Weile in der Nähe bleiben. Die Klinik sei auf dem Lande, nahe der fröhlichen Stadt Lepingville, wo ein großer Dichter des frühen neunzehnten Jahrhunderts gelebt habe und wo wir uns alle Filme ansehen würden. Sie fand, das sei ein toller Plan, und fragte, ob wir noch vor neun Uhr abends in Lepingville wären.

»Wir werden wohl zur Abendessenszeit in Briceland ankommen«, sagte ich, »und morgen sehen wir uns dann Lepingville an. Wie war die Tour? War’s schön im Camp?«

»Mhm.«

»Traurig, daß du weg mußt?«

»N-n.«

»Sprich, Lo... grunz nicht so. Erzähl mir was.«

»Was denn, Papi?« (Sie dehnte das Wort mit ironischer Vorsätzlichkeit.)

»Irgendwas.«

»Ist es okay, wenn ich Papi zu dir sage?« (Augen zusammengekniffen und auf die Straße gerichtet.)

»Aber ja.«

»Ist doch zum Schießen, nicht? Wann hast du dich denn in meine Mami verknallt?«

»Eines Tages, Lo, wirst du so manche Empfindung und Situation begreifen, zum Beispiel die Harmonie und Schönheit geistiger Verwandtschaft.«

»Kack!« sagte das zynische Nymphchen.

Kleine Flaute im Dialog, ausgefüllt mit etwas Landschaft.

»Sieh nur, Lo, all die Kühe da auf dem Hang.«

»Ich glaube, ich muß kotzen, wenn ich je wieder eine Kuh zu sehen kriege.«

»Ich habe dich nämlich schrecklich vermißt, Lo.«

»Ich dich nicht. Stimmt, ich war dir haarsträubend untreu, aber das macht nichts, weil du ja doch aufgehört hast, dich für mich zu interessieren. Du fährst viel schneller als Mami, junger Mann.«

Ich ging von blinden 110 Stundenkilometern auf halbblinde 75 herunter.

»Wie kommst du darauf, daß ich aufgehört habe, mich für dich zu interessieren, Lo?«

»Na, du hast mir noch keinen Kuß gegeben, oder?«

Innerlich vergehend, innerlich stöhnend, bemerkte ich vor mir einen angemessen breiten Seitenstreifen und holperte und schwankte hinein ins hohe Gras. Vergiß nicht, sie ist ein Kind, vergiß nicht, sie ist nur...

Der Wagen war kaum zum Stehen gekommen, das floß Lolita geradezu in meine Arme. Weil ich nicht wagte, nicht wagte, mich gehenzulassen, nicht einmal wagte, mir klarzuwerden, daß dies (süße Feuchtigkeit und zitterndes Feuer) der Anfang des unsagbaren Lebens war, das meine Willenskraft, vom kupplerischen Schicksal kompetent unterstützt, hatte Wirklichkeit werden lassen - weil ich nicht wagte, sie richtig zu küssen, berührte ich ihre heißen, sich öffnenden Lippen mit äußerster Ehrfurcht -ein winziges Nippen, nichts Lüsternes; sie aber preßte mit einem ungeduldigen Zappeln ihren Mund so fest gegen den meinen, daß ich ihre starken Schneidezähne fühlte und an dem Pfefferminzgeschmack ihres Speichels teilhatte. Ich wußte natürlich, daß es ihrerseits nur ein unschuldiges Spiel war, eine Backfischschäkerei, die Imitation irgendeines Abklatsches gespielter Liebesleidenschaft, und da (wie der Psychoschinder und der Mädchenschänder bestätigen können) die Grenzen und Regeln solcher kindlichen Spiele fließend sind oder wenigstens zu kindlich subtil, als daß der erwachsene Partner sie begreifen könnte, hatte ich furchtbare Angst, ich könnte zu weit gehen und sie dazu bringen, angewidert und erschreckt zurückzufahren. Und weil mir vor allem qualvoll viel daran lag, sie in die hermetische Abgeschlossenheit der Verzauberten Jäger zu schmuggeln, und wir noch achtzig Meilen vor uns hatten, unterbrach meine glückliche Intuition unsere Umarmung - einen Sekundenbruchteil, bevor ein Patrouillenwagen neben uns hielt.

Mit rotem Gesicht und bauschigen Augenbrauen starrte der Fahrer mich an:

»Haben Sie vielleicht eine blaue Limousine gesehen, die Sie vor der Kreuzung überholt hat, selbe Marke wie Ihre?«

»Ich wüßte nicht.«

»Haben wir nicht«, sagte Lo und beugte sich, ihre unschuldige Hand auf meinen Beinen, diensteifrig über mich hinweg, »aber sind Sie auch sicher, daß sie blau war, denn...«

Der Polyp (welchen Schatten von uns verfolgte er?) schenkte dem Maidelein sein schönstes Lächeln und machte eine Kehrtwende.

Wir fuhren weiter.

»Der Esel!« bemerkte Lo. »Dich hätte er schnappen sollen!«

»Wieso um Himmels willen mich?«

»Weil die Höchstgeschwindigkeit in diesem dämlichen Staat achtzig ist und... Nein, jetzt brauchst du nicht langsamer zu fahren, du Dussel. Er ist ja weg.«

»Wir haben noch eine ziemliche Strecke vor uns«, sagte ich, »und ich möchte ankommen, bevor es dunkel wird. Also sei ein liebes Mädchen!«

»Böses, böses Mädchen«, sagte Lo genüßlich. »Jugendliche Delickwentin, aber offen und gewinnend. Das war ein Rotlicht. Ich habe noch nie so eine Fahrerei erlebt!«

Wir rollten stumm durch eine stumme Kleinstadt.

»Was meinst du, würde Mama nicht ziemlich toben, wenn sie herausbekäme, daß wir ein Liebespaar sind?«

»Um Gottes willen, Lo, so etwas dürfen wir nicht sagen.«

»Also ein Liebespaar sind wir doch, oder?«

»Nicht daß ich wüßte. Ich glaube, wir werden wieder Regen bekommen. Willst du mir nicht von den Streichen erzählen, die du im Camp ausgeheckt hast?«

»Du redest wie ein Buch, Papi.«

»Was habt ihr so getrieben? Erzähle, ich will’s wissen.«

»Bist du leicht geschockt?«

»Nein. Mach schon.«

»Bieg in einen einsamen Seitenweg, und ich erzähl’s dir.«

»Lo, ich muß dich ernstlich bitten, nicht den Clown zu spielen. Also?«

»Also... ich hab alles mitgemacht, was so an Aktivitäten geboten wurde.«

»Ensuite?«

»Angswiht lernte ich ein glückliches und ausgefülltes Gemeinschaftsleben zu führen und dabei eine harmonische eigene Persönlichkeit zu entwickeln. Also eine reizende junge Dame zu sein.«

»Ja. So was habe ich in dem Prospekt gelesen.«

»Begeistert nahmen wir am gemeinschaftlichen Singen ums Feuer im großen Steinkamin oder draußen im Mondenscheiß teil, wo jedes Mädchen den Klang ihres eigenen Glücksempfindens mit der Stimme der Gruppe verschmelzen ließ.«

»Dein Gedächtnis ist hervorragend, Lo, aber ich muß dich ersuchen, die Schimpfwörter wegzulassen. Sonst noch was?«

»Das Motto der Pfadfinderinnen ist auch das meine«, sagte Lo verzückt. »Ich erfülle mein Leben mit lohnenden Taten, wie zum Beispiel... Na egal was. Es ist meine Pflicht... mich nützlich zu machen. Ich bin allen männlichen Tieren ein Freund. Ich gehorche. Ich bin wohlgemut. Das war wieder ein Polizeiwagen. Ich bin sparsam und total dreckig in Gedanken, Worten und Taten.«

»Jetzt bist du hoffentlich fertig, du witziges Kind.«

»Jawoll. Das war’s. Nein... Moment noch. Wir haben in einem Sonnenherd mit Reflektor gebacken. Ist das nicht aufregend?«

»Hört sich schon besser an.«

»Wir haben Zillionen Teller gewaschen. >Zillionen< ist ein Wort dieser Zwirnzicke und soll viele-viele-viele heißen. O ja, das Beste kommt zuletzt, wie Mutter sagt. Warte mal... Was war es doch? Ah ich weiß: Wir haben Röntgenaufnahmen gemacht. Ein toller Spaß!«

»C’est bien tout?«

»C’est. Außer einer Kleinigkeit, die ich dir einfach nicht sagen kann, ohne über und über rot zu werden.«

»Sagst du mir’s später?«

»Wenn wir im Dunkeln sitzen und ich es dir ins Ohr flüstern kann, dann ja. Schläfst du in deinem alten Zimmer oder auf einem Haufen mit Mutter?«

»Im alten Zimmer. Deine Mutter muß sich vielleicht einer sehr schweren Operation unterziehen, Lo.«

»Halte doch bitte an der Milchbar da«, sagte Lo.

Indes sie auf einem hohen Hocker saß und ein Streifen Sonne über ihren nackten braunen Unterarm fiel, wurde Lolita ein Turm aus verschiedenen Eissorten mit Kunstsirup obendrauf serviert. Errichtet und gebracht wurde der Bau von einem kräftigen, pickligen jungen Kerl mit speckiger Fliege, der mein zerbrechliches Kind im dünnen Kattunkleid mit wollüstiger Schamlosigkeit beäugte. Meine Ungeduld, Briceland und die Verzauberten Jäger zu erreichen, wuchs ins Unerträgliche. Glücklicherweise vertilgte sie das Zeug wie immer in Null Komma nichts.

»Wieviel Geld hast du bei dir?« fragte ich.

»Keinen Cent«, sagte sie traurig, zog die Augenbrauen hoch und zeigte mir das leere Innere ihres Portemonnaies.

»Das ist etwas, dem wir zu gebührender Zeit abhelfen werden«, sagte ich schwülstig. »Kommst du?«

»Glaubst du, daß es hier eine Toilette gibt?«

»Da gehst du nicht hin«, sagte ich bestimmt. »Es ist sicher ein Dreckloch. Komm jetzt.«

Sie war im großen und ganzen ein folgsames kleines Mädchen und ich küßte sie auf den Hals, als wir wieder im Wagen waren.

»Laß das«, sagte sie und sah mich mit ungeheuchelter Überraschung an. »Ich mag nicht, wenn man mich besabbert. Du Lüstling.«

Sie rieb die Stelle an ihrer hochgezogenen Schulter. »Entschuldige«, murmelte ich. »Ich habe dich einfach ziemlich gern.«

Unter einem düsteren Himmel fuhren wir eine gewundene Straße hinauf und dann wieder hinunter.

»Na, irgendwie hab ich dich auch gern«, sagte Lolita mit zögernder weicher Stimme, stieß irgendwie einen leichten Seufzer aus und rückte irgendwie näher an mich heran.

(O meine Lolita, wir werden nie ankommen!)

Das hübsche kleine Briceland mit seiner unechten Kolonialarchitektur, seinen Andenkenläden und importierten Schattenbäumen durchtränkte schon die Dämmerung, als wir auf der Suche nach den Verzauberten Jägern durch die schwach beleuchteten Straßen fuhren. Die Luft perlte vom gleichmäßigen Geniesel, war aber trotzdem warm und grün, und eine Menschenschlange - hauptsächlich Kinder und Greise - wartete bereits vor der Kasse eines Kinos, das von feurigen Edelsteinen triefte.

»Den Film will ich unbedingt sehen. Wir wollen gleich nach dem Essen hingehen. Ach, bitte!«

»Vielleicht«, stimmte Humbert zu - der schlaue, brünstige Teufel, der genau wußte, daß sie um neun, wenn seine Vorstellung anfinge, wie eine Tote in seinen Armen läge.

»Paß auf.« schrie Lo und fiel vornüber, weil vor uns ein verfluchter Lastwagen mit pulsierenden rückwärtigen Karbunkeln an einer Straßenkreuzung bremste.

Mir schwante, daß ich die Herrschaft über die Hazesche Kiste mit ihren wirkungslosen Scheibenwischern und launischen Bremsen verlieren würde, wenn wir nicht bald, sofort, durch ein Wunder im allernächsten Häuserblock schon bei dem Hotel ankämen; aber die Passanten, die ich um Auskunft anging, waren entweder selber ortsfremd, oder sie fragten stirnrunzelnd »Verzauberte was?«, als wäre ich ein Verrückter; oder aber sie verloren sich mit geometrischen Handbewegungen, allgemeinen geographischen Erörterungen und rein lokalen Anhaltspunkten in so umständliche Erklärungen (»...wenn Sie auf das Gerichtsgebäude stoßen, fahren Sie Richtung Süden...«), daß ich mich im Labyrinth ihres wohlgemeinten Kauderwelschs verirren mußte. Lo, deren entzückende, verschiedenfarbige Eingeweide das süße Zeug bereits verdaut hatten, verlangte nach einer richtigen Mahlzeit und wurde zapplig. Was mich betrifft, so hatte ich mich zwar längst daran gewöhnt, daß eine Art von subalternem Schicksal (McFatums unzulänglicher Sekretär sozusagen) kleinlich dem großzügigen, großartigen Plan des Bosses in die Quere kam, aber dennoch war dies Herumsuchen und Herumkurven in den Alleen von Briceland vielleicht die schlimmste Nervenprüfung, der ich je ausgesetzt war. Wenn ich später an die jungenhaft dickköpfige Weise zurückdachte, mit der ich mich auf diesen bestimmten Gasthof mit dem Märchennamen versteift hatte, mußte ich über meine Unerfahrenheit lachen; denn auf dem ganzen Weg verkündeten unzählige Motels in Neonlettern ihre Vakanz, bereit, Handlungsreisende, entsprungene Zuchthäusler, Impotente, ganze Sippschaften sowie die verderbtesten und leistungsfähigsten Paare zu beherbergen. O friedliche Automobilisten, die ihr durch des Sommers dunkle Nächte gleitet, welcher Ausschweifungen, welcher Lustverrenkungen würdet ihr von euren tadellosen Autostraßen aus ansichtig, wären die Kumfy Kabins plötzlich ihres Pigments beraubt und so durchsichtig wie Glaskästen!

Das Wunder, das ich so herbeisehnte, trat dann doch noch ein. Ein Mann und ein Mädchen, in einem dunklen Auto unter tropfenden Bäumen mehr oder weniger ineinander verschlungen, sagten uns, wir seien »im Herzen des Stadtparks«, brauchten aber nur bei der nächsten Verkehrsampel links abzubiegen, und schon wären wir da. Wir sahen zwar keine nächste Verkehrsampel - der Park war so schwarz wie die Sünden, die er barg -, aber bald nachdem die Reisenden in den sanften Bann einer angenehm abgeschrägten Kurve geraten waren, bemerkten sie durch den Nebel hindurch ein diamantenes Glitzern, dann den Schimmer eines Sees - und da war er, unter gespenstischen Bäumen, oben am Ende einer kiesbestreuten Auffahrt, wunderbar und unabwendbar - der bleiche Palast der Verzauberten Jäger.

Eine Reihe parkender Autos, wie Schweine am Trog, schien auf den ersten Blick die Zufahrt zu verwehren, aber dann setzte sich, im erleuchteten Regen glänzend und kirschrot, wie durch Zauber ein riesiges Cabriolet in Bewegung - von einem breitschultrigen Fahrer energisch im Rückwärtsgang herausgesteuert -, und wir schlüpften dankbar in die Lücke, die es gelassen hatte. Sogleich bedauerte ich meine Eile, denn ich bemerkte, daß mein Vorgänger sich einen nahen, garagenartigen Unterstand zunutze machte, wo es reichlich Platz für einen zweiten Wagen gab; aber ich war zu ungeduldig, seinem Beispiel zu folgen.

»Oha! Sieht ja schick aus«, bemerkte mein ordinäres Liebchen und schielte auf die Stuckfassade, als es in den hörbaren Nieselregen hinauskroch und mit kindlicher Hand eine Rockfalte herauszupfte, die sich - um Robert Browning zu zitieren - im Pfirsichspalt festgeklemmt hatte. Unter den Bogenlampen plätscherten die vergrößerten Reproduktionen von Kastanienblättern spielerisch über weiße Pfeiler. Ich schloß den Kofferraum auf. Ein buckliger, altersgrauer Neger in einem angedeuteten Livree nahm unser Gepäck und karrte es langsam in die Hotelhalle. Sie war voll von alten Damen und Geistlichen. Lolita hockte sich auf die Fersen, um einen blaßschnäuzigen, blaugesprenkelten, schwarzohrigen Spaniel zu streicheln, der auf dem geblümten Teppich unter ihrer Hand dahinschmolz - wer täte es nicht, mein Herz -, und ich räusperte mich durch das Gedränge zum Empfangsbüro vor. Höflich lächelnd unterzog dort ein kahler, schweinehafter Alter - in diesem alten Hotel war alles alt - mein Gesicht einer Prüfung, kramte dann gemächlich mein (verstümmeltes) Telegramm hervor, kämpfte mit irgendwelchen dunklen Zweifeln, wandte den Kopf zur Uhr und sagte schließlich, es tue ihm sehr leid, er habe das Zimmer mit den beiden Einzelbetten bis halb sieben zurückgehalten, und jetzt sei es vergeben. Eine kirchliche Tagung, sagte er, sei mit einer Blumenausstellung in Briceland zusammengefallen, und... »Der Name«, sagte ich kalt, »ist nicht Humberg und nicht Humburg, sondern Herbert, ich meine Humbert, und jedes Zimmer ist mir recht, Sie brauchen nur für meine kleine Tochter ein Klappbett hineinzustellen. Sie ist zehn und sehr müde.« Der rosige alte Knabe sah gutmütig zu Lo hinüber, die noch dahockte und sich im Profil mit halboffenen Lippen anhörte, was die Besitzerin des Hundes, eine uralte, in violette Schleier gewickelte Dame, ihr aus den Tiefen eines Kretonnesessels hervor erzählte. Welche Zweifel der Widerling auch haben mochte, sie wurden durch dieses blütenhafte Bild gelöscht. Er sagte, vielleicht habe er doch noch ein Zimmer, habe wirklich noch eines, allerdings mit Doppelbett. Was das Klappbett betreffe...

»Mr. Flapp, haben wir noch Klappbetten?« Flapp, auch er rosa und kahl, ein Mann, dem weißes Haar aus den Ohren und anderen Löchern wucherte, wollte sehen, was sich machen ließe. Er kam und redete, während ich meinen Füllfederhalter aufschraubte. Ungeduldiger Humbert!

»Unsere Doppelbetten sind breit genug für drei«, sagte Flapp gemütlich und bettete mich und meine Kleine gedanklich in die Heia. »Als es einmal überfüllt war, mußten wir drei Damen und ein Kind wie Ihres Zusammenlegen. Ich glaube, eine der Damen war ein verkleideter Mann [meine Einfügung]. Immerhin... ist in 49 nicht noch ein Klappbett übrig, Mr. Swine?«

»Ich glaube, die Swoons haben es bekommen«, sagte Swine, der erste alte Clown.

»Es wird schon irgendwie gehen«, sagte ich. »Meine Frau kommt vielleicht später nach... aber auch dann, denke ich, wird es gehen.« Die beiden rosa Schweine zählten jetzt zu meinen besten Freunden. In der bedachtsamen, überdeutlichen Schrift des Verbrechens schrieb ich: Dr. Edgar H. Humbert und Tochter, 342 Lawn Street, Ramsdale. Ein Schlüssel (342!) wurde mir flüchtig gezeigt (Zauberkünstler zeigt Gegenstand, den er gleich verschwinden lassen wird) und Onkel Tom ausgehändigt. Lo erhob sich vom Boden und verließ den Hund, wie sie eines Tages mich verlassen würde; ein Regentropfen fiel auf Charlottes Grab; eine hübsche junge Negerin schob die Fahrstuhltür auf, das dem Untergang geweihte Kind trat hinein, hinter ihm sein sich räuspernder Vater und Tom mit dem Gepäck, einem Krebs ähnlich, der alle Glieder von sich streckt. Parodie eines Hotelkorridors! Parodie der Stille und des Todes!

»Mensch, das ist doch unsere Hausnummer«, sagte die vergnügte Lo.

Ein Doppelbett, ein Spiegel, ein Doppelbett im Spiegel, ein Wandschrank mit Spiegel, eine Badezimmertür dito, ein blaudunkles Fenster, ein Bett, das sich darin spiegelte, im Spiegel der Wandschranktür desgleichen, zwei Stühle, ein Tisch mit Glasplatte, zwei Nachttischchen, ein Doppelbett: ein großes Bett aus poliertem Holz, um genau zu sein, mit einer rötlich braunen Chenilledecke und Nachttischlampen mit rüschenbesetzten rosa Schirmen links und rechts.

Ich war versucht, einen Fünfdollarschein in die Sepiahand zu stecken, überlegte aber, daß solche Freigebigkeit falsch ausgelegt werden könnte; tat also einen Vierteldollar hinein. Fügte einen zweiten hinzu. Er zog sich zurück. Enfin seuls.

»Schlafen wir etwa in einem Zimmer?« fragte Lo und schnitt die dynamischen Grimassen, die sie immer schnitt, wenn sie einer Frage brutale Bedeutung verleihen wollte - nicht unmutig, nicht angewidert (obwohl offenbar am Rand); dynamisch eben.

»Ich habe verlangt, daß sie ein Klappbett hereinstellen. Das ich nehmen werde, wenn du willst.«

»Du bist verrückt«, sagte Lo.

»Warum, meine Liebe?«

»Weil, mein Liiieber, wenn die liiiebe Mama es herauskriegt läßt sie sich von dir scheiden und erwürgt mich.«

Dynamisch eben. Nimmt die Sache nicht allzu ernst.

»Hör mal zu«, sagte ich und setzte mich, während sie zwei Schritt von mir entfernt stand, sich zufrieden betrachtete, von ihrer eigenen Erscheinung nicht unangenehm überrascht, und mit ihrem rosigen Sonnenschein den überraschten und erfreuten Spiegel des Wandschranks füllte.

»Paß auf, Lo. Laß uns das ein für allemal klarstellen. Im rein praktischen Sinn bin ich dein Vater. Ich bin voller Zärtlichkeit für dich. In Abwesenheit deiner Mutter bin ich für dein Wohlergehen verantwortlich. Wir sind nicht reich, und solange wir unterwegs sind, werden wir gezwungen sein... werden wir ziemlich eng miteinander zu tun haben. Zwei Menschen, die ein Zimmer teilen, geraten unweigerlich in eine Art von... wie soll ich sagen... eine Art...«

»Das Wort lautet Inzest«, sagte Lo - und ging in den Wandschrank, kam mit einem jungen, goldenen Gekicher wieder heraus, öffnete die Tür daneben, und nachdem sie mit ihren merkwürdig rauchfarbenen Augen vorsichtig hineingelinst hatte, um sich nicht ein zweites Mal zu irren, verschwand sie im Badezimmer.

Ich öffnete das Fenster, riß mir das schweißgetränkte Hemd vom Leib, zog ein frisches an, vergewisserte mich, daß die Phiole mit den Pillen in meiner Jackentasche war, und schloß den...

Sie tauchte aus dem Bad auf. Ich versuchte, sie zu umarmen: so nebenher, ein bißchen beherrschte Zärtlichkeit vor Tisch.

Sie sagte: »Hör mal, die Küsserei lassen wir jetzt und gehen lieber was essen.«

In diesem Augenblick rückte ich mit meiner Überraschung heraus.

Oh, Traum meiner Träume! Sie ging auf den offenen Koffer zu, als ob sie in einer Art Zeitlupenschritt von weitem eine Beute beschleiche, und lugte nach der fernen Schatzkiste auf dem Kofferbock. (Stimmte etwas nicht mit den großen grauen Augen meiner Lolita, fragte ich mich, oder waren wir beide in den gleichen verzauberten Nebel getaucht?) Sie trat auf den Koffer zu, hob ihre Füße mit den ziemlichen hohen Absätzen ziemlich hoch und beugte ihre schönen Knabenknie beim Durchschreiten des sich magisch weitenden Raumes mit der Langsamkeit eines Wesens, das sich unter Wasser oder in einem Levitationstraum bewegt. Dann hob sie ein kupferrotes, entzückendes und ziemlich teures Jäckchen an den Ärmeln hoch, spannte es sehr langsam zwischen ihren schweigenden Händen, als wäre sie ein verzückter Vogeljäger, der einen unglaublichen Vogel an den Spitzen seiner flammenden Schwingen spreitet und dem es bei seinem Anblick den Atem verschlägt. Dann (während ich dastand und auf sie wartete) zog sie die träge Schlange eines glänzenden Gürtels heraus und legte sie sich um.

Und dann kroch sie in meine wartenden Arme, strahlend, gelöst und streichelte mich mit ihren zärtlichen, geheimnisvollen, unkeuschen, gleichgültigen Zwielichtaugen - wie das billigste aller billigen Hürchen! Denn die machen sie nach, diese Nymphchen - während wir stöhnen und sterben.

»Was hat mein Katz gegen das Schüssen?« stammelte ich in ihr Haar (keine Gewalt mehr über die Sprache).

»Wenn du’s wissen willst«, sagte sie, »du machst es falsch.«

»Zeig mir, wie man’s richtig macht.«

»Alles zu seiner Zeit«, gab die Urheberin meiner Buchstabenvertauschungen zurück.

Seva ascendes,pulsata, brulans, kitzelans, dementissima. Elevator clatterans, pausa, clatterans, populus in corridoro. Hanc nisi mors mihi adimet nemo! Juncea puellula, jo pensavo fondissime, nobserva nihil quidquam; aber natürlich hätte ich im nächsten Augenblick eine furchtbare Dummheit begehen können; glücklicherweise ging sie zur Schatztruhe zurück.

Vom Badezimmer aus, wo ich ziemlich lange brauchte, auf ein plattes Körperbedürfnis herunterzuschalten, hörte ich, stehend, daneben treffend, den Atem anhaltend, die kindlich hingerissenen Oh’s und Ah’s meiner Lolita.

Die Seife hatte sie nur benutzt, weil es eine Gratisprobe war. »Na, komm jetzt, meine Liebe, wenn du ebenso hungrig bist wie ich.«

Also hin zum Fahrstuhl, Tochter ihr altes weißes Handtäschchen schlenkernd, Vater voran (notabene: niemals hinter ihr, sie ist keine Dame). Als wir (nunmehr Seite an Seite) darauf warteten, abwärts befördert zu werden, warf sie den Kopf zurück, gähnte aus vollem Hals und schüttelte ihre Locken.

»Wann seid ihr im Camp geweckt worden?«

»Halb...«, sie unterdrückte ein zweites Gähnen, »...sieben.« Mächtiges Gähnen, bei dem ihr ganzer Körper erzitterte. »Halb«, wiederholte sie, und ihre Kehle füllte sich von neuem. Der Speisesaal empfing uns mit dem Geruch von gebratenem Fett und einem verblichenen Lächeln. Es war ein weitläufiger und prätentiöser Raum mit affektierten Wandmalereien, die verzauberte Jäger in verschiedenen Stellungen und Stadien der Verzauberung inmitten eines Sammelsuriums uninteressanter Tiere, Dryaden und Bäume darstellten. Ein paar vereinzelte alte Damen, zwei Geistliche und ein Mann im Sportsakko beendeten gerade schweigend ihre Mahlzeit. Der Speisesaal wurde um neun geschlossen; und die grüngekleideten Serviermädchen mit den steinernen Gesichtern hatten es glücklicherweise verzweifelt eilig, uns loszuwerden.

»Sieht er nicht genau, aber ganz genau wie Quilty aus?« sagte Lo leise, und ihr spitzer brauner Ellbogen zeigte nicht direkt auf den einzelnen Esser mit den auffallenden Karos, der uns gegenüber saß, brannte aber sichtlich darauf, auf ihn zu zeigen.

»Wie unser dicker Zahnarzt in Ramsdale?«

Lo hielt den Schluck Wasser, den sie gerade trinken wollte, im Mund zurück und stellte ihr tanzendes Glas hin.

»Ach was«, sagte sie mit sprudelndem Lachen, »ich meine den Schriftsteller auf den Drom-Reklamen.«

O Fama! O Femina!

Als uns der Nachtisch hingeknallt wurde - ein mächtiges Stück Kirsch-Pie für die junge Dame und für ihren Beschützer Vanilleeis, dessen größten Teil sie umgehend ihrer Pie hinzufügte -, zog ich die Phiole mit Papas Purpurpillen aus der Tasche. Wenn ich an jene seekranken Fresken zurückdenke, an jenen seltsamen und ungeheuerlichen Augenblick, kann ich mein damaliges Verhalten nur durch den Mechanismus jenes Traumvakuums erklären, in dem ein gestörter Greis kreiselt; aber in jenem Augenblick selber kam mir alles ganz einfach und zwangsläufig vor. Ich blickte umher, stellte befriedigt fest, daß der letzte Gast gegangen war, nahm den Stöpsel ab und kippte mit äußerster Bedächtigkeit das Zaubermittel in meinen Handteller. Ich hatte vor dem Spiegel gewissenhaft die Gebärde geübt, meine leere Hand gegen den offenen Mund zu klappen und eine (vorgetäuschte) Pille zu schlucken. Wie ich erwartet hatte, stürzte sie sich auf das Fläschchen mit seinen rundlichen, farbenprächtigen Kapseln voller Dornröschenschlaf.

»Blau!« rief sie aus. »Violettblau. Woraus sind sie?«

»Aus Sommerhimmel«, sagte ich, »und aus Pflaumen und Feigen und dem Traubenblut der Kaiser.«

»Nein, im Ernst... bitte.«

»Bloß Purpillchen. Vitamin Ix. Machen einen stark wie Ochs oder Axt. Möchtest du eine?«

Lolita streckte die Hand aus und nickte eifrig.

Ich hatte gehofft, daß das Mittel schnell wirken würde. Es wirkte blitzartig. Sie hatte einen langen, langen Tag hinter sich, war am Morgen mit Barbara rudern gegangen, deren Schwester die Wassersportgruppe leitete, wie das anbetungswürdige, griffbereite Nymphchen mir jetzt zwischen unterdrückten, den Gaumen aufbuckelnden, immer lauteren Gähnanfällen erzählte - oh, wie schnell der Zaubertrank wirkte! -, und war auch noch sonst aktiv gewesen. Das Kino, das ihr vage im Sinn gelegen hatte, war natürlich vergessen, als wir wassertretend den Speisesaal verließen. Im Fahrstuhl neben mir stehend, lehnte sie sich matt lächelnd an mich - soll ich dir nicht doch erzählen? - und senkte die dunklen Augenlider. »Müde, hm?« sagte Onkel Tom, der den stillen franko-irischen Herrn und seine Tochter zusammen mit zwei verwelkten Rosenexpertinnen nach oben fuhr. Alle sahen sie wohlgefällig mein zartes, sonnengebräuntes, taumelndes, betäubtes Rosenliebchen an. Fast mußte ich sie in unser Zimmer tragen. Dort setzte sie sich auf den Bettrand, schwankte ein wenig, sprach in langgezogenen, gurrenden Taubentönen. »Wenn ich dir’s erzähle... wenn ich dir’s erzähle... versprichst du mir« (schläfrig, so schläfrig - Köpfchen pendelt, Äuglein fallen zu), »versprichst du mir, daß du dich nicht beschwerst?«

»Später, Lo. Leg dich jetzt hin. Ich lasse dich hier, und du legst dich hin. Ich gebe dir zehn Minuten.«

»Ach, ich hab ekelhafte Sachen gemacht«, fuhr sie fort, warf ihr Haar zurück, zog mit langsamen Fingern eine Samtschleife auf. »Ich will’s dir erzählen...«

»Morgen, Lo. Leg dich hin, leg dich hin... um Himmels willen, leg dich jetzt hin.«

Ich steckte den Schlüssel in die Tasche und ging hinunter.

Meine Damen Geschworene! Haben Sie Geduld mit mir! Gestatten Sie mir, ein winziges bißchen Ihrer kostbaren Zeit zu stehlen! Dies also war er, le grand moment. Als ich meine Lolita verließ, saß sie immer noch auf dem Rand des abgründigen Bettes, hob benommen den Fuß, zerrte an den Schnürsenkeln und ließ dabei die Innenseite ihres Schenkels bis zum Dreieck des Höschens sehen - was Beinezeigen angeht, war sie immer merkwürdig unachtsam oder schamlos oder beides gewesen. Dies war das geheime Bild von ihr, das ich eingeschlossen hatte - nicht ohne mich zu vergewissern, daß die Tür keinen Innenriegel hatte. Der Schlüssel mit seinem Anhängsel aus geschnitztem Holz war fortan das gewichtige Sesam-öffne-dich zu einer wonnevollen, unerhörten Zukunft. Er war mein, Teil meiner heißen, behaarten Faust. In ein paar Minuten - sagen wir zwanzig, sagen wir eine halbe Stunde - »sicher ist sicher«, wie mein Onkel Gustave zu sagen pflegte - würde er mich in »342« einlassen, wo ich mein Nymphchen, meine Schöne in bräutlicher Pracht, gefangen in ihrem gläsernen Schlaf vorfände. Geschworene! Wäre meiner Glückseligkeit Sprache gegeben gewesen, so hätte sie das gutbürgerliche Hotel mit einem ohrenbetäubenden Gebrüll erfüllt. Und heute bedauere ich nur, daß ich Schlüssel »342« nicht schweigend am Büro hinterlegt und die Stadt, das Land, den Kontinent, die Hemisphäre - ja, den Globus - noch in der gleichen Nacht verlassen habe.

Lassen Sie es mich erklären. Ihre selbstanklägerischen Andeutungen beunruhigten mich nicht übermäßig. Ich hatte noch immer die feste Absicht, bei meinem Entschluß zu bleiben und ihre Reinheit zu respektieren, indem ich nur in der Verschwiegenheit der Nacht und an einer völlig anästhesierten kleinen Nackten operierte. »Selbstbeherrschung und Ehrfurcht« war noch immer meine Devise - sogar wenn diese (im übrigen von der modernen Wissenschaft gründlich ihres Nimbus entkleidete) »Reinheit« durch irgendein jugendlich erotisches Erlebnis, zweifellos lesbischer Art, in ihrem verdammten Camp ein wenig gelitten haben sollte. Als ich sie kennenlernte, hatte ich, Jean-Jacques Humbert, es aufgrund meiner altmodischen europäischen Vorstellungen natürlich erst einmal für selbstverständlich gehalten, daß sie so unberührt sei, wie es seit dem beklagenswerten Ende der vorchristlichen antiken Welt mit ihren hochinteressanten Bräuchen dem Stereotyp des »normalen Kindes« entsprach. In unserem aufgeklärten Zeitalter sind wir nicht mehr von kleinen Sklavenblumen umgeben, die nebenher, zwischen Termin und Therme, gepflückt werden können, wie es in den Tagen der Römer an der Tagesordnung war; und anders als würdevolle Orientalen in noch üppigeren Zeiten liebkosen wir zwischen Hammel und Rosensorbet keine dienstbaren Kinder von vorn und von hinten. Es ist doch so, daß neue Sitten und neue Gesetze die alte Verbindung zwischen der Erwachsenen- und der Kinderwelt vollständig zerrissen haben. Obwohl ich mich, wenn auch nur auf amateurhafte Art, eine Zeitlang mit Psychiatrie und Sozialpädagogik befaßt hatte, wußte ich von Kindern so gut wie nichts. Schließlich war Lolita erst zwölf, und welche Zugeständnisse ich auch an den Ort und die Zeit machte - selbst wenn ich das zügellose Benehmen amerikanischer Schulkinder in Rechnung stellte -, blieb ich doch dem Eindruck verhaftet, daß das, was sich unter diesen ungestümen Gören abspielen mochte, einem späteren Alter und einer anderen Umwelt Vorbehalten war. Indem er an konventionellen Begriffen von dem festhielt, was ein zwölfjähriges Mädchen zu sein hätte, verfehlte daher der Moralist in mir den springenden Punkt (um den Faden dieser Erklärung wieder aufzunehmen). Der Kindertherapeut in mir (ein Scharlatan wie die meisten - aber egal) käute neofreudianisches Gesums wieder und erfand eine träumende und exaltierte Dolly in der »Latenz«-Periode ihres Mädchentums. Schließlich hätte der Sensualist in mir (ein großes und wahnsinniges Monstrum) nichts gegen eine gewisse Verderbtheit seiner Beute gehabt. Aber irgendwo hinter der rasenden Seligkeit berieten sich bestürzte Schatten - und daß ich sie nicht beachtet habe, das ist es, was ich jetzt bedauere. Menschen, hört mich an! Ich hätte wissen müssen, daß Lolita bereits bewiesen hatte, wie sehr sie sich von der unschuldigen Annabel unterschied und wie sehr das nymphisch Böse, das aus jeder Pore dieses von mir für meinen geheimen Genuß präparierten Koboldkindes atmete, die Geheimhaltung unmöglich und den Genuß tödlich machen würde. Ich hätte wissen müssen (durch Zeichen, die mir etwas in Lolita hatte zukommen lassen - das wirkliche Kind Lolita oder ein sorgenvoller Engel hinter seinem Rücken), daß aus der erwarteten Seligkeit nichts als Schmerz und Grauen entstehen würden. O geflügelte Herren Geschworene!

Und sie war mein, sie war mein, der Schlüssel war in meiner Faust, meine Faust war in meiner Tasche, Lolita war mein. Im Laufe all der Beschwörungen und Berechnungen, denen ich so viele Schlaflosigkeiten gewidmet hatte, hatte ich allmählich all die überflüssigen Trübungen beseitigt, eine durchsichtige Farbschicht über die andere gelegt und so ein endgültiges Bild erhalten. Bis auf eine Socke und ein Talismanarmband nackt auf dem Bett ausgebreitet, wo mein Zaubertrank sie zu Fall gebracht hatte - so sah ich sie liegen; sie hielt noch ein Samthaarband zwischen den Fingern; ihr honigbrauner Körper, auf dessen Teint sich das weiße Negativ eines kurzen Badetrikots abzeichnete, wies mir seine blassen Brustknospen; im rosigen Lampenlicht glänzte ein kleines Schamvlies auf seinem rundlichen Hügel. Der kalte Schlüssel mit seinem warmen Holzanhänger war in meiner Tasche.

Ich schlenderte durch verschiedene Gesellschaftsräume, innerlich strahlend, äußerlich düster: Denn Wollust sieht immer düster drein; Wollust ist nie ganz sicher - selbst wenn man das samthäutige Opfer im Verlies eingeschlossen hat -, daß nicht doch ein nebenbuhlerischer Teufel oder ein einflußmächtiger Gott darauf aus ist, den bevorstehenden Triumph im letzten Augenblick zu vereiteln. In schlichten Worten: Ich mußte etwas trinken; aber an dieser ehrwürdigen Stätte voller schwitzender Philister und Stilmöbel gab es keine Bar.

Ich geriet in die Herrentoilette. Ein Mann in klerikalem Schwarz - ein aufgeknöpfter Typ, comme on dit -, der mit Wiener Hilfe untersuchte, ob noch alles da war, wandte sich dortselbst mit der Frage an mich, wie ich Doktor Knabes Vortrag gefunden habe, und machte ein befremdetes Gesicht, als ich (König Sigmund der Zweite) sagte, Knabe sei ein toller Knabe. Woraufhin ich das Papierhandtuch, mit dem ich meine empfindsamen Fingerspitzen abgetrocknet hatte, geschickt in das dafür vorgesehene Behältnis warf und lobbywärts aufbrach. Mit lässig aufgestütztem Ellbogen lehnte ich mich über den Empfangstisch und fragte Mr. Flapp, ob er sicher sei, daß meine Frau nicht durchgeläutet habe und wie es mit dem Klappbett stehe. Er antwortete, sie habe nicht angerufen (sie war ja auch tot), und das Klappbett würde morgen aufgestellt, sollten wir uns denn zum Bleiben entschließen. Aus einem großen, überfüllten Raum, über dessen Tür »Jägersaal« stand, quoll der Klang von vielen Stimmen, die über Gartenbau oder die Ewigkeit diskutierten. Ein anderer Raum, »Himbeerstube« geheißen, der in hellem Licht erstrahlte und in dem glitzernde kleine Tische und ein langer mit »Erfrischungen« standen, war noch leer, abgesehen von einer Gastgeberin (vom Typ erschöpfte Frau mit glasigem Lächeln und Charlottes Sprechweise); sie driftete mit der Frage auf mich zu, ob ich Mr. Braddock sei, weil nämlich in diesem Falle Miss Bart nach mir gesucht habe. »Welch ein Name für eine Frau«, sagte ich und spazierte weiter.

In meinem Herzen flutete mein Regenbogenblut ein und aus. Ich würde ihr bis um halb zehn Zeit geben. Als ich in die Halle zurückkam, war eine Veränderung eingetreten: Eine Anzahl Leute in geblümten Kleidern oder schwarzem Tuch bildeten hier und da kleine Gruppen, und ein elfischer Zufall schenkte mir den Anblick eines entzückenden Kindes in Lolitas Alter, in Lolitas Kittelkleid, jedoch in reinem Weiß und mit einer weißen Schleife im schwarzen Haar. Sie war nicht hübsch, aber sie war ein Nymphchen, und ihre elfenbeinblassen Beine und der Lilienhals bildeten einen unvergeßlichen Augenblick lang eine ungemein wohltuende Antiphonie (wenn sich ein das Rückgrat entlanglaufendes Gefühl mit einem musikalischen Begriff ausdrücken läßt) zu meinem Verlangen nach Lolita, der braunen, rosigen, erhitzten und verderbten. Das bleiche Kind bemerkte meinen Blick (der wirklich ganz flüchtig und charmant war), und da sie lächerlich schüchtern war, wurde sie schrecklich verlegen, rollte mit den Augen, legte den Handrücken an die Wange, zupfte an ihrem Rocksaum und kehrte mir schließlich, scheinbar um mit ihrer Mutterkuh zu plaudern, die dünnen beweglichen Schulterblätter zu.

Ich verließ die laute Halle, stand draußen auf den weißen Stufen und schaute den Hunderten von bemehlten Insekten zu, die in der feuchten Schwärze der nicht geheuren, unruhigen Nacht um die Lampen kreisten. Alles, was ich zu tun beabsichtigte, alles, was ich zu tun wagte, wäre eine bloße Kleinigkeit... Plötzlich bemerkte ich, daß in der Dunkelheit neben mir jemand auf einem Sessel zwischen den Säulen der Veranda saß. Ich konnte ihn nicht richtig sehen, aber das knirschende Aufschrauben eines Flachmanns, ein diskreter Schlucklaut und als Schlußnote dann ein gemächliches Zuschrauben verrieten ihn. Ich war im Begriff wegzugehen, als seine Stimme mich ansprach. »Donnerwetter, wo hast du die denn her?«

»Wie bitte?«

»Ich sagte: Mit dem Sommerwetter ist es diesmal nicht weit her.«

»Allerdings.«

»Wer ist die Kleine?«

»Meine Tochter.«

»Das machst du mir nicht weis.«

»Wie bitte?«

»Ich sagte: Aber abends ziemlich heiß. Wo ist die Mutter?«

»Tot.«

»Aha. Traurig. Übrigens, wie wär’s, wenn Sie beide morgen mit mir zu Mittag essen? Diese grausliche Horde ist dann weg.«

»Wir auch. Gute Nacht.«

»Schade. Bin wohl ziemlich blau. Gute Nacht. Ihr Kindchen braucht eine Menge Schlaf. Schlaf ist eine Rose, wie die Perser sagen. Zigarette?«

»Nicht jetzt.«

Er zündete ein Streichholz an, doch weil er oder der Wind betrunken war, beleuchtete die Flamme nicht ihn, sondern jemand anderen, einen sehr alten Mann, einen dieser Dauergäste alter Hotels - und seinen weißen Schaukelstuhl. Niemand sagte etwas, und die Dunkelheit strömte dahin zurück, wo sie gewesen war. Dann hörte ich den Greis husten und etwas Grabesschleim von sich geben.

Ich verließ die Terrasse. Alles in allem war mindestens eine halbe Stunde vergangen. Ich hätte ihn um einen Schluck bitten sollen. Die Anspannung machte sich bemerkbar. Wenn eine Violinsaite schmerzen kann, dann war ich eine. Es wäre indessen ungehörig gewesen, Eile an den Tag zu legen. Während ich mir den Weg durch eine Konstellation von Fixmenschen in einer Ecke der Halle bahnte, blitzte es plötzlich grell auf - und der breit lächelnde Dr. Braddock, zwei orchideengeschmückte Matronen, das kleine Mädchen in Weiß und vermutlich die gefletschten Zähne des sich seitlich zwischen der bräutlichen Kleinen und dem verzauberten Kleriker hindurchzwängenden Humbert Humbert waren verewigt- soweit bei Kleinstadtzeitungen in puncto Papierbeschaffenheit und Druck von Ewigkeit die Rede sein kann. Eine zwitschernde Gruppe umlagerte den Fahrstuhl. Ich zog wieder die Treppe vor. 342 lag dicht bei der Feuerleiter. Noch könnte man... Aber da steckte der Schlüssel schon im Schloß, und dann war ich im Zimmer.

Die Tür des erleuchteten Badezimmers stand halb offen; dazu kam von den Bogenlampen draußen ein skeletthaft gerippter Lichtschimmer durch die Jalousien; überkreuz drangen diese Strahlen in das Dunkel des Schlafzimmers und ließen folgende Situation erkennen.

In einem ihrer alten Nachthemden lag meine Lolita in der Mitte des Bettes auf der Seite, den Rücken mir zugekehrt. Ihr leicht verhüllter Körper und die nackten Glieder bildeten ein Z. Sie hatte beide Kissen unter ihren dunklen, zerzausten Kopf gesteckt; ein blasser Lichtstreif fiel über ihren obersten Halswirbel.

Mit jener phantastischen Plötzlichkeit, die einem suggeriert wird, wenn in einer Filmszene die Prozedur des Aus- und Anziehens geschnitten ist, muß ich meine Sachen von mir geworfen haben und in den Pyjama geschlüpft sein; und ich hatte bereits mein Knie auf dem Bettrand, als Lolita den Kopf wandte und mich durch die gestreiften Schatten anstarrte.

Das war nun allerdings etwas, das der Eindringling nicht erwartet hatte. Das ganze Pillchenspielchen (eine ziemlich schmutzige Sache, entre nous soit dit) hatte auf einen so festen Schlaf abgezielt, daß ein ganzes Regiment ihn nicht hätte stören können, und da lag sie nun, richtete den Blick auf mich und nannte mich mit schwerer Zunge »Barbara«. In meinem Schlafanzug, der ihr viel zu eng war, erstarrte Barbara über der kleinen Somniloquentin. Weich, mit einem hoffnungslosen Seufzer, drehte sich Dolly wieder in ihre ursprüngliche Lage zurück. Ich wartete mindestens zwei Minuten gespannt am Rand des Abgrunds, wie vor vierzig Jahren jener Schneider mit dem selbstgemachten Fallschirm, als er im Begriff stand, vom Eiffelturm zu springen. Ihr sanfter Atem hatte den Rhythmus des Schlafs. Endlich wuchtete ich mich auf meine schmale Bettkante, zog verstohlen an den diversen Bettuchenden, die südlich von meinen eiskalten Fersen aufgehäuft waren - da hob Lolita den Kopf und starrte mich an.

Wie ich von einem hilfsbereiten Pharmazeuten später erfuhr, gehörten die Purpurpillen nicht einmal zu der großen und edlen Familie der Barbiturate, und obschon sie einem Neurotiker, der sie für ein wirksames Mittel hielt, Schlaf hätten bringen können, waren sie doch ein zu schwaches Beruhigungsmittel, um ein alertes, wenn auch übermüdetes Nymphchen für längere Zeit auszuschalten. Ob der Arzt in Ramsdale ein Scharlatan war oder ein durchtriebener alter Gauner, fällt und fiel nicht ins Gewicht. Ins Gewicht fiel lediglich, daß ich betrogen worden war. Als Lolita zum zweiten Mal die Augen öffnete, wurde mir klar, daß selbst dann, wenn die Wirkung später in der Nacht doch noch eintreten sollte, die Sicherheit, auf die ich gebaut hatte, eine trügerische war. Langsam wandte sich ihr Kopf weg und sank auf ihre unfair üppige Kissenportion zurück. Ich lag ganz still am Rand meines Abgrunds, spähte nach ihrem verwuschelten Haar, nach dem Schimmer von Nymphchennacktheit, wo undeutlich ein halber Schenkel und eine halbe Schulter zu erkennen waren, und versuchte, aus ihrer Atemrate die Tiefe ihres Schlafes abzuschätzen. Einige Zeit verging, nichts änderte sich, und ich beschloß, das Risiko auf mich zu nehmen und diesem lockenden, verrücktmachenden Schimmer etwas näher zu rücken; kaum aber war ich in seinen warmen Umkreis vorgedrungen, da stockte ihr Atem, und ich hatte das abscheuliche Gefühl, daß die kleine Dolores hellwach sei und losschriee, wenn ich sie mit irgendeinem Teil meines armseligen, jammervollen Körpers berührte. Bitte, Leser: Wie sehr Sie auch über den zartfühlenden, krankhaft empfindsamen, unendlich vorsichtigen Helden meines Buches außer sich sein mögen, überschlagen Sie diese wesentlichen Seiten nicht! Stellen Sie sich mich vor; sonst existiere ich nicht. Versuchen Sie, in mir den Damhirsch zu erkennen, der im Wald seines eigenen Frevels zittert; lächeln wir sogar ein wenig. Ein Lächeln kann schließlich nicht schaden. Beispielsweise hatte ich nichts, worauf ich meinen Kopf betten konnte, und ein Anfall von Sodbrennen (sie nennen ihre Fritten »französisch«, grand Dieu!) kam zu meinem Unbehagen noch hinzu.

Es schlief wieder fest, mein Nymphchen, und doch wagte ich nicht, mich auf meine verzauberte Reise zu begeben. La Petite Dormeuse ou l’Amant Ridicule. Morgen würde ich sie mit jenen früheren Pillen vollstopfen, die ihre Mami so gründlich betäubt hatten. Im Handschuhfach - oder in der zweiteiligen Reisetasche? Sollte ich eine gute Stunde warten und dann wieder herankriechen? Nympholepsie ist eine exakte Wissenschaft. Die direkte Berührung würde es in knapp einer Sekunde schaffen. Ein Zwischenraum von einem Millimeter in zehn. Warten wir ab.

Nichts ist lauter als ein amerikanisches Hotel; und dabei, bitte schön, sollte dieses hier eine besonders ruhige, behagliche, altmodische, gemütliche Herberge sein - »stilvolles Wohnen« etcetera. Das Gerassel des Fahrstuhlgitters - knappe zwanzig Meter nordöstlich von meinem Kopf, aber so deutlich vernommen, als wäre es in meiner linken Schläfe - wechselte mit dem Bummern und Rattern der verschiedenen Manöver dieser Maschine und hielt bis lange nach Mitternacht an. Direkt im Osten meines linken Ohrs (ich lag ja auf dem Rücken und wagte nicht, meine gemeinere Seite dem undeutlich sichtbaren Gesäß meiner Bettgenossin zuzuwenden) war der Korridor randvoll von fröhlichen, schallenden, albernen Rufen, die mit einem Hagel von Gute-Nacht-Wünschen endeten. Als das endlich aufhörte, meldete sich nördlich von meinem Kleinhirn eine Toilette; es war eine männliche, energische, rauhkehlige Toilette, und sie wurde oft benutzt. Ihr Gegurgel und Geräusche und der langanhaltende Nachfluß ließen die Wand hinter mir erzittern. Dann war jemandem in südlicher Richtung speiübel, er würgte mit dem Alkohol fast seine ganze Seele aus, und sein Wasserschwall kam dicht hinter unserm Badezimmer wie ein regelrechter Niagara heruntergestürzt. Und als die Verzauberten Jäger endlichen in tiefem Schlaf lagen, artete der Boulevard unter dem Fenster meiner Schlaflosigkeit, westlich meiner Rückseite - ein gesetzter, ganz und gar dem Wohnen vorbehaltener, würdevoller Boulevard mit riesigen Bäumen - zum verächtlichen Tummelplatz riesiger Lastwagen aus, die durch die nasse und windige Nacht röhrten.

Und knapp fünfzehn Zentimeter von mir und meinem brennenden Leben befand sich, nebelhaft, Lolita! Nach einer langen, regungslosen Wache bewegten sich meine Tentakel wieder auf sie zu, und diesmal weckte das Knarren der Matratze sie nicht. Es gelang mir, ihr mein gieriges Fleisch so nahe zu bringen, daß ich die Aura ihrer nackten Schulter wie einen warmen Atem an meiner Wange spürte. Und dann setzte sie sich auf, rang nach Luft, murmelte mit irrsinniger Geschwindigkeit etwas von Booten, zerrte an den Laken und fiel in ihre blühende, dunkle, junge Unbewußtheit zurück. Als sie sich in diesem überquellenden Schlafstrom hin und her warf, schlug ihr Arm - eben noch kastanienbraun, jetzt mondblaß - über mein Gesicht. Einen Augenblick lang hielt ich sie. Sie befreite sich aus meiner kaum merklichen Umarmung - unbewußt, ohne Heftigkeit, ohne persönlichen Widerwillen, sondern mit dem neutralen, klagenden Gemurmel eines Kindes, das seine legitime Ruhe will. Und wieder war die Lage die gleiche: Lolita, ihr gekrümmtes Rückgrat Humbert zugewandt, Humbert, den Kopf auf die Hand gestützt, brennend vor Verlangen und Magensäure.

Letztere erforderte einen Gang ins Badezimmer, um dort einige Schluck Wasser zu trinken, in meinem Fall das beste mir bekannte Mittel, außer vielleicht Milch mit Radieschen; und als ich den seltsamen, strahlengegitterten Kerker wieder betrat, wo Lolitas alte und neue Kleidungsstücke in verschiedenen Posen der Verzauberung über den Möbeln hingen, die vage zu schweben schienen, setzte sich meine unmögliche Tochter auf und verlangte mit klarer Stimme ebenfalls etwas zu trinken. Sie nahm den nachgiebigen, kalten Pappbecher in ihre schattenhafte Hand und goß seinen Inhalt dankbar hinunter, die langen Wimpern becherwärts geneigt; und mit einer kindlichen Bewegung, die reizender war als jede sinnliche Liebkosung, wischte die kleine Lolita ihre Lippen an meiner Schulter ab. Sie fiel auf ihr Kissen zurück (ich hatte ihr meines weggezogen, während sie trank) und schlief sofort wieder ein.

Ich hatte nicht gewagt, ihr eine zweite Portion des Schlafmittels zu verabreichen, und die Hoffnung nicht aufgegeben, daß die erste ihren Schlaf doch noch festigen würde. Auf jederlei Enttäuschung gefaßt, wohl wissend, daß Warten besser wäre, aber unfähig zu warten, begann ich wieder, mich ihr zu nähern. Mein

Kopfkissen roch nach ihrem Haar. Ich rückte auf meine schimmernde Liebste zu und hielt in ne oder zog mich zurück, sooft ich meinte, daß sie sich rege oder im Begriff sei, sich zu regen. Ein leichter Wind aus Wunderland wirkte auf meine Gedanken, so daß sie wie in Kursivschrift abgefaßt waren, als wäre die Oberfläche, die sie spiegelte, vom Trugbild dieser Brise gekräuselt. Hin und wieder schlug mein Bewußtsein falsch um, geriet mein sich schwerfällig voranarbeitender Körper in die Schlafsphäre, arbeitete sich wieder heraus, und ein- oder zweimal ertappte ich mich beim Abrutschen in ein melancholisches Schnarchen. Nebel der Zärtlichkeit umfingen Berge der Sehnsucht. Ab und zu wollte es mir scheinen, als komme die verzauberte Beute dem verzauberten Jäger auf halbem Wege entgegen, als bahne sich ihr Gesäß unter dem weichen Sand des fernen und märchenhaften Strandes seinen Weg auf mich zu; und dann regte sich das Trübchen mit den Grübchen, und ich wußte, sie war mir entrückter denn je.

Wenn ich so ausgiebig bei dem Zittern und Tasten jener fernen Nacht verweile, so weil ich unbedingt beweisen will, daß ich kein brutaler Schurke bin, noch es je war, noch es jemals hätte sein können. Die milden und träumerischen Regionen, durch die ich kroch, waren die Gefilde der Poesie - nicht die Jagdgründe des Verbrechens. Hätte ich mein Ziel erreicht, so wäre meine Ekstase ganz sanft gewesen, ein Fall innerer Verbrennung, dessen Hitze sie selbst dann kaum gespürt hätte, wenn sie hell wach gewesen wäre. Aber ich hoffte immer noch, daß sie nach und nach in eine völlige Betäubung sänke, die es mir erlauben würde, nicht nur einen Schimmer von ihr zu genießen. Und so, zwischen versuchsweisen Annäherungen und verwirrten Wahrnehmungen, die sie entweder in Augenflecken aus Mondschein oder in ein flauschig blühendes Gebüsch verwandelten, träumte ich, ich wäre wieder wach, träumte, ich läge auf der Lauer.

In den Stunden vor dem Morgengrauen trat Stille in der ruhelosen Hotelnacht ein. Etwa um vier dann rauschte die Kaskade der Korridortoilette, und ihre Tür knallte zu. Kurz nach fünf trat in mehreren Folgen ein hallender Monolog ein, der von einem Hof oder einem Parkplatz herkam. In Wahrheit war es kein Monolog, denn der Sprecher schwieg alle paar Sekunden, vermutlich, um einen anderen Kerl anzuhören, aber die zweite Stimme erreichte mich nicht, und so ergab das, was an mein Ohr drang, keinen richtigen Sinn. Der sachliche Tonfall jedoch tat ein übriges, der Dämmerung den Weg freizumachen, und das Zimmer lag bereits in lilagrauem Zwielicht, als etliche eifrige Toiletten sich eine nach der anderen an die Arbeit machten, und klappernd und wimmernd begann der Fahrstuhl auf- und niederzusteigen, um Frühaufsteher und Frühniederfahrer nach unten zu befördern, und ein paar Minuten lang döste ich elendiglich vor mich hin, und Charlotte war eine Nixe in einem grünlichen Aquarium, und draußen auf dem Korridor sagte Dr. Knabe mit frischgepreßter Stimme: »Ich wünsche einen schönen guten Morgen«, und Vögel waren in den Bäumen zugange, und dann gähnte Lolita.

Frigide Damen Geschworene! Ich hatte gedacht, es würden Monate, vielleicht Jahre vergehen, ehe ich den Mut aufbrächte, mich Dolores Haze zu entdecken; doch um sechs war sie hellwach, und um Viertel nach sechs waren wir im Wortsinn ein Liebespaar. Ich werde Ihnen etwas sehr Sonderbares verraten. Es war sie, die mich verführte.

Als ich ihr erstes Morgengähnen hörte, spielte ich den Schlafenden, der ihr sein gutaussehendes Profil zuwandte. Ich wußte einfach nicht, was ich tun sollte. Wäre sie schockiert, mich an ihrer Seite vorzufinden und nicht in einem Extrabett? Nähme sie ihre Sachen und schlösse sich im Badezimmer ein? Würde sie verlangen, sofort nach Ramsdale gebracht zu werden? Ans Krankenbett ihrer Mutter? Zurück ins Camp? Aber meine Lo war ein mutwilliges Mädchen. Ich fühlte ihre Augen auf mir, und als sie endlich den geliebten Gluckslaut ausstieß, wußte ich, daß ihre Augen gelacht hatten. Sie rollte sich zu mir herüber, und ihr warmes braunes Haar berührte mein Schlüsselbein. Mittelmäßig mimte ich Erwachen. Wir lagen still da. Ich streichelte sanft ihr Haar, und wir küßten uns sanft. Ihrem Kuß war zu meiner ekstatischen Verlegenheit eine recht komische flatternde und forschende Kunstfertigkeit zu eigen, aus der ich entnahm, daß sie in sehr jungen Jahren von einer kleinen Lesbierin in die Lehre genommen worden war. Kein Charlie hätte ihr das beibringen können. Als wollte sie sehen, ob ich zufrieden sei und meine Lektion gelernt hätte, bog sie sich zurück und musterte mich. Ihre Wangen waren gerötet, ihre volle Unterlippe glänzte, und ich war nah am Verströmen. Plötzlich legte sie in einem Ausbruch rüpelhafter Lustigkeit (Kennzeichen des Nymphchens!) den Mund an mein Ohr - aber eine ganze Weile konnte mein Verstand den heißen Donner ihres Geflüsters nicht in Worte gliedern, und sie lachte, strich sich das Haar aus dem Gesicht und versuchte es wieder, und als mir klar wurde, was sie vorschlug, überkam mich allmählich das seltsame Gefühl, in einer absolut neuen, verrückt neuen Traumwelt zu leben, in der alles erlaubt ist. Ich sagte, ich wisse nicht, welches Spiel sie und Charlie gespielt hätten. »Willst du etwa behaupten, du hast nie...?« Ihr Gesicht verzog sich zu einer Grimasse angewiderter Ungläubigkeit. »Du hast nie...«, begann sie von neuem. Um Zeit zu gewinnen, beschnüffelte ich sie ein bißchen. »Laß das gefälligst«, winselte sie näselnd und entzog ihre braune Schulter hastig meinen Lippen. (Es war sehr merkwürdig, wie sie - und das noch lange Zeit hindurch - alle Liebkosungen außer Küssen auf den Mund und dem schlichten Liebesakt - für »romantischen Quatsch« oder »anomal« hielt.)

»Du behauptest«, beharrte sie und kniete sich über mich, »du hast es als Junge nie gemacht?«

»Nie«, antwortete ich ganz wahrheitsgetreu.

»Na gut«, sagte Lolita, »dann fangen wir mal an.«

Indessen werde ich meine gebildeten Leser nicht mit einem ausführlichen Bericht über Lolitas Dünkel langweilen. Es genügt zu sagen, daß ich in diesem schönen, eben erst reifenden jungen Mädchen, das von der modernen Koedukation, den jugendlichen Sitten, dem Lagerfeuerschwindel und so fort total und unrettbar verdorben worden war, keine Spur von Schamhaftigkeit entdeckte. Sie betrachtete den schlichten Akt als festen Bestandteil der heimlichen Jugendwelt, von der Erwachsene nichts wissen. Was die Erwachsenen zum Zweck der Zeugung trieben, war nicht ihre Sache. Das Szepter meines Lebens wurde von Lolitalein auf so energische, sachliche Weise gehandhabt, als sei es ein fühlloser Mechanismus ohne Beziehung zu mir. So bemüht sie auch war, mir mit den Umgangsformen abgebrühter Jugendlicher zu imponieren, so war sie doch auf gewisse Unterschiede zwischen den Maßen eines Knaben und meinen nicht gefaßt. Nur Stolz hinderte sie, es aufzugeben; denn in meiner sonderbar heiklen Lage spielte ich den absolut Dummen und ließ sie gewähren - wenigstens solange ich es noch aushalten konnte. Das jedoch sind Belanglosigkeiten; was man so »Sex« nennt, ist überhaupt nicht mein Thema. Jene Elemente des Animalischen kann jeder sich vorstellen. Mich lockt eine größere Aufgabe: ein für allemal den verderblichen Zauber des Nymphchens festzuhalten.