Catherine Texier
Johnny im Glück (wenn du es wagst)
Johnnys Wohnung ist eine dunkle Dachmansarde mit einer Matratze auf einem Podest in einer Ecke und einem Gewirr von Laken, das auf den Fußboden quillt, einem Kamin, unbeholfen in die Mauer gehauen und einer Tonanlage, die den verbleibenden Raum ausfüllt. Die Drähte laufen über den Fußboden, bilden dicke Knäuel an den Steckdosen, und Hunderte von Tonbändern und Plattenalben kämpfen darum, nicht aus den Regalen zu fallen.
Nachts knipsen sie die elektrischen Birnen aus, zünden Kerzen an und lauschen dem Sound von New York. Verzerrte Schatten strecken sich auf den unverputzten Wänden.
Wir sind die Letzten, sagt Johnny, die letzte Generation. Wir hausen in Löchern wie die Ratten. Hinter ein paar Steinen, die von der Straße geholt wurden.
Du hast Glück, sagte Eva. Du kannst aus New York wegziehen. Und wohin?
Sie zeigt aus dem Fenster, Richtung Westen.
Nach Jersey.
Niemals.
Ach, erzähl mir doch nichts.
Ich sage dir: niemals.
Die Nächte bei Johnny sind dunkelrot, nicht wie am Times Square, wo sie rot sind. Die Winternächte sind verkrustet und still, ein eisiger Nebel wird gegen die Fensterscheiben gepreßt. Die Handflächen bleiben am Glas kleben, auf den Mustern des Frosts. Die Nächte sind scharf wie Kristall.
Sie liegen in Pullovern und Socken auf der Matratze und beobachten, wie die letzte Glut erlischt.
Eines Tages wird das Haus in Flammen aufgehen, sagt Eva. So, wie die Lower East Side abbrannte, Harlem abbrannte, die South Bronx abbrannte.
Johnny drehte sich zur Seite, um sich eine Zigarette anzuzünden. Die Streichholzflamme erhellt seine Augen und zeichnet tiefe Furchen in seine Wangen.
Nein, wir sind vorsichtig, sagt er und wirft das Streichholz quer durch das Zimmer in die Glut.
Sie versteckt sich in Johnnys Wohnung. Niemand auf der Welt kann sie hier erreichen. Du bist so weit weg von New York wie nur irgend möglich und trotzdem mitten in der Stadt. Wie im Niemandsland. Ein Nomadenland. Aber Johnny ist ein Nomade, der Manhattan nicht verläßt. Er ist ein Herumtreiber mit Wurzeln, ein Typ, der sich im Fernsehen ansieht, wie die Yankees die Red Sox schlagen. Er hat einen Joint in der Hand und eine Dose Bud zu seinen Füßen, liegt an zwei Kissen gelehnt, zwischen wirren Drähten und dreckigen Klamotten, genauso, wie er es bei seiner Mom in Jersey machen würde, während um ihn herum der stumme Kampf der Stadt tobt.
Eva kommt. Sie trägt eine braune Papiertüte, steigt über die Drähte der Tonanlage, kickt einen Haufen mit Klamotten aus dem Weg, schiebt auf dem Tisch ein paar schmutzige Becher und herumliegende Zeitschriften beiseite und stellt die Einkaufstüte neben der Kaffeemaschine ab, die ständig in Betrieb ist.
Johnny sitzt da, hat den Kopf in die Hände gestützt, starrt auf den Bildschirm mit den Baseballspielern. Winzige Figuren in Weiß und Blau bewegen sich auf einer großen grünen Fläche. Er bewegt sich nicht, hebt nicht den Kopf. Sein Körper ist verkrampft, in sich versunken wie in hypnotischer Trance, vielleicht haben ein paar Joints dabei geholfen, ein süßlich-beißender Geruch wird vom Ventilator herumgewirbelt. Er badet seinen Blues in dem milchigen Licht des Fernsehers, zu seinen Füßen eine Flasche Whisky.
Du machst mich verrückt, hör auf, so herumzugehen, sagt er und reagiert damit endlich auf ihre Anwesenheit. Wie du deinen Arsch bewegst.
Willst du ihn?
Wen?
Meinen Arsch.
Nein. Das ist es ja. Ich will ihn nicht. Du streckst ihn mir ins Gesicht. Ärgerst mich.
Gar nicht. Das ist meine Art, mich zu bewegen. Du hast schmutzige Gedanken.
Warum bist du nach New York gekommen? hat Johnny mich einmal gefragt, als ich ihm erzählte, daß ich nicht hier geboren bin, daß ich aus Frankreich komme. Man hört es manchmal am Ende eines Satzes, an dem sanfteren Umgang mit den Konsonanten statt des Schnalzens oder Knallens der geborenen Amerikaner bei t, d, m, etc. Nicht am r, an meinem r kann man es nicht erkennen, das ist selten, ich weiß. Denn das r verrät die französische Zunge. Vielleicht hat Johnny deshalb nicht schon früher gefragt. Das Schicksal hat mich hierher verschlagen, antwortete ich. Ich war dreizehn, vierzehn, ich hatte knospende Brüste und trug Bermudas im ersten Sommer. Ich kann mich an meine Brüste erinnern, sie waren so hoch oben. Fast unter den Schultern. Er fragte, ob sie sehr schnell groß geworden sind. So groß sind sie gar nicht, sagte ich. Ich meine voll, sagte er. Er mag ihre Fülle, wenn sie über seinem Mund hängen. Er möchte sie runterschlucken, möchte sich vollstopfen. Ich sagte nein, daß sie winzig waren, mit harten kleinen Brustwarzen. Er lachte. Wir sprachen nicht mehr über meine französische Herkunft. Was gibt es dazu auch noch zu sagen? Es ist Vergangenheit. Es ist wie ein Geheimnis, das tief in mir vergraben ist. Wie eine unsichtbare Schicht unter meiner amerikanischen Existenz. Eines Tages wird es nur noch ein Fossil sein. Die Muster meines früheren Selbst werden sich in meinem amerikanischen Erscheinungsbild aufgelöst haben.
Johnny trinkt einen Schluck Bourbon und deutet auf die Tüte auf dem Tisch. Was ist da für Zeug drin? Hast du Eis mitgebracht?
Und Kekse, sage ich.
Gibt es einen Anlaß?
Ich arbeite heute abend nicht. Ich dachte, wir könnten hier etwas essen und... Ich habe Sachen mitgebracht, die dir schmecken. Eine Mango.
Er streckt sich auf dem Bett aus, hat die Beine weit geöffnet, die Arme über dem Kopf.
Ich kniee zwischen seinen Beinen, öffne seinen Ledergürtel, spüre die Schnalle unter meinen Handflächen. Manchmal frage ich mich, ob ich die amerikanischen Männer nur wegen ihrer Jeans liebe, wie sie darin aussehen. Eine Fetischistin.
Es waren also gar nicht meine schmutzigen Gedanken, sagt er, hebt die Hüften, damit ich ihm die Hosen ausziehen kann, er behält nur das T-Shirt an. Er ist rötlich-rosa, groß. Er riecht nach Pisse und Schweiß, erinnert mich an eine heiße feuchte Höhle. Sein Haar ist klebrig und struppig, wie nasses Gras am Ufer eines Sees. Ich stecke mein Gesicht hinein. Ich möchte mich in seinem Fleisch vergraben. In seinem primitiven, rohen Fleisch. Es ist wie damals, als Mimi aus mir herauskam, das Blut klebte auf meinem Busch, sie war mit Blut bedeckt, ihre Haut streifig blau wie Mondstein, die Farbe der Felsen, der Reptilien, Gerüche der Erde, Verwesung, der Beginn neuen Lebens. Ich beiße vorsichtig in seine Eier. Ich nehme eins ganz in den Mund. Er stöhnt. Ich will, daß er stöhnt. Ich will, daß er sich in meinem Mund verliert. Ich will, daß sich sein Körper unter meinen Händen windet, daß er süchtig wird nach dieser Berührung, danach verlangt wie nach Wasser, wie nach frischer süßer Sahne. Ich will, daß er unter mir vergeht. Ich will, daß er sich in ein Band aus Seide verwandelt. Ich stoße meinen längsten Finger, den Mittelfinger, in sein Loch und bewege ihn leicht. Ich warte, bis er zuckt und wimmert. Dann ziehe ich ihn raus. Ich will, daß er sich danach sehnt, ich will, daß er vor Sehnsucht schreit. Er rollt sich auf den Bauch und streckt mir seinen Arsch ins Gesicht. Ich lege meine Hände darauf. Er paßt schnucklig in die Handfläche der einen und in die gebogenen Finger der anderen Hand. Er paßt sich an, egal wo und wie ich ihn anfasse. Er würde in meinen Ellenbogen passen, meine Kniekehlen, meine Kehle, meine Achselhöhlen. Wie ich mich auch biege und ihn umschlinge. Ich halte seine Zehen in der Hand, seine Zunge ist in meinem Mund, ich rolle seinen Schwanz zwischen meinen Fußsohlen. Er seufzt. Dann nimmt er mich in die Hände, ergreift mir fest zwischen die Beine. Ich schwelle in seinen Händen. Ich werde zu einer Kurve, einer Sinuskurve. Wir gleiten umeinander. Wir werden zu Schlangen. Ich tanzte auf der Spitze seiner Zunge. Damit hat er mich gefangen, und er weiß es. Er läßt mich tanzen, bis ich zusammenbreche.
Ehe ich komme, sehe ich ihm in die Augen, und ich kann die Abgründe sehen. Ich sehe seine nackten Augen. Sie sind hell, fast durchsichtig. Als habe grelles Licht ihre Farbe ausgeblichen, oder vielleicht sind sie zu Spiegeln geworden, und was ich sehe, ist meine eigene Begierde.
Wenn ich bei Johnny bin, verschwimmen die Tage. Tag und Nacht sind eins. Wir waschen uns nicht, wir essen auf der Matratze, wir starren auf das Feuer in dem primitiven Kamin. Die Vorhänge bleiben zugezogen. Unser einziger Zeuge, unser Spiegel, ist der Fernseher, den wir ohne Ton laufen lassen, damit wir nachmittags keine Spiele verpassen. Aus den Augenwinkeln sehen wir die Bilder, sie flackern wie unsere eigenen Schatten. Manchmal ist es, als machten sie sich hinter unserem Rücken über uns lustig. Ich hasse diesen ständig flackernden Bildschirm. Ich habe deswegen einen Kampf geführt, habe aber nur beim Ton gewonnen. Johnny hat bei den Bildern gewonnen. Er sagt, er könne vielleicht ohne den Ton auskommen, brauche aber die niedrige Frequenz des Fernsehtons, den unsere Ohren wahrnehmen, auch wenn wir ihn nicht bewußt »hören«. Ich habe Angst vor der Strahlung des Fernsehers. Manchmal vermeide ich es demonstrativ, vor dem Fernseher vorbeizugehen. Ich gehe hintenherum, oder ich meide überhaupt diese Ecke des Zimmers. Manchmal sieht er aus wie der Körper eines kranken Insekts, das sich kaum noch regen kann. Warum eines Insekts, frage ich mich. Ich kann mir nicht vorstellen, daß er aufsteht und weggeht, aber er sieht auch nicht wie eine Katze aus oder wie ein kleiner Bär. Er ist fremder und bedrohlicher mit seinem Flackern. Sein riesiges einziges Auge starrt uns an und spiegelt Bilder wie eine Iris in der Sonne.
Wenn ich zwei, drei Tage hintereinander Pause habe zwischen meinen Gigs, dann gehe ich zu Johnny, und die Zeit steht still. Und wenn ich wieder auf die Straße trete, stürzen Licht und Lärm auf mich ein, als käme ich aus der Unterwelt. Selbst das diesige Sonnenlicht brennt in den Augen.
Auf dem Weg nach Hause gehe ich bei Albertine vorbei, ich habe Angst, so stark zu riechen, daß Mimi fragt, was das ist. Aber sie wendet sich vom Küchentisch mir zu und gibt mir eine Zeichnung. Es ist eine Prinzessin mit einer üppigen Frisur, viel Haar und Ornamente mit Federn und Blumen und ein ausladender Hut, der vage an das Mittelalter erinnert und wie eine dreizackige Krone auf einer höchst kippligen Konstruktion sitzt. Langes braunes Haar fällt ihr bis zu den Ellenbogen, und ein weiter Rock bauscht sich bis zu den Füßen. Das Besondere an der Zeichnung ¡st, daß die Prinzessin sich eine Schlange um den Hals gelegt hat, die ihr über die Brust bis zum Rock reicht. Ich weiß, daß es eine Schlange ist, weil ich gefragt habe, und Mimi sagte, das ist natürlich eine Schlange. Mom, das sieht man doch, und das stimmt. Ich frage mich nur, woher diese Idee kommt, ich hoffe, daß sie das Bild irgendwo abgemalt hat oder daß sie einfach Bilder von Schlangen gesehen hat, vielleicht einen Dokumentarfilm über Schlangen; denn sonst wäre es ziemlich beunruhigend, darüber nachzudenken, warum Mimis Prinzessin eine Schlange als Symbol trägt. Es ist ihre Lieblingsschlange, erklärt Mimi, eine Boa, sie nimmt sie überallhin mit. Sie schläft sogar bei ihr. Nein! Doch, Mom, wirklich. Jetzt kichert Mimi wie verrückt. Würdest du mit einer Schlange schlafen? Ich? O nein, wie eklig! Ich hätte viel zuviel Angst. Und deine Prinzessin hat keine Angst? Sie kommt zu mir, kommt mit dem Mund ganz nah an mein Ohr und haucht mehr, als daß sie flüstert: Mommy, sie wird sich in einen Prinzen verwandeln. Ich dachte eigentlich, daß sich Frösche in Prinzen verwandeln, sage ich. Mommy! sagt Mimi. Doch nicht bei meiner Prinzessin. Sie haßt Frösche.
Sie hat also nicht gemerkt, wie ich rieche. Aber manchmal merkt sie es, und ich sage dann: Das ist der Geruch der Liebe. Das klingt so abgedroschen, daß ich es sofort wieder zurücknehmen möchte. Aber sie schluckt es, genauso wie die Tatsache, daß ich drei, vier Tage lang verschwinde. Aber wenn sie mich in den Bauch boxt oder versucht, mich zu erwürgen, dann denke ich, daß sie alles weiß, daß sie es zwar schluckt, aber nicht hinunterschluckt, daß es sich aufstaut. Jetzt aber atme ich auf, daß das Leben während meiner Abwesenheit nicht auseinandergefallen ist, und ich sehe mir sogar die Nachrichten an, während ich etwas Eintopf mit Rindfleisch esse, der übriggeblieben ist, und ich sehe mir an, wie sich Aids weiter ausbreitet, genau wie das Wettrüsten, und ich frage mich, was von beiden uns zuerst umbringen wird.