Oscar Hijuelos

Am Abend der Tanzveranstaltung dachte Delores daran, was ihre Schwester Ana Maria ihr gesagt hatte: »Liebe ist der Sonnenschein der Seele, Wasser für die Blumen des Herzens, und der süß duftende Wind am Morgen des Lebens« - Gefühle, die aus den schmalzigen Boleros im Radio stammten, aber vielleicht stimmten sie ja, egal wie grausam und dumm Männer sein konnten. Vielleicht gibt es einen Mann, der anders ist und gut zu mir. Und so zog Delores ein rotes Kleid mit Plisseetaille und geschlitztem Rock an, dunkle Nylons und schwarze Stöckelschuhe eine Kette aus falschen Perlen, toupierte sich das Haar auf wie Claudette Colbert, tupfte sich ein wenig Chanel No. 5 hinters Ohr und zwischen die Brüste und träufelte ein paar Tropfen auf den talkumgepuderten Zwickel ihres Höschens, so daß die Frau, die in den Tanzsaal hereinkam, nur mehr entfernte Ähnlichkeit mit der Putzfrau hatte, die Nestor an der Bushaltestelle kennengelernt hatte.

Was Delores und Ana Maria außen auf den Messingtüren des Lokals angeschlagen sahen, war:

!!! GROSSER WETTBEWERB!!!

IM IMPERIAL BALLROOM

Gesucht werden die

besten und

ausgefallensten Paare mit Glatze!

Erster Preis 50 Dollar! & Eine Kiste Champagner & eine Auswahl ihrer Lieblingsschallplatten

!!!!!! Und vieles mehr!!!!!!

Es spielen

die fabelhaften MAMBO KINGS!!

Eintritt: 1.06Dollar. Einlaß: 21 Uhr.

Nachdem sie Mäntel und Hüte an der Garderobe abgegeben hatten, bahnten sich Delores und Ana Maria, von frechen Fingern in den Hintern gekniffen, ihren Weg durch die Menge von Leuten mit oder ohne Glatze, die sich im Imperial Palace eingefunden hatten. Delorita war nun in der Welt des Liebeswerbens, von der sie geglaubt hatte, sie bedeutete ihr nichts. Die Nacht zuvor aber hatte sie von dem Musiker geträumt, den sie an der Bushaltestelle kennengelernt hatte. Sie lag nackt in einem Bett, drückte sich an ihn, und sie küßten und küßten sich; so eng drückten sie sich aneinander, daß ihr Haar ihn umschlang wie ein zusammengerolltes Tau, und die Haut brannte ihnen, und gleichzeitig hatte sie das Gefühl, daß alle Poren ihres Körpers sich öffneten und daß aus jeder Pore warmer, süßer Saft troff wie Honig. Ihr Traum verbreiterte sich zu einem Trichter von Gefühlen, durch den ihr Körper schwebte wie eine Wolke; sie erwachte mitten in der Nacht und stellte sich vor, wie die langen feinfühligen Finger des Musikers die feuchteste Öffnung ihres Körpers berührten. Als sie sich auf die Bühne zubewegte, um Nestor ihrer Schwester zu zeigen, wurde sie rot, weil sie an den Traum denken mußte.

Die Mambo Kings standen auf der Bühne und sahen ziemlich genauso aus wie auf den Photos aus jener Zeit, in weißen Seidenanzügen und in zwei Reihen aufgestellt, der elegante Miguel Montoya saß an einem Konzertflügel, ein Perkussionist stand an einer Batterie von Congas, Bongos und timbales, ein Schlagzeuger an einem amerikanischen Schlagzeug, dann Manny mit seinem Kontrabaß, dann der Posaunist und zwei der Bläser. Davor der Saxophonist und der Flötist, ihre beiden Geiger, und dann die Brüder selbst, Seite an Seite vor dem Mikrophon stehend. Der Scheinwerfer war auf den gutaussehenden Cesar Castillo gerichtet, und Ana Maria, der er gefiel, fragte zunächst: »Ist er das?«

»Nein, der Schüchterne da an der Seite.«

Und da war er und wartete auf das Dacapo einer Habanera, und auf ein Nicken von Cesar trat er dann ans Mikrophon, legte den Kopf in den Nacken und begann sein Solo zu spielen. Wie sein älterer Bruder, der nach hinten in den Schatten getreten war, hatte er einen weißen Seidenanzug an, ein flamingorosa Hemd und eine himmelblaue Krawatte. Er spielte das Solo zu »Solitude«, das sein Bruder komponiert hatte.

»Ist er nicht schön?« fragte Delores.

Und dann, als die Melodie wiederkehrte und Cesar die letzte Strophe sang, stellte sie sich direkt vor der Bühne auf, wo der Trompeter stand, und lächelte ihn an. Er war mit steinernem Gesicht in Konzentration versunken gewesen, aber als er sie sah, leuchtete sein Gesicht auf. Dann gingen sie zu einer schnellen Nummer über, einem Mambo. Mit einem verstohlenen Lächeln auf dem Gesicht nickte Cesar dem Perkussionisten zu, der die Hände gehoben hatte wie ein Boxer, und der fing, bop, hop, bop, auf einer quinto-Trommel an, dann kam das Klavier dazu, mit einem improvisierten südamerikanischen Einstieg im Wechsel mit dem Baß. Ein weiteres Nicken von Cesar und die anderen setzten ein, und Cesar begann vor dem großen kreisenden Mikrophon zu tanzen, seine weißen Lederschuhe mit den goldenen Schnallen zuckten ein- und auswärts wie ausschlagende Kompaßnadeln. Und Nestor, der bei den Bläsern stand, blies vor lauter Freude darüber, Delores zu sehen, so heftig in seine Trompete, daß sein Gesicht rot wurde und sein nachdenklicher Kopf zu platzen schien. Und die vielen Leute auf der Tanzfläche wackelten und hüpften, und die anderen Musiker hatten ihren Spaß an Nestors Solo und schüttelten die Köpfe, und er spielte glücklich und wollte nur eines, Eindruck auf Delores machen.

Dann kam wieder eine langsame Nummer, ein Bolero.

Nestor flüsterte Cesar etwas zu, und der sagte an: »Diese kleine Nummer ist eine Eigenkomposition mit dem Titel >Twilight in Havana< und mein Bruder hier möchte sie einem hübschen Mädchen namens Delores widmen.«

Den Kopf zurückgelegt, stand er neben dem Mikrophon, im Gegenlicht der Scheinwerfer warf er einen Schatten auf die Tanzfläche hinunter, der an der Innenseite ihrer wohlgeformten Schenkel hochzugleiten, auf der feuchten Stelle dazwischen zu verweilen und daran zu züngeln schien.

Delorita und ihre Schwester Ana Maria tanzten die ganze Nacht hindurch mit einem Mann nach dem anderen. Ana Maria tat es mit dem größten Genuß, und Delorita mit einer süßen Wehmut, das Kinn auf der Schulter ihres Tanzpartners, den Blick auf die Bühne gerichtet und den Lichtkegel auf dem Mikrophon und die zerquälte, seelenvolle Gestalt von Nestor Castillo. Und obwohl sie mit jedem der gutaussehenden Männer, die an dem Abend da waren, etwas hätte machen können, wartete Delores auf Nestor. Als er von der Bühne kam, als die Band Pause machte und das andere Orchester spielte, wirkte er glücklich und wie verzaubert, seine Düsterkeit schien, nach beinahe zwei Jahren des Leidens um die schöne Maria, besiegt durch die Aussicht auf eine neue Liebe. Er widmete sich Delores, als ob es nichts auf der Welt gäbe, das er nicht für sie tun würde. Er holte ihr und ihrer Schwester Drinks von der Bar, wischte ihr mit seinem nach Flieder duftenden Taschentuch eine Schweißperle von der Stirn, und als sie sagte: »Ich tanze ja gern, nur nachher tun mir immer die Füße so weh«, bot er an, ihre warmen, nylonüberzogenen Sohlen zu massieren.

Als sie fragte: »Warum bist du so nett zu mir?«, gab er zur Antwort: »Weil ich fühle, Delores, daß das hier mein Schicksal ist.«

Er blieb an ihrer Seite, als ob er sie schon immer gekannt hätte, und wenn er anscheinend grundlos den Kopf schwermütig hängen ließ, streichelte sie ihm zärtlich den Nacken und dachte: »Mein armer Papi war genauso«, und weil sie seinen Schmerz zu verstehen schien und er merkte, daß er für sie keine Witze reißen und keine romantischen Märchen erzählen mußte, um sie einzufangen, wie es sein Bruder mit den Frauen machte, hatte er das Gefühl, daß es eine starke Bindung zwischen ihnen gab. Wie ein verirrter Vogel aus einem Bolero fühlte er, wie ihm die zarte Flamme der Liebe die Flügel versengte.

Als die Musiker wieder auf die Bühne gingen, gesellte sich der stämmige, schnurrbärtige Conférencier für diesen Abend zu ihnen, der einen schwarzen Smoking mit einer breiten, roten Schärpe trug wie ein ausländischer Diplomat. Er stellte sich ans Mikrophon und sagte die Hauptattraktion des Abends an:

»Und nun, meine Damen und Herren, ist der Moment da, auf den Sie alle gewartet haben: Unser Wettbewerb der besten Tänzer mit Glatze. Unsere Preisrichter heute abend sind keine geringeren als der vielgerühmte Rumbatänzer Paolito Pérez und seine Frau Conchita.« Und beide verbeugten sich von der Bühne herunter. »Dazu der einmalige Mr. Dance persönlich, >Killer< Joe Piro, und schließlich, das Stimmwunder des Mambo-Kings-Orchesters, der immer fabelhafte Cesar Castillo. Bevor wir beginnen, möchte ich Sie noch daran erinnern, daß diese Veranstaltung von der Organisation der Söhne Italiens sowie der Rheingold-Brauerei auf der Nostrand Avenue gemeinsam unterstützt wird. Maestro, Sie können beginnen.«

Als der Wettbewerb angekündigt worden war, hauptsächlich durch Flugzettel und Plakate und ein paar Spots im Radio, hatte es einen Ansturm auf die Friseure in Downtown-Brooklyn, in der Bronx und in Harlem gegeben. Eine gewaltige Menschenmenge hatte sich eingefunden, darunter mehrere hundert Paare, die sich die Haare ratzekahl abrasiert hatten; violette und grüne Eierköpfe, Glatzköpfe in weißen Smokings und Abendkleidern, Glatzköpfe in riesigen Babywindeln (bei der Dame waren die Windeln züchtig im Nacken überkreuzt und festgesteckt), Herr und Frau Mond, Glatzköpfe als Orangen, Glatzköpfe als Marsmenschen, Glatzköpfe als Wasserstoffbomben, Glatzköpfe, die als Küken gingen, und wer weiß was noch. Es gab Clowns und Harlekins und Paare in wallenden Gewändern mit aufgenähten Bommeln, Paare mit Federn und Glöckchen; die kostümierten Wettbewerbsteilnehmer mußten nicht nur verrückt aussehen, sondern auch ihre Virtuosität und Leichtfüßigkeit beim Tanzen unter Beweis stellen, ihre Könnerschaft in der Kunst des Mambo, Rumba, Tango und Cha-cha-cha.

Im Kreis der beschwipsten Zuschauer stehend, drückte Delores die Daumen für ein Paar, das das hübscheste Duo von Kahlköpfen abgab. Die Frau sah aus wie die Königin Nofretete und trug glitzernde Halsketten und Armbänder, die allesamt Licht in die Welt hinausstrahlten, und ein rotes Kleid mit Ärmeln wie Schmetterlingsflügel, es war nach oben zu in Spiralen gelegt wie das Dach einer Pagode. Ihr Partner hatte einen Kragen aus Straußenfedern und trug große goldene Ohrringe und überweite purpurfarbene Seidenhosen und sah aus wie der Geist aus der Flasche; aber das Auffälligste an ihnen war, wie verliebt sie wirkten, sie lächelten sich an und küßten sich bei jeder Drehung, jeder Beuge, jedem Wiegeschritt.

Die beiden gewannen nicht, obwohl sie gute Tänzer waren. Sieger wurde ein anderes Paar: Der Mann hatte einen Wecker auf seiner Glatze festgebunden und die Kopfhaut mit Zahlen vollgeschrieben. Er hatte Karottenhosen in Übergröße an, dazu rosa Schuhe mit Spikes vorne drauf und ein lavendelfarbenes Hemd und Jackett. Seine Partnerin trug ein enges trägerloses Kleid, mit dem sie sich in die Herzen der Männer im Publikum wabbelte. Der krönende Augenblick kam bei einer wirbelnden Pirouette, bei der sich durch die Fliehkräfte das Oberteil ihres

Kleides löste und zwei füllige Brüste freigelegt wurden, groß, bebend, nackt und bloß wie ihr Kopf.

Später gingen Delores und Ana Maria auf die Damentoilette, die voll war von Frauen mit und ohne Glatze, die sich mit allem gebotenem Ernst daranmachten, ihren Lidstrich, das Mascara und den Lippenstift aufzufrischen. Sie setzte sich vor den Spiegel, um sich auch frisch zu machen, und sah mit Genuß dem Kommen und Gehen dieser jungen, hübschen Frauen zu, die darauf aus waren, junge Männer kennenzulernen und Spaß zu haben.

Wenn die Tür aufging, drang ein Schwall lauter südamerikanischer Bigbandmusik in den Raum, in den Kloboxen machten die Damen Pipi, überall schwer der Duft von Chanel No. 5, von Sen-Sen, Kaugummis, die in Mündern schnalzten. Kubanische und puertorikanische und irische und italienische Mädchen in einer Reihe vor den Schminkspiegeln, Mascara und Rouge auflegend und sich die Lippen nachziehend. Frauen, die sich die Röcke richten und die Strumpfhalter geradeziehen, dicke mondweiße und honigfarbene Schenkel im gleißenden Licht.

Und Stimmen:

»Ich sage dir, Schätzchen, ein paar von den Männern da, wauu! Der Junge geht ran wie der Teufel, grad erst hab ich ihn kennengelernt, und schon klopft er mit seiner Latte bei mir an.«

»Findest du, daß ich gut aussehe, ich meine, wie, glaubst du, würd’s ihm gefallen, wenn ich mir das Haar so hochstecke?«

»Und er will, daß ich mit ihm nach San Juan komme, in ein Hotel da unten... Er zahlt und macht alles.«

»Und dann geht der Mistkerl mit mir spazieren. Ich hab ‘nen kleinen Schwips und möcht mit ihm ein bißchen draußen auf dem Parkplatz im Auto sitzen. Alles, was ich will, ist dasitzen und ein bißchen frische Luft schnappen, und auf einmal macht er sich über mich her, als hätt’ er noch nie ‘ne Frau gehabt. Ich kenn den Kerl gar nicht wirklich, weiß nur, er ist verheiratet, und ich schwör, unglücklich verheiratet, so wie der mich abgegrabscht hat... Wir raufen so eine Weile rum, dagegen hab ich ja noch nichts, aber ins Bett geh ich um keinen Preis mit einem Mann, wenn da nicht wirklich was läuft zwischen ihm und mir, du weißt, was ich meine? Und was macht er? Holt sein Ding aus der Hose und sagt: >Oh bitte, Süße, warum gibst du ihm nicht einen kleinen Kuß?< und >Oh, bitte<, zwinkert mit den Augen und führt sich auf, als hätt’ er die wildesten Schmerzen. Ich hab ihm gesagt, verpiß dich, und ihn im Auto sitzenlassen mit seinem Ding in der Hand, und dann, obwohl ich im Recht bin, ist er zwanzig Minuten später schon wieder auf der Tanzfläche und tanzt Cha-cha-cha mit ‘ner andern, und so, wie die ihn ansah, wett ich, daß sie sein Ding im Mund gehabt hat. Und ich kann allein in die Bronx fahren, den ganzen langen Weg mit der Linie 2 zur Allerton Avenue... «

»Jedenfalls, der Typ ist über eins neunzig und muß an die hundert Kilo haben, arbeitet bei der Stadt, verstehste, und... er hat ein Ding so groß wie mein kleiner Finger, was für ein Beschiß!«

»Man kann so schön sein, wie man will, es gibt immer noch ‘ne schönere.«

»Für ‘nen Ehering würd ich damit aufhören.«

»Ach, du meine Güte! Hat irgendwer ein Extrapaar Strümpfe dabei?«

»... Qué guapo der Sänger ist, was? Mit dem würd ich jederzeit ausgehen.«

»Nun, ich war schon mit ihm aus.«

»Und?«

»Das Herz würd er dir brechen.«

»Sein Bruder ist auch nicht übel.«

»Du sagst es.«

Sie erinnerte sich, daß sie wieder in den Tanzsaal zurückging, vorbei an den Schuhputzern, der dichten Reihe Männer, die wie verrückt ihre Zigaretten rauchten und versuchten, an einem offenen Fenster ein wenig frische Luft zu schnappen. Pärchen, die in Telefonzellen und Korridoren schmusten und fummelten, von weit weg kam die Musik wie durch einen langen, langen Tunnel: der Zupfbaß, das Schlagzeug, das Rasseln der Becken, das Hämmern der Congas und timbales dräuend wie eine Gewitterwolke, aus der nur hin und wieder eine Trompetenphrase oder ein Klavier-Crescendo emporstieg... Es war schon komisch im Leben: Sie dachte gerade an Nestor Castillo und bewegte sich durch die Menge auf die Bar zu, als sie spürte, wie eine Hand sie sachte am Ellbogen faßte. Und es war Nestor, wie wenn sie ihn hergewünscht hätte. Er ging mit ihr an die Bar, trank ein Glas Whisky und sagte: »Wir müssen noch eine Runde spielen, und danach gehen wir aus, so um drei herum, etwas essen. Warum kommst du nicht mit...? Du kannst meinen Bruder und ein paar von den andern Musikern kennenlernen.«

»Kann ich meine Schwester mitbringen?«

»Cómo no. Wir treffen uns draußen.«

Das große Finale des Abends war der Conga. Der fabelhafte Cesar Castillo kam heraus, eine Congatrommel à la Desi Arnaz über die Schulter gehängt, schlug diese Trommel und führte die Mambo Kings in einen Eins-zwei-drei-eins-zwei-Rhythmus, in dem sie sich dann in einer schlängeligen Conga-Reihe über die Tanzfläche bewegten, hüftstoßend, trippelnd, vorwärtsstolpernd, auseinanderstrebend, beinschlenkernd, hüftschwenkend, lachend und ausgelassen...

Schließlich fuhren sie in Mannys 1947er Oldsmobile uptown, trafen sich dort mit einigen von den anderen Mambo Kings und besetzten ein paar lange Tische im hinteren Teil eines kleinen Eßlokals namens Violeta’s, das der Besitzer nur so lange offenhielt, damit die Musiker, die nach ihren Auftritten ausgehungert Waren, noch zu einem guten Essen kamen. Auf der hinteren Wand war ein tropisches Gemälde in den flammenden Farben eines endlosen kubanischen Sonnenuntergangs, der sich über die Festung El Morro am Hafen von Havanna ergoß. Die Wände über der Bar waren mit signierten Photographien der südamerikanischen Musiker bedeckt, die dort regelmäßig aßen. Alle, vom Flötisten Alberto Socarras bis zum Kaiser des Mambo höchstselbst, Pérez Prado.

In dieser Nacht kamen, während die Mambo Kings und ihre Begleiter dinierten, die bekannten Bandleader Tito Rodríguez vom Tito-Rodriguez-Orchester und Tito Puente, der eine Band namens Picadilly Boys leitete, hereinspaziert, und obwohl Cesar die Stirn runzelte und zu Nestor sagte: »Da kommt der Feind!« begrüßten die Brüder sie, als wären sie lebenslange Kumpel. »Oyeme, hombres! Qué tal?«

Wenn sie die beiden Brüder nebeneinander beobachtete, konnte Delores sich gut vorstellen, wie die beiden waren. Sie waren wie ihre Unterschriften auf der gerahmten Photographie der Mambo Kings an der Wand über der Bar. Ein Photo, auf dem sie in weißen Seidenanzügen auf einem muschelförmigen Art-déco-Podium posierten, neben sich ihre Instrumente. Das Photo war mit den Unterschriften der Musiker bedeckt, die schwungvollste stammte vom älteren Bruder Cesar Castillo, den Delores auf den ersten Blick nicht besonders mochte. Seine Unterschrift verriet die pure Eitelkeit. Voller Schnörkel und Schleifen, so daß seine Buchstaben aussahen wie die windgebauschten Segel eines Schiffes. (Wenn sie ihn nur hätte sehen können, wie er in der La Salle Street am Küchentisch saß, vor sich einen Block, einen Bleistift und eine Schönschreibfibel, und stundenlang seine Unterschrift übte.) Und so war er auch, dachte Delores, lauter heiße Luft und leere Gesten. Er hatte einen schiefen, verschlagenen Zug von Erfahrung um den Mund, dem Delores nicht traute. Platzend vor Energie nach dem abendlichen Auftritt, war der ältere Mambo King ständig in Bewegung, alberte mit seinen Mitspielern herum, redete nur von sich und davon, wie herrlich es sei, auf der Bühne zu stehen, flirtete mit den Serviererinnen und taxierte Delores und Ana Maria auf diese gierige Art. Ihre Schwester anzusehen, die ja ohne Freund hier auftauchte, war eine Sache, aber die neue Gefährtin des eigenen Bruders! Qué cochino! dachte sie. Rüde und eingebildet. Nestors Unterschrift war einfacher und mit mehr Sorgfalt hingesetzt, fast wie die Handschrift eines aufgeregten Kindes, als hätte er lange dazu gebraucht, seine schlichten, bescheidenen Buchstaben richtig hinzukriegen. Er neigte dazu, still dazusitzen, zu lächeln, wenn Witze gemacht wurden, ernsthaft zu nicken, wenn er bestellte oder die Speisekarte durchsah. Und er bemühte sich, mit jedermann gut auszukommen. Er war höflich zur Kellnerin und zu seinen Musikerkollegen. Erwirkte beinahe ängstlich, wegen seiner Tischmanieren getadelt zu werden, während sein älterer Bruder quer über den Tisch zur Platte mit den tostones langte und alles hungrig runterschlang, mit geschlossenem Mund gurgelnd lachte, und nicht nur einmal unfein rülpste, mitten in einem Lachanfall, der ihm die Pupillen weitete und ihm Tränen in die Augen trieb. Ein Mann, der nur an sich selber dachte und sich immer mehr nahm, als ihm zustand: fünf Schweinskoteletts, zwei Teller Reis und Bohnen, ein Teller yuca, alles getränkt in Salz und Zitronensaft und Knoblauch. Eine Bandleader-Portion, das war sicher. Kein Wunder, daß der Sänger mit dem betörenden Aussehen eines hübschen Jungen schon einen Bauch und Hängebacken bekam! Und obendrein beschloß er, nachdem er sich den Bauch vollgeschlagen hatte, jedermann sonst am Tisch zu ignorieren und die ganze Zeit mit Ana Maria zu flirten und Süßholz zu raspeln. Dios mió, diese wölfische Gefräßigkeit an ihm war so typisch... Nestor war zurückhaltender, was ihr gut gefiel. Und er war sehr aufmerksam, schob ihr den Stuhl hin, hielt ihr die Tür auf und vergewisserte sich, daß sie alles hatte, was sie wollte. Möchtest du ein paar plátanos? Etwas vom Hühnchen? Schweinskoteletts? Behandelte sie, als wäre sie genauso wichtig wie jeder von den Musikern... Sie mochte ihn und fand, er sei ein kultivierter Mann, eine poetische Seele, die Songs der Liebe schrieb. Sie war nervös, aber damals und dort beschloß sie, ihn mit ihr machen zu lassen, was er wollte. Da war etwas, das sie ungeheuer anziehend fand an seiner Förmlichkeit, seiner Zurückhaltung, seinem Schmerz.

Später setzte Cesar Manny an der 135sten Straße ab, wo er wohnte, lieh sich von ihm den Wagen und brachte die beiden Schwestern nach Hause in die Bronx, eine gefahrvolle Fahrt, während der sich die Mädchen vor Angst an ihren Sitzen festkrallten, weil er ständig den Bordstein streifte, besonders auf dem West Side Highway Richtung uptown: von den Radkappen sprühten Funken, als er an den anderen Fahrzeugen vorbeibrauste, hupte und fuhr wie ein Betrunkener, obwohl er gar nicht betrunken war. Aber er brachte sie doch heil nach Hause und wartete im Wagen, während Nestor Delores und Ana Maria zu ihrer Wohnung begleitete. Delorita sollte sich später erinnern, daß sie sich wünschte, er würde ihr wenigstens einen netten langen Kuß geben, mit ein wenig Zunge dabei, aber er schien derart zurückhaltend und höflich, daß sie in dieser Nacht zu Bett ging und sich fragte: »Stimmt etwas nicht mit mir?« Und sie fragte sich auch, ob nicht sie es hätte sein sollen, die ihn an sich zog und ihre Zunge in seinen Mund gleiten ließ.

Sie fingen an, miteinander auszugehen. Sie trafen sich an den Abenden, an denen die Mambo Kings nicht spielten, gingen chinesisch essen und fuhren dann downtown, um ins Kino zu gehen, zu Freunden oder zum Tanzen. Delorita sprach immer über die Bücher, die sie las, und den reichen Mann, bei dem sie arbeitete -»Er ist nett, aber er ist so reich, daß er unglücklich ist« - und er hörte still zu und hatte nie viel von sich zu erzählen. Er schien sich immer wegen irgend etwas Gedanken zu machen, aber er sprach nie darüber. Ein Mann, der in dich verliebt ist, sollte eine Menge zu sagen haben, dachte sie sich dann immer, aber da war etwas Schönes da drinnen, in dieser breiten Brust... Er sagte nie sehr viel, aber sie war sich sicher, daß er sich langsam öffnen würde. Und allmählich tat er es auch, erzählte von seiner Kindheit auf Kuba und daß er sich manchmal wünschte, er wäre nie von der Farm fortgegangen, weil er mehr für ein einfaches Bauernleben geschaffen war, wie er immer meinte.

»Ich bin kein Abenteurer wie mein älterer Bruder. Nein, nein, ich war zufrieden damit, nachts draußen auf der Veranda zu sitzen, die Sterne anzuschauen und tranquilito, tranquilito dahinzuleben, aber so ein Leben war mir nicht bestimmt, ich war dafür bestimmt, hierher nach New York zu kommen.«

Anfangs dachte sie, sein Schmerz sei ganz gewöhnliches Heimweh nach der ländlichen Umgebung und dem soviel einfacheren Leben. Sie glaubte, daß er kubanischen Landgeruch an sich hatte und daß an ihm kein Falsch war.

Aber der arme Mann - sie stellte sich vor, daß ihm irgendwelche schrecklichen Dinge passiert waren, als er noch klein war. Er hatte ihr erzählt, als Kind auf Kuba sei er zumindest zweimal so krank gewesen, daß der Priester ihm die Sterbesakramente erteilt habe. »Ich erinnere mich an einen Priester in einem violetten Umhang, der über mir betete. Kerzen und Öl, das mir auf die Stirn gestrichen wurde. Und meine Mutter in einer Ecke, weinend.«

Und einmal an einem sonnigen Tag, dem Tag, an dem er ihr das Herz aufschloß, als sie im Riverside Park spazierengingen, sagte er zu ihr: »Sieh mal, wie schön es heute ist, was?«

»Ja, das ist es, mein Lieber.«

»Aber weißt du, bei etwas, das so schön ist wie das hier, hab ich immer das Gefühl, es gehört mir nicht.«

»Was meinst du?«

»Manchmal fühl ich mich wie ein Gespenst, tú sabes, als wäre ich nicht wirklich ein Teil von dieser Welt.

»Nein! Bobo\ Du bist sehr wohl ein Teil von dieser Welt.«

Dann ließen sie sich auf einem hübschen grasbewachsenen Hügel nieder. Sie hatten sich einen kleinen Imbiß mitgebracht, Schinken und Käse mit Mayonnaise auf Kümmelbrötchen und kaltes Bier. Auf einer Wiese spielten Kinder Softball, und hübsche Collegemädchen in Bermudas und weißen Tennisschuhen lagen da und dort auf Decken hingestreckt und studierten ihre Bücher. Die Sonne hoch am Himmel, Insektenschwirren in der Luft, Boote und Schleppkähne, die auf dem Hudson vorbeizogen. Zwei Bienen schwebten über einem Büschel Löwenzahn wie ein verliebtes junges Paar, das ein Haus besichtigt. Dann machte es Klingeling, ein Eisverkäufer mit seinem kleinen weißen Laster. Nestor ging hin und kam mit zwei Bechern Eis wieder, Erdbeer für ihn, Orange für sie, und sie aßen, tropfend von süßem Sirup, und legten sich dann zurück. Sie war so glücklich, weil es ein schöner Tag war und sie verliebt war, aber Nestor?

Er hatte die Augen geschlossen, und auf einmal erzitterte er. Kein körperliches Zittern, sondern ein geistiges Schaudern. Es war so stark, daß sie es spürte, es schlug ihr entgegen wie Dampf aus einem Herd.

»Oh, Nestor, warum bist du nur so?« Und sie küßte ihn und sagte: »Setz dich hierher, neben mich, mi corazón

Und dann begann er zu weinen.

»Delores... ein Mann weint nicht. Verzeih mir.«

Und obwohl sein Gesicht ganz verzerrt war, hörte er auf damit und gewann die Fassung wieder.

»Ich werd nur manchmal so müde«, sagte er zu ihr.

»Wovon?«

»Einfach müde.«

Sie wußte nicht, was sie tun sollte. Sie nahm seine rechte Hand und küßte sie.

»Es ist nur so, daß ich manchmal das Gefühl hab, ich werd nicht lang dasein auf dieser Welt.«

Daraufhin sprach er kein Wort mehr darüber, und sie machten einen Spaziergang. Der Tag endete für die beiden glücklich damit, daß sie sich im Nemo-Kino auf dem Broadway ein Doppelprogramm mit Abbott und Costello ansahen. Dann gingen sie Pizza essen.

Sie mußte liebeskrank gewesen sein, mußte ihn mit so flehentlichen Augen angeschaut haben, denn nachdem sie zwei Monate miteinander ausgegangen waren, sagte er zu ihr, als sie sich bei ihr im Hausflur küßten: »Weißt du, Delorita, ich wollte, du würdest mich nicht so ansehen. Ich bin nicht der Heilige, für den du mich hältst.«

Und kurz entschlossen zog er sie an sich, umarmte sie und brachte sie zum Aufseufzen, als sie den Druck des heißen Ständers in seinen Hosen zwischen ihre Beine hinein fühlte. »Sieh mal, Delorita«, sagte er, »ich wollte dich respektieren, aber jetzt... Ich kann nachts nicht schlafen, ich muß immerzu an dich denken... Und da ist noch etwas, ich hab kein Wort davon gesagt oder meine Gefühle gezeigt, denn ich bin ein vorsichtiger Mensch, aber, Delorita-« und er versetzte ihr einen Schock, indem er ihre Hand nach unten an seinen Hosenschlitz zog -, »siehst du nicht, in was für einem Zustand ich bin?«

Sie küßten sich eine ganze Weile, bis sie sagte: »Laß uns hineingehen. Ana Maria ist ausgegangen und kommt erst spät zurück.«

Sie war gar nicht nervös, als sie sich vor ihm auszog und sich auf eben der Couch zurücklegte, auf der ihr Vater immer vor Erschöpfung eingeschlafen war. Nestor hatte seine Hände überall auf ihr, seine dicke Zunge in ihrem Mund, seine Finger schoben sich unter den Drahtrand ihres BHs, und er flüsterte: »Querida, mach mir die Hose auf.« Und sie faßte hinunter, ohne hinzusehen, machte ihm die Knöpfe auf und zog dann die Hose auseinander, genauso wie er ihre Schamlippen auseinanderzog, und sie holte sein Ding heraus: Es war mächtig und so groß, daß sie keuchte und die Beine weit spreizte.

Weil ihr Höschen jetzt schon so feucht war, sagte sie zu ihm: »Zieh’s aus, mein Liebling«, und während sie einander die Gesichter mit Küssen bedeckten, trieb sie fort und dachte an die Nachmittage ihrer Jugend in Havanna, als das Haus voller Geschrei war und sie in einem Zimmer Zuflucht suchte, durch dessen geschlossene Fensterläden ein paar Strahlen Sonne hereinfielen, und sich auf ihr Bett legte und sich selber anfaßte, um das Geschrei zu vergessen, es ganz zu vergessen über den wohligen Empfindungen, genau wie die, die sie jetzt überkamen. Ihre Beine öffneten sich noch weiter, und sie fühlte, wie eine gewaltige Kraft von ihr Besitz ergriff, und ihr Inneres füllte sich mit dem geschmolzenen Wachs einer großen Altarkerze, und als sein heftiges Atmen lauter wurde, klang er wie der Wind, den sie manchmal in ihren Träumen hörte. Ihre Poren taten sich auf und verströmten den warmen und süßen Saft ihres Traums, und sie dachte: »Mein Gott, das ist ein Mann!« Stundenlang machten sie weiter; Delores war ihm so dankbar, daß sie alles tat, was er wollte. In dieser Nacht sprang sie in der Liebe von gänzlicher Unwissenheit zur Erkenntnis. Und als sie sein lustvolles Stöhnen hörte und den Ausdruck ekstatischer Erlösung auf seinem Gesicht sah, hatte sie das Gefühl, einen neuen Lebenszweck für sich gefunden zu haben: diesen jungen Musiker von seiner Qual zu erlösen.

Und der arme Nestor? Er glaubte, bei Delores zu sein, und verschlang ihre Brüste mit den großen Nippeln, aber wenn er die Augen schloß und ihr Gesicht nicht mehr sah, dann küßte er den Busen der schönen Maria seiner Seele, leckte ihre Haut vom Nabel bis zur Zehe. Wenn er aus seiner Wehmut aufschreckte und ihm wieder einfiel, wie sehr er Delores liebte und wie gut er sich in ihr fühlte, wurde er aus dem Dunkel, in das er schon halb hineingeglitten war, wieder herausgerissen, und er öffnete die Augen und sah tief in die ihren, und weil es ihm jetzt kam und ihm die Knochen im Leib zerschmolzen und eine sämige Hitze seinen Körper überschwemmte, die von seinem Penis aufstieg und in seinem Kopf explodierte, machte er die Augen wieder zu und fühlte abgrundtiefen Kummer wegen Maria. Und doch, wenn er sie vor sich sah, stellte er sie sich in einem Zimmer vor mit einer Tür, durch die man auf das Krankenbett seiner Kindheit sah und auf ihn selbst, unfähig, sich zu rühren, »Mamá!« rufend und wartend, wartend. Und er öffnete die Augen wieder und fing an, härter in Delores hineinzustoßen, aber er mußte dauernd an die andere denken und vergaß sich fast ein paar Mal, war nahe daran, »Maria, Maria« zu keuchen.

Um diese Zeit waren ihr Cousin Pablo und seine Familie in ein nettes Haus in Queens gezogen und hatten die Wohnung den Brüdern überlassen. Cesar übersiedelte ins Schlafzimmer am Ende des Flurs, und Nestor bekam eines von den kleineren Zimmern in der Nähe der Küche. Er begann Delorita zum Essen einzuladen, und weil sie so weit weg wohnte, blieb sie oft über Nacht. Nestor holte sie an der Ecke 125ste Straße und Broadway ab, wo Delorita aus dem Bus aus der Bronx stieg. Oder sie kam direkt von ihrer Arbeit als Putzfrau in die La Salle Street und brachte in einer Tasche Kleider zum Wechseln mit. Es störte sie nicht, daß sie das Bett teilten, ohne verheiratet zu sein. Sie dachte, das ginge niemanden etwas an, obwohl sie erst einundzwanzig war. Und außerdem hatte sie keinen Zweifel, daß sie eines Tages heiraten würden.

Nachdem Pablo und die Familie weg waren, wirkte das Apartment zunächst trist, kaum möbliert, nur vollgestellt mit Musikinstrumenten und Trommeln. Delores aber brachte Blumen mit und Rollen von buntem Gaslichtpapier. Zusammen mit Nestor unternahm sie Ausflüge nach Chinatown, und sie kamen mit Vasen, chinesischen Wandschirmen und Jasminkerzen wieder. Sie hielt die Wohnung sauber und begann für sie zu kochen. Manchmal spazierten sie in Richtung Columbia University und zu den Buchläden am Broadway, und während sie die Wühlkisten und Regale mit den antiquarischen Büchern nach Abenteuer-, Spionage-, Liebes- und Detektivromanen durchstöberte, wartete er geduldig. Sie gingen viel aus damals: Manchmal lieh sich Cesar ein Auto, und sie unternahmen eine weitere gefahrvolle Fahrt aufs Land, oder sie gingen ins Park Palace, das schick war wie das La Conga oder das Copacabana, um Machito oder Israel Fajardo zu hören, und nachher schlenderten sie um zwei Uhr früh durch den Central Park. Einmal, nach einem Auftritt der Mambo Kings in Brooklyn, fuhren sie nach Coney Island. Sie und Nestor saßen auf einer Bank und knutschten, vor ihnen die ebbende See, und der Vorfall mit dem Pepsodentmenschen schien genauso weit weg wie der knochenbleiche Mond über ihnen.

An den Abenden, an denen sie nicht zur Schule ging, büffelte sie. Sie hatte ihr Englisch nach einem langen Kampf voller Erniedrigungen in einer katholischen Schule in der Bronx gelernt, wo die Nonnen ihr buchstäblich das Wörterbuch um den Kopf schlugen, wenn sie gewisse Wörter falsch aussprach oder sie sich nicht merken konnte. Ihre chronischen Aussprachefehler machten sie zur Zielscheibe vieler Spötteleien, aber sie hielt durch, war fleißig und tat sich hervor, gewann Rechtschreibwettbewerbe und bekam gute Noten und wurde so eine von den latinas, die nach einer Lehrzeit voller Angst so gut Englisch konnten wie jedermann sonst (und obendrein im Tonfall der Bronx). Sie versuchte immer, Nestor etwas beizubringen, ermunterte ihn, ein Buch zu lesen. Er zuckte die Achseln, und später fand sie ihn dann mit einer Gitarre, Papier und Bleistift auf dem Sofa im Wohnzimmer sitzend, pfeifend und an Melodien für verschiedene Songs arbeitend.

Sie war zum ersten Mal, seit sie denken konnte, glücklich, und dafür betete sie Nestor an. Manchmal kam sie ins Wohnzimmer, ließ die Jalousien herunter und zog ihr Kleid aus. oder sie setzte sich zu ihm, um ihm einfach Gesellschaft zu leisten, und ein paar Minuten später war ihr Schlüpfer zu den Knien runtergezogen und der Rock über die Taille hochgeschoben. Sie war immer glücklich mit ihm, denn, wenn sie miteinander schliefen, murmelte der jüngere Mambo King stets: »Te quiero, Delorita. Te quiero«, wieder und wieder. Wenn er einen Orgasmus hatte, zog sich sein Gesicht auseinander, als wollte es flach werden wie eine von den venezianischen Karnevalsmasken bei ihrem Arbeitgeber an der Wand; und während dieser ekstatischen Erlösung vom Schmerz errötete er. Es gab nichts, das sie nicht für ihn tat. Sie rieb sich Babyöl auf den Busen und die Schenkel, nahm sich eine Dose Vaseline und schmierte sich damit zwischen den Beinen ein, fand Nestor bei einem Nickerchen im Schlafzimmer, gab ihm die Brust und ließ sich dann rittlings auf seinem Glied nieder.

Er hatte einen unruhigen Schlaf und litt an Alpträumen. Oft, wenn sie neben ihm lag, dachte sie über seine Traurigkeit nach und wie sie ihm helfen könnte, aber außer der Liebe schien es nichts zu geben, was sie tun konnte, um ihn aus seiner Schwermut herauszureißen. Liebe zu machen verscheuchte diese Melancholie: Nachts schlief er an ihren Hintern geschmiegt ein, sein steifes Glied an sie gepreßt. Es sah so aus, als hätten sie sich im Schlaf unzählige Male geliebt. Eines Nachts, als sie gerade träumte, sie würde Blumen pflücken, fühlte sie, wie sein Penis von hinten in sie eindrang. Aber nicht in ihre Scheide. Sie war halb eingeschlafen, so daß das Gefühl, daß er dort in sie eindrang, sich nur langsam durch ihren Körper verbreitete: erst fühlte es sich an, als würde ihr warmer Ton in den Hintern geschoben, aber nach einiger Zeit trat an die Stelle der Weichheit ein dicker und länger werdender Stachel, der sie zuerst schmerzhaft dehnte und dann wieder warm und weich wurde. Sie drehte sich, um ihm seine Lust zu erleichtern, und rieb ihre Hüften in ihn hinein, bis er kam. Danach waren sie bald wieder fest eingeschlafen. Nestor in seinen unruhigen Träumen.

Und nun die ersten Akkorde von »Beautiful Maria of My Soul«. Und Nestor, der in Delores’ Armen von 1947 träumt: Spätabends, wenn er mit seinem Job im Explorer’s Club von Havanna fertig war, wo er Seite an Seite mit seinem älteren Bruder arbeitete, machte er oft Spaziergänge durch die Viertel der Stadt; er liebte es, sich in den Arkaden zu verlieren und auf dem Marktplatz zwischen den Bauern und den Hühnerkäfigen und den grauen Schweinen umherzugehen. In der Crasse hinter einem Chinarestaurant namens Papolin’s in La Marina, dem Viertel am Hafen, nahe dem sie wohnten, beobachtete er, wie zwei rote Hähne, mächtige Machos, mit messerscharfen Krallen gegeneinander kämpften. Im Stehen in einer Bar in einer ganzen Zeile von Bars aß er zu Abend, einen Teller Reis und Bohnen und ein Schweinskotelett, getränkt in Salz und Zitrone, für 25 Cent, und sah auf die Straße, wo sich das Leben drängte: Männer, die Lumpenkarren zogen, chinesische Arbeiter in Samtschuhen und langen Baumwollkitteln auf dem Weg in die Tabakfabriken; die Armen aus Las Yaguas, die in Buden ihre Waren und Dienste feilboten: Wahrsagungen, Schuhreparaturen, jugo de fruta für 10 Cent, Uhren, Gitarren, Werkzeug, rollenweise Seile, Spielzeug und religiöse Artikel, Nippes und Glücksbringer, Blumen, Liebestränke und Zauberkerzen, lassen Sie Ihr Photo machen, für nur 25 Cent, in Farbe! Er guckte sich bei den Kleidern um, um zu sehen, was er für die fünfzehn Dollar die Woche, die er damals verdiente, kaufen konnte: eine gute guayabera mit schmuckem Spitzenbesatz, zwei Dollar; ein einfaches Hemd, ein Dollar; ein Paar Buster-Brown-Schuhe, vier Dollar; ein Paar leinene pantalones, drei Dollar fünfzig. Ein Hershey-Riegel, zwei Cent, Pepsi oder Apur-Cola, zehn Cent... Und es gab Bananenstauden, die wie Laternen von den Regalen hingen, einen Obstkarren nach dem anderen, Eiswagen und eine Runde Männer, die in einem kühlen Hauseingang Würfel spielten. Blumen in Töpfen und Blumen, die von den Baikonen herabhingen, und Flechten auf den von der Meeresluft angefressenen Mauern; Perlstabbalustraden und Stilportale, braune und orangefarbene Simse, Türklopfer mit Tierköpfen und Engeln. Gestelle mit kupfernen Töpfen und Pfannen, Kinder, die zwischen den Buden umherrannten, Matrosen auf Bordelltour in der Stadt; ein Fahrrad, das an einem Strick über einer Reihe von Fahrradreifen hing; Papageien in Käfigen; ein zwielichtiger Herr mit Augen wie eine Schildkröte, der still an einem schmalen Klapptisch saß, an dem er seine »künstlerischen« Photos verkaufte; und dann Ständer voller Kleider und hübsche Frauen, die sich dazwischen drängelten und Musik, die aus den Hauseingängen kam. Der Geruch von Blut und Sägespänen, die Laute von Tieren, die auf dem Hackstock geschlachtet wurden, der Geruch von Blut und Tabak und ein Spaziergang durch eine lange Gasse hinter dem Schlachthaus, das an ein anderes Schlachthaus stieß: Ein Mann, der kübelweise Wasser über den blutgetränkten Boden schüttete, und hinter ihm in einer Reihe die aufgeschlitzten Kadaver von einem Dutzend Schweine. Dann die Lederwaren und Tischlereien und die Läden mit den Badesachen...

Dann kam er an den Prostituierten vorbei, die in den Hauseingängen standen, in knappen Unterkleidern und Morgenröcken, die eine Brust oder ein Stück Schenkel sehen ließen, und sich die Lippen leckten, als hätten sie gerade ein Eis gegessen; sie sahen ihm prüfend in den Schritt, lächelten und sagten: »Pssst. Ven, macho, adonde vas?« Er ging an ihnen vorbei und winkte immer guten Tag: Sie kannten ihn als den stillen Musiker, der durch ihre Straße ging, der Typ, der nicht so ein Draufgänger war wie sein Bruder. Sie riefen ihm zu und streichelten sich über den Busen, und einmal sprang eine von diesen Damen aus dem Hauseingang hervor und kniff ihn in den Hintern: »Guapito! He, mein Hübscher, worauf wartest du noch?« Aber er hatte niemals Lust mitzugehen, denn seit damals, als sein Bruder ihn immer zu den Huren in Oriente mitnahm, fand er irgend etwas an der Situation unerträglich traurig, nicht das Streicheln der Brüste und Lenden, nicht seinen Samenerguß oder die weiße Schüssel mit Wasser unterm Bett, in der die benutzten Präservative schwammen, sondern die Vorstellung, sich dabei zu ertappen, daß ihm diese Frauen leidtaten, die gezwungen waren, mit Männern zu schlafen, die sie nicht liebten, die für fünfzig Cent die Beine breitmachten und manchmal, wenn es eine wirklich schöne Frau war, für einen Dollar.

Aber er war kein Heiliger. Es gab da ein hübsches Mädchen, mit dem er hin und wieder ins Bett ging, eine junge Frau, verheiratet, wie sich herausstellte, die wirklich einen Mann nötig hatte, der sie liebte. Er besuchte sie viermal und war gerade dabei, sich in sie zu verlieben, als er draufkam, daß der einzige Grund, warum sie ihm den Schwanz lutschte und ihn kirre zu machen versuchte, Geld war, und das machte ihn wochenlang trübsinnig vor Enttäuschung, und er kehrte zu seinen alten Gewohnheiten zurück. (Gar nicht wie Cesar, der Schwierigkeiten in seiner Ehe hatte und grölend mit einer Flasche Rum in eines von diesen Hurenhäusern ging und sich drei Frauen auf einmal nahm und gesättigt und mit vor Befriedigung verschmitzt leuchtenden Augen in ihre kleine Zweizimmerwohnung heimkam. Gar nicht wie Cesar, der von Zeit zu Zeit in diesen Bordellen auftauchte und die Nacht bei diesen Frauen verbrachte, die er mit seinem tremolierenden, bebenden Bariton unterhielt: Er sang, und sie kochten für ihn, und manchmal verzog er sich in ein Zimmer und ging mit einer von den Frauen ins Bett.)

So kam es, daß die Huren von La Marina ein Einsehen hatten angesichts des Ausdrucks von ewigem Heimweh und Sehnsucht nach Liebe, der sich nachts auf Nestors Gesicht legte. Auch damals schon litt er an Schlaflosigkeit; friedlichen Schlaf hatte er nur in den Armen seiner Mutter gekannt, als er noch ein Baby gewesen war: jeder andere Schlaf war todbringend wie der, den er als krankes Kind in jenen Tagen erlebt hatte, als er nicht atmen konnte und auf Bauch und Rücken voller Striemen war, als er die Augen aufschlug und seine Mutter weinend auf einem Stuhl bei seinem Bett sitzen sah und über sich gebeugt einen Priester, der ihm ein Öl, das entfernt nach Zimt roch, auf die Stirn tupfte und über ihn das Kreuz machte, und er als Kind dachte, er müsse jetzt sterben. Der friedliche Schlaf in den Armen seiner Mutter war es, was ihm fehlte, und so ging er durch diese Straßen, lag im Hader mit der Nacht und wünschte, er hätte Las Piñas oder die liebende Umarmung seiner Mutter nie verlassen. Aber er war ein Mann, coño! Dazu bestimmt, in der Welt zu leben und seinen Platz einzunehmen unter den anderen Männern, die da überall herumliefen, die die Dinge im Griff hatten und Befehle gaben und sich dem Leben stellten in jedem Augenblick. Warum sollte er anders sein? Tagträumerisch durchstreifte er diese Straßen, und weil er keine feste Route hatte und gern im Zickzack durch Seitengäßchen ein und aus ging und durch Gänge und über Treppen, wußte er nie, wo er am Ende ankommen würde. Dieses Umherwandern gab ihm manchmal das Gefühl, den Sternen verwandt zu sein. Er saß stundenlang am Hafen und schaute sie an: Sterne, die quer durch den Himmel stürzten, Sterne, die in ihrem rosigen und bläulichen Licht dort oben hingen, vor einem Himmel, der nie und nie ein Ende nahm. Was taten sie dort oben? Murmeln und seufzen und auf die närrische Liebe herabblicken, wie sie es in den Liedern taten? Sehnten sie sich danach, sich von dem Dunkel loszureißen, das sie nährte? Waren sie einsam oder traurig, oder hatten sie eine Welt, in der sie spielten wie die Kinder? Oder waren sie zu himmelweiter Abgeschiedenheit bestimmt, einsam und allezeit auf der Suche nach dem Glück -wie Nestor?

Eines Nachts ging er durch einen Park im Bezirk Marianao, wo die rumberos unter den Bäumen an einem Fluß zusammenkamen, um mit ihren unglaublichen batá-Trommeln, perlenbesteckten Rassel-Kalebassen und Trompeten Musik zu machen. In dieser Nacht hatte er bei ihnen mitgetan und Trompete gespielt und war, die Straßen durchwandernd, auf dem Weg nach Hause. In einer Eckbar trank er einen Kaffee und sah ein paar Kindern zu, die zur Musik eines Leierkastenmannes tanzten. Danach überlegte er, in einen Cowboy-Film zu gehen, zog aber dann weiter auf einem Weg, der ihn an einem Hauseingang vorbeiführte, aus dem er Tellerklirren, Schreien und einen Kampf auf der Treppe hörte. Wäre der Streit fünf Minuten vor oder nach seinem Eintreffen ausgebrochen, hätte sich die Situation womöglich ohne sein Dazwischentreten gelöst und die Frau in dem zerrissenen Kleid, der die Tränen über das schöne Gesicht rannen, wäre in ihre Wohnung zurückgegangen oder hätte sich wieder mit dem Mann vertragen. Aber er kam durch Zufall gerade vorbei, als er Geschrei hörte, und dann schnelle, trappelnde Schritte auf der Treppe, Schläge, und dann durch die Tür das raufende Paar sah. Der Mann versuchte ihr die Arme festzuhalten, und die schöne Frau, tränenüberströmt, zog ihn an den Haaren. Beide Gesichter schmerzverzerrt, der Mann in gewalttätiger Wut.

Nestor ging dazwischen, heldenhaft, nahm sich den Mann vor und sagte zu ihm: »Hören Sie mal, Schluß damit, Sie sollen ihr nicht weh tun. Sie ist doch nur eine Frau.« Und dann wurde etwas anderes daraus, der Mann brauste auf, weil diese Schwuchtel da den Nerv hatte, sich mit ihm anzulegen, und darum sagte er: »Und wer bist du, daß du mir so kommst?« und gab Nestor einen Stoß, und Nestor stieß zurück, und dann fingen beide an, mit Fäusten aufeinander einzuschlagen, der Kampf endete draußen auf dem Kopfsteinpflaster, beide Männer bluteten und ihre Hemden waren dreckverschmiert. Nachdem er den Kampf aus der Entfernung mitangesehen hatte, während er sein Abendbrot aus Reis und Huhn und Wurst und tostones zu Ende aß, kam ein Polizist herüber und zerrte die beiden auseinander.

Als der Mann sich beruhigt hatte, ging er wieder zu seiner Frau hinüber, wechselte wütende Worte mit ihr und stürmte dann mit den Worten davon: »Du brauchst mich nicht? Auch gut, mich siehst du nie wieder.« Sie sah zu, wie er wegging. Alle paar Schritte drehte er sich um und schrie etwas herüber zu ihr: »Schlampe! Hure!« Sie weinte, und Nestor stand an der Ecke und hatte keine Lust mehr, seinen Spaziergang fortzusetzen. Er wollte an ihrer Seite bleiben, und obwohl sie einander nicht viel zu sagen hatten, blieben sie nebeneinander stehen, schweigend.

Dann bot er ihr an, sie in das Café einzuladen. »Danach geht’s Ihnen gleich besser«, sagte er.

Sie nur anzusehen, machte Nestor schwach: Sie war schöner als das Meer, als das Morgenlicht, als ein Feld voll wilder Blumen, und ihr ganzer Körper, aufgeregt und verschwitzt von der Anstrengung, verströmte einen weiblichen Duft, der ihm in die Nüstern stieg, ihm in den Körper sickerte wie Quecksilber, sich ihm in den Magen bohrte wie Amors frecher Pfeil. Er war so schüchtern, daß er sie nicht länger ansehen konnte, und das gefiel ihr, weil die Männer sie sonst immer anstarrten.

»Ich heiße Maria«, sagte sie zu ihm.

»Und ich Nestor«, sagte er leise zu ihr.

Sie war zweiundzwanzig Jahre alt und aus ihrem kleinen pueblo am Meer nach Havanna gegangen, wo sie die vergangenen paar Jahre gelebt und als Tänzerin in verschiedenen Nachtclubs gearbeitet hatte. Es überraschte ihn nicht zu hören, daß sie Tänzerin war: Sie hatte einen schönen Körper mit kräftigen, muskulösen aber wohlgeformten Beinen. Sie war eine mulata-Schönheit mit den hohen Backenknochen der Starlets aus den vierziger Jahren, ein schmollmundiges, verführerisches Double von Rita Hayworth. Und der Mann, mit dem sie sich gestritten hatte?

»Jemand, der einmal gut zu mir war.«

Er verbrachte den Abend mit ihr in dem Café, paella essend und Wein trinkend, und erzählte ihr alles aus seinem kurzen Leben, die Krankheiten seiner Kindheit, sein Gefühl, ein unwürdiger Mensch zu sein, seine Ängste, daß er nie ein richtiger Macho in diesem Königreich der Machos würde sein können. Ihr gequälter Zustand und ihre pulsierende Verletzlichkeit gingen beredt auf seinen Schmerz ein. Jede seiner Geschichten heftete sich an Maria, seine neue Vertraute, die einzige Frau, mit der er je so geredet hatte.

An diesem Abend, und noch vielen anderen, war sie höflich, dankbar und liebevoll. An ihrer Tür verbeugte er sich und wandte sich ab. Sie sah so gut aus, daß er nicht einmal im Traum daran gedacht hätte, er könnte eine Chance bei ihr haben. Aber dann zog sie ihn an sich, und sie küßten sich. Sie schloß in einer Art von Mitgefühl die Augen, ihre Körper drückten sich aneinander, ihre Hand an seinem Hinterkopf. Wie weich und warm ihre Haut unter dem Kleid war. Wie dick ihre Zunge... »Warum gehen wir morgen nicht in den Luna-Park?« sagte sie zu ihm. »Kannst du am Nachmittag kommen?«

Es war sein freier Tag.

»Ja.«

»Dann ruf zu dem Fenster dort hinauf.« Und sie zeigte auf ein Fenster mit geschlossenen Läden im zweiten Stock, bei einem Balkon, auf dem ein Laken und ein paar Kleider hingen.

In dieser Nacht ging er mit stolzgeschwellter Brust und einer pinga, die warm und angeschwollen in seiner Hose lag, durch die Straßen heim. Er ging noch Stunden in seinem Viertel umher und kletterte schließlich die Treppen zu dem solar hinauf, das er mit seinem älteren Bruder Cesar teilte. Er traf ihn an, wie er sich gerade ein paar Koteletts auf dem kleinen Herd briet, den sie dort hatten. Er war in Unterhemd und Boxershorts und sah trübe aus. Es ging ihm schlecht, seit er aus der Wohnung ausgezogen war, die er mit Frau und Tochter gehabt hatte. Außerdem trank er; auf dem Fensterbrett stand eine Flasche Tres-Medallas-Rum. Cesar wirkte angeschlagen.

»Was ist denn mit dir passiert?«

»Ich hab jemanden kennengelernt. Ein Mädchen. Sie heißt Maria.«

Cesar nickte, klopfte seinem Bruder auf den Rücken und hoffte, daß diese Frau Nestors düstere Anwandlungen vertreiben würde.

Und Nestor setzte sich zu seinem älteren Bruder an den Tisch, das Blut pulste ihm in den Adern, er war voller Leben und verschlang noch ein Schweinskotelett, obwohl er doch erst vor ein paar Stunden reichlich gegessen hatte. Laut schmatzend wie ein ausgehungerter kleiner Hund. Lebensgeräusche, Verdauungsgeräusche, in seinen Augen ein Ausdruck von Glück und Hoffnung. Obwohl er in dieser Nacht nicht schlafen konnte, war es eine Schlaflosigkeit vor Freude, die seine Lebensgeister weckte, so daß er Lust hatte, sich aus dem Fenster zu beugen und in die Welt hinauszuschreien. Statt dessen lag er wach im Bett, zupfte leise seine Gitarre, einen e-Moll-Akkord, seine liebste Tonart fürs Liederschreiben. Er spielte und träumte sich Melodien zusammen, die in seinem Kopf entstanden wie harte, glänzende Perlenketten. Er behielt das Fenster im Auge, um das erste Tageslicht nicht zu verpassen. Er stellte sich vor, wie er mit dieser Frau auf der Farm in Las Piñas auftauchte, mit ihr über ein Feld lief und seiner Mutter zurief: »Schau, Mamá, hier ist Nestor, dein Sohn, von dem du geglaubt hast, er würde niemals glücklich werden! Pobrecito! Sieh mich an, ich habe eine wunderschöne Frau gefunden, die mich liebt!«

Erwartete, bis er die ersten Geräusche des Tages hörte und die schattenhaften Umrisse der Balkonbrüstung, ein Schnörkel von Blumen, auf dem zerschlissenen Rouleau ausmachen konnte. Im Hof ein Radio: »Und nun aus dem House of Socks, auf der Welle von CMQ in Havanna...« Männer in Unterhemden, die auf ihren Balkons Würste brieten. Sein älterer Bruder, der sich seufzend im Bett umdrehte. Schritte auf dem Flur, ein kleines Mädchen spielte unten Himmel und Hölle, andere beim Schnurspringen...

An diesem Vormittag und bis in den Nachmittag hinein zermarterte ihn die Erwartung. Und so glücklich er sich auch gefühlt hatte, seine Selbstzweifel krochen immer wieder unter seinen sonnenhellen Gedanken hervor. Unter ihrem Fenster stehend, rief er ungefähr zwanzig Minuten lang ihren Namen, aber sie kam nicht heraus. Bis dahin hatte Nestor die Überzeugung gewonnen, daß Maria gelogen hatte und ihn nun versetzte. Und so wandte er sich zum Gehen, in der Absicht, den Nachmittag im Kino in der Stadt zu verbringen. Er war sehr niedergeschlagen, als Maria um die Ecke kam, atemlos und hastig.

»Ich mußte etwas zu meiner Cousine bringen und es hat länger gedauert, als ich dachte.«

Der Tag war wunderschön. Seine Zuversicht kehrte zurück, sie verbrachten die Zeit damit, Händchen zu halten und durch die fröhliche Menge im Park zu bummeln. Sie spielten Lotteriespiele. Von Zeit zu Zeit sah er ihr tief in die Augen und dachte bei sich: Ich weiß, wir sind dabei, uns zu verlieben, nicht wahr? Und sie lächelte, doch sie wandte den Kopf ab, als würde es ihr einen schmerzlichen Stich geben. Natürlich hing ihr das mit dem anderen Mann noch nach. Nestor hielt sich auf Distanz, blieb still, aber immer, wenn er den »Vorfall an diesem Tag« erwähnte, sagte sie: »Denk nicht einmal an diesen Kerl, er war so ein cabrón.« Warum aber dann der wehmütige Blick in ihren Augen? »Komm«, und sie nahm ihn an der Hand, »wir wollen uns amüsieren.«

Am Abend saßen sie knutschend draußen auf einem Pier am Meer, aus seiner Penisspitze quollen Samentränen. Er fand nichts dabei, daß sie sich ihm so leicht überließ, obwohl alte Damen ihnen scheele Blicke zuwarfen. Er dachte, daß sie mich so wild küßt, kommt daher, daß wir verliebt sind. Warum hielt sie nur die Augen so fest geschlossen, als wäre er gar nicht da? Zwei Wochen lang sahen sie sich jeden Tag. Er ging zu ihr nach Hause, wo sie ein Zimmer bei einer Frau gemietet hatte, und sie zogen los auf die Straße, er beim Gehen federnd vor Beschwingtheit. Ihre Liebesaffäre war bald bei gegenseitiger Masturbation an Gassenmauern und in Kinos angelangt, und das führte unausweichlich zum Vollzug dieser Liebe in einem Zimmer am Hafen voll blauen Lichts, auf einem Bett weiß wie der Sand am Strand, in der Wohnung eines Freundes.

An diesem Tag dachte er zum ersten Mal daran, einen canción über seine Liebe zu ihr zu schreiben. Gesättigt und wie im

Paradies, dachte sich der jüngere Mambo King, der niemals zuvor wirklich eine Frau gekannt hatte, folgende Textzeile aus: »Wenn das Verlangen eines Mannes Seele überkommt, ist er für alles in der Welt verloren, außer für die Liebe...«

Monatelang war die Liebe für ihn und Maria wie ein Gelage. Sie gingen an einen menschenleeren Flecken Strand außerhalb von Havanna oder in die Wohnung von Nestors Freund am Hafen. Er brachte sie nie in das solar mit, das er mit seinem älteren Bruder teilte, weil er das Gefühl hatte, daß die Fröhlichkeit seiner Liebe schmerzlich für Cesar sein würde, der Frau und Kind verlassen hatte und darunter litt... Und außerdem: Was, wenn Cesar sie nicht mochte? Sein Bruder, sein Herz, sein Blut. In jenen Tagen stürmte Nestor die Treppe zu ihrem solar hinauf, seine Schuhe mit den Blockabsätzen klapperten über den Boden, vorbei an Bildern von sich und Maria, wie sie sich im Halbdunkel küßten. Sie taten es auf dem Bett und manchmal auf dem Boden oder auf einem Haufen Schmutzwäsche. Sie schienen einander so sehr zu lieben, daß ihre Haut eine lustvolle Hitze ausströmte und einen Geruch, der so stark war, daß er Rudel von verwilderten Kötern anzog, die ihnen auf der Straße nachliefen.

Einmal, als Cesar nicht da war, kam sie in die Wohnung der Brüder und beschloß, für Nestor Abendessen zu machen. Sie kochte einen Topf Hühnerfleisch mit Reis auf dem weißen Emailherd mit den Tierfüßen, und dann, den Schöpflöffel in der Hand, streckte sie ihren großen Rumbahintern heraus, hob den Rock hoch und sagte: »Komm her, Nestor.«

Sie mochte es auf alle Arten: von hinten, in ihrem Mund, zwischen ihren Brüsten und in ihrem engen Hintern. Sie machte seinen Penis qualvoll dick und lang. Er glaubte immer, er würde sie auseinanderreißen, aber je mehr er ihr gab, desto weiter öffnete sie sich ihm.

Er ging mit ihr ins Kino, wo sie auf dem Balkon saßen, und mitten in den entscheidenden Liebesszenen steckte er ihr einen und dann zwei und dann drei und dann vier Finger hinein. Im Foyer eines Hausflurs hob er ihren Rock hoch und leckte ihr die Schenkel. Er stützte sich auf ihr ab wie ein Hund und drückte seine Zunge genau in die Mitte ihres Höschens. An manchen Tagen vergaß er, wer er war und wo er wohnte und arbeitete: tagsüber im Explorer’s Club, nachts in einem kleinen Spielclub namens Capri Club. Sie hatte große, feste Brüste. Ihre Brustwarzen waren braun und vierteldollargroß, die Spitzen zuerst ganz klein, aber wenn er daran saugte, schwollen sie an. Winzige Empfindungsknospen blühten auf, und er schmeckte die Süße ihrer Milch. Bläulich und dick wie ihr Handgelenk, glitt sein Penis in ihren Mund, und sie langte nach hinten, zog ihm die Hinterbacken auseinander und steckte ihre Hand dazwischen, drang in ihn ein. Damals lebte er, coño! Lebte.

Er liebte sie so sehr, daß er in ihren Armen hätte sterben können. Liebte sie so sehr, daß er sie im Hintern leckte. Sie kam und er kam, und in dem rötlichen Silber und Weiß, das hinter seiner Stirn explodierte und seinen Körper durchschauerte, spürte er die Gegenwart von etwas Leichtem, Durchsichtigem, etwas wie eine Seele, die in seinen Körper eintrat. Er lag neben ihr und hatte das Gefühl, sein Körper sei zu einem Feld geworden und er und sie würden auf den Schwingen der Liebe verzückt darüber hinwegfliegen. Er dachte an sie, während er bei der Arbeit im Club die Haarwasserflecken von den Lehnen der schweren Lederfauteuils schrubbte. Er trug eine kurze, weiße Jacke mit drei Messingknöpfen und eine kleine Kappe wie ein Hotelpage, servierte den Clubmitgliedern auf Tabletts Speisen und Getränke und träumte davon, ihre Nippel zu lecken. Der Geruch von leinölpoliertem Holz, Rasierwasser, blauem Zigarrenrauch, Flatulenzen. Der Geruch von Leder, Fauteuils mit Haarwasserflecken, dicken Teppichen aus Persien und der Türkei. Nestor lachend, Nestor glücklich, Nestor seinem Bruder einen Klaps auf den damals gramgebeugten Rücken gebend. Er arbeitete in der kleinen Küche hinter der Bar, machte Schinkensandwiches ohne Rinde und Drinks. Er pfiff, er lächelte, er sang glücklich vor sich hin. Er sah quer durch den Speisesaal durch offene französische Fenster auf die Veranda in den Garten. Er dachte an die verheerenden Wölbungen ihrer Hinterbacken, die Strähne dicken schwarzen Haares, die, ein ganz klein wenig nur, hinten zwischen ihren gespreizten Schenkeln hervorlugte. Der Duft von violetten Glyzinien, die über die Gartenwände herabhingen, vielblättriger Jasmin und chinesischer Hibiskus. Der Geschmack ihrer weitoffenen Scheide, ganz rot und glänzend vor Nässe, eine offene Orchidee unter seiner Zunge.

Weil er es nicht erwarten konnte, sie wiederzusehen, durchlitt er die Abende, an denen er mit den Havana Melody Boys arbeiten mußte, neben seinem Bruder Trompete spielte und sang. Seine schöne Maria arbeitete im Ballett des Havanna Hilton, als eine von zehn »schönen milchkaffeefarbenen Tänzerinnen«, und dort wollte Nestor sein, den Blick nicht ins Publikum gerichtet, noch auf die Scheinwerfer, sondern in die Ferne. Er konnte nicht anders als an Maria denken. Wenn er nicht mit ihr zusammen sein konnte, war ihm elend zumute, und wenn er bei diesen Engagements fertiggespielt hatte, stürmte er davon, um sie zu treffen.

Das war zu einer Zeit, als sein älterer Bruder Cesar seine eigenen Sorgen hatte, weil seine Ehe mit Luise in die Brüche gegangen war. Aber Cesar war neugierig auf diese schöne Maria, die seinen schwermütigen, stillen Bruder genommen und glücklich gemacht hatte. Also arrangierte Nestor es schließlich, daß sie sich eines Abends kennenlernten. Sie suchten dafür eine Bar aus, in die viele Musiker gingen, oben am Strand von Marianao. Dios mío! sein Bruder Cesar war überrascht über Marias Aussehen und bedeutete Nestor seinen Beifall, aber damals tat das jeder. Er stand da und versuchte, wie jeder andere Mann, herauszufinden, wie um alles in der Welt Nestor sie an Land gezogen hatte. Sein jüngerer Bruder war nie ein Frauenheld gewesen. Genaugenommen schien er immer ein bißchen Angst vor Frauen zu haben. Und da war er nun, mit einer schönen Frau und einem Ausdruck tiefen Glücks auf dem Gesicht. Mit seinem Aussehen, obwohl ganz ansprechend, mit dem langen Gesicht eines Matadors und einem sensiblen, gequälten Ausdruck, weiten dunklen Augen und großen fleischigen Ohren, hatte er sie auch nicht herumgekriegt. Es mußte seines Bruders Ernsthaftigkeit und Unschuld gewesen sein, Eigenschaften, an denen bestimmte Frauen anscheinend Gefallen fanden. Neben seinem Bruder stehend, sah Nestor ihr zu, wie sie vor einer Jukebox tanzte, aus der Beny More plärrte. Ihr Hintern wackelte, und ihr Körper bebte, ihr schönes Gesicht war der Mittelpunkt des Raumes. Nestor fühlte sich als Triumphator, weil er wußte, was die anderen gern gewußt hätten: Ja, ihre Brüste waren so rund und saftig voll, wie sie sich unter ihrem Kleid ausnahmen, und ihre Nippel wurden groß und hart unter seinen Lippen, und, ja, ihr großer Rumbaarsch war brennend heiß und, ja, ihre wunderbaren Schamlippen teilten sich und sangen wie die großen Kußlippen ihres breiten Lippenstiftmundes und, ja, sie hatte dickes schwarzes Schamhaar, und einen Leberfleck auf der rechten Wange und dazu einen zweiten auf der zweiten inneren Fältelung ihrer Schamlippen; er kannte das feine, schwarze Haar, das aus der Furche zwischen ihren Hinterbacken langsam nach oben wuchs, und er wußte, daß sie, wenn sie zum Orgasmus kam, den Kopf zurückwarf, mit den Zähnen knirschte und daß ihr ganzer Körper danach erzitterte. Voll Stolz neben seinem älteren Bruder an der Bar stehend, schlürfte Nestor sein Bier, eine Flasche nach der anderen, bis die Bläue des Meeres draußen vor den Fenstern des Lokals Falten warf wie ein Cape und er die Augen zumachen konnte und wie der dichte Rauch im Raum durch die Menge der Tänzer wogen und sich um die wollüstige Üppigkeit legen, die Maria hieß.

Komisch, daß das auch der Name ihrer Mutter war. Maria. Maria.

Wenn er sich an diese Zeit erinnerte, dachte Nestor nie an die vielen langen Pausen in ihren Gesprächen, wenn sie im Park spazierengingen. Schließlich war er nur ein verschlossener Junge vom Land mit sechs Klassen Volksschule, der über fast nichts außer Musikern und Viehzucht Bescheid wußte. Er hatte ihr alles von sich erzählt, und nun wußte er fast nichts mehr zu sagen. »Wie ist es im Club?«, »Schöner Tag heute, was?«

»Bueno, was für ein herrlicher Tag?«, »Warum machen wir nicht einen Spaziergang und essen irgendwas Feines?« Was konnte er ihr schon sagen? Sie war über menschliche Konversation erhaben. Sie hatte es gern, wenn er ihr im Park vor der Oper mit seiner Gitarre ein Ständchen brachte und die Leute zusammenliefen, um zuzuhören, und ihm Beifall klatschten. An manchen Tagen schien sie sehr traurig und verloren, und das machte sie noch schöner. Er ging neben ihr her und fragte sich, was sie wohl dachte und was er sagen konnte, um sie wieder froh zu machen.

Nach und nach wurden aus ihren Spaziergängen lange Vigilien, bis sie an jenen Ort gelangten, wo alles gut war: ihr Bett. Aber dann, irgendwie, wurde selbst aus ihrem glücklichen Treiben im Bett etwas anderes. Sie hielt inne und weinte in seinen Armen, weinte so sehr, daß er sich nicht zu helfen wußte.

»Was ist denn, Maria? So sag’s mir doch?«

»Du willst einen guten Rat, Bruderherz?« sagte Cesar zu Nestor. »Wenn du eine Frau willst, behandle sie manchmal gut, aber laß sie sich nicht zu sehr dran gewöhnen. Zeig ihr, daß du der Mann bist. Ein bißchen Prügel hat noch keiner Liebe geschadet. Frauen haben’s gern, wenn sie wissen, wer der Boss ist.«

»Aber Maria prügeln? Meine Maria?«

»Mein Wort drauf... Frauen haben’s gern, wenn man sie herumkommandiert und ihnen zeigt, wo ihr Platz ist. Dann wird sie schon aufhören mit ihrer Flennerei.«

In dem Versuch zu verstehen, was sein Bruder meinte, fing er an, Maria herumzukommandieren, und während ihrer wortlosen Spaziergänge im Park zeigte er ihr, daß er ein Mann war, packte sie grob an den Handgelenken und sagte zu ihr: »Du weißt, Maria, du kannst wirklich von Glück sagen, daß du mit jemandem wie mir zusammen bist.«

Er sah ihr zu, wie sie sich vor dem Spiegel zurechtmachte, und sagte: »Ich dachte nie, daß du so eitel bist. Das ist nicht gut, Maria, du wirst im Alter häßlich werden, wenn du zu lange in den Spiegel siehst.«

Er tat andere Dinge, über die er später in der Erinnerung vor Scham zusammenzucken sollte. So gutaussehend sie auch war, er begann, seinen älteren Bruder nachzumachen und ging dazu über, sich nach anderen Frauen auf der Straße umzudrehen. Er stellte sich vor, daß sie für immer bei ihm bleiben würde, wenn er sie ein wenig kleiner machte. Als die Dinge nicht besser wurden, wurde das Schweigen zwischen ihnen länger. Je schlimmer die Dinge wurden, desto verwirrter wurde Nestor.

Aber während der Zeit, als es schlecht um sie stand, setzte Nestor sich hin und schrieb seiner Mutter einen Brief, in dem stand: »Mamá, ich glaub, ich hab ein Mädchen zum Heiraten gefunden.«

Und sobald er einmal seiner Mutter davon erzählt hatte, bekam seine Liebesromanze etwas Magisches, etwas von Unausweichlichkeit. Schicksal nannte er es. Zunächst machte er ihr einen förmlichen Antrag, auf den Knien, in einem Garten hinter einem Gesellschaftsclub, mit Ring und Blumen. Er senkte den Kopf und wartete auf eine Antwort: Er schloß die Augen und dachte an alles Glück des Himmels, und als er wieder hochsah, um in ihr hübsches Gesicht zu schauen, lief sie gerade aus dem Garten hinaus, sein Ring und die Blumen lagen neben ihm auf dem Boden.

Wenn er mit ihr ins Bett ging, mußte er an den Mann denken, den er an dem Tag gesehen hatte, als sie sich kennenlernten, und wie sie nachher geweint hatte. Wenn sie sich liebten, hinterließ er blaue Flecke auf ihren Beinen und Brüsten, weil er sie grob anfaßte, um ihr zu zeigen, daß er ein starker Mann war. Er stand von ihrem Bett auf und sagte zu ihr: »Du wirst mich verlassen, nicht?« Er hatte das üble Gefühl im Magen, daß irgend etwas in ihm sie abstieß. In diesen Nächten wünschte er sich eine pinga so riesig, daß es sie auseinanderriß und ihre neuen Zweifel an ihm herausfielen wie aus einer zerbrochenen piñata.

Weil er glaubte, Hartnäckigkeit würde ihn ans Ziel bringen, sagte er zu ihr: »Ich werde dich jeden Tag bitten, mich zu heiraten, bis du ja sagst.«

Sie gingen zusammen spazieren und ins Kino, ihr schönes Gesicht ganz zerquält.

»Da ist etwas, das ich dir sagen will...«, begann sie immer wieder.

»Ja, Maria, daß wir für immer zusammenbleiben?«

»...Ja, Nestor.«

»Ah, ich hab’s gewußt. Ich würde sterben ohne dich.«

Eines Abends wollten sie zusammen in einen Humphrey-Bogart-Film gehen und sich an ihrer üblichen Stelle treffen, vor einer Bäckerei namens De Leon’s. Als sie nicht kam, ging er auf der Suche nach ihr bis drei Uhr früh die Straßen ab, und als er ins solar heimkam, erzählte er seinem älteren Bruder, was passiert war, und Cesar sagte, daß es vermutlich einen guten Grund gab, warum sie ihre Verabredung nicht eingehalten hatte. Nestor hatte den Rat seines Bruders schon immer sehr profund gefunden und fühlte sich gleich besser. Tags darauf ging er zu Marias Haus, und sie war nicht da, und er ging am nächsten Tag, und sie war nicht da, und dann ging er ins Havanna Hilton, und dort war sie auch nicht. Was, wenn ihr irgend etwas zugestoßen war? Er ging immer wieder zurück zu ihrem edificio, aber sie war nie dort, und jeden Abend tröstete ihn Cesar, der selber eine schlimme Zeit durchmachte. Aber am fünften Tag sagte Cesar, der sich eine Lebensphilosophie aus Rum, Rumba und Rumbumsen zurechtgelegt hatte, zu Nestor: »Entweder es ist ihr was passiert, oder sie hat dich verlassen. Wenn ihr was passiert ist, wirst du sie Wiedersehen, aber wenn sie fort ist... mußt du sie vergessen.«

Ein andermal am Morgen klopfte er so lang an die Tür, daß der Besitzer herauskam. »Maria Rivera? Sie ist weggezogen.« Wieder und wieder ging er zu dem Club, aber dort sagte man ihm, sie habe ihren Job aufgegeben und sei in ihr pueblo zurückgegangen.

Durch Wochen hindurch konnte er nichts essen oder trinken und magerte ab, und seine Schlaflosigkeit wurde schlimmer. Er saß auf dem Flachdach ihres solar und sah auf die Sterne über dem Hafen, Sterne des Wehklagens, Sterne der Hingabe, Sterne unendlicher Liebe, und fragte sie: »Warum verhöhnt ihr mich so?« Er kam in einem verheerenden Zustand zur Arbeit, erschöpft und düster. Seine Verzweiflung war genauso ekstatisch wie vorher sein Glück.

Selbst dem Chef der Havanna Melody Boys fiel auf, wie niedergedrückt Nestor war. Während die anderen Musiker quer über die Bühne Mambo tanzten, bewegte er sich kaum. Jemand flüsterte: »Sieht aus, als müßte er grad durch eine schlimme Herzenssache durch.«

»Armer Kerl, vielleicht ist jemand gestorben.«

»Laßt ihn in Ruhe. Es gibt nichts, das ihn heilen könnte. Nur die Zeit.«

Schließlich fuhr er in ihr pueblo, vier Stunden im Bus von Havanna entfernt. Er ging durch die Straßen und fragte nach einer gewissen Maria Rivera. Er war gefahren, ohne seinem älteren Bruder ein Wort davon zu sagen, und hatte sich in einem Gasthaus ein Zimmer genommen. Er war seit vier Tagen dort und trank gerade café con leche in einer Bar, als er aufblickte und den Mann sah, mit dem Maria an dem Tag gestritten hatte, als sie sich kennenlernten. Jetzt, da er ihn genau ansehen konnte ohne die Verzerrung durch die Angst, überraschte es ihn, einen sehr ansehnlichen Mann zu sehen. Er trug eine blaue guyabera, weiße Leinen-pantalones, gelbe Socken und weiße Schuhe, und er hatte starke und angenehm männliche Züge: dunkle, eindringliche Augen, einen dicken, sehr maskulinen Schnurrbart, einen breiten Nacken. Der Mann hatte in aller Ruhe ausgetrunken und ging dann plötzlich hinaus auf die Straße. Nestor folgte ihm in einiger Entfernung. Er kam in eine sehr hübsche Straße, eine schmale Straße mit Kopfsteinpflaster, die bergauf führte. Alte orangefarbene und hellrosa Mauern, überwachsen von blühendem wilden Wein. Palmen und Akazien, die ihre Schatten auf den Gehsteig warfen. Und aus der Ferne das Leuchten des Meeres.

Da war ein Haus. Ein hübsches Haus mit Blechdach, von dem man aufs Wasser sah. Der Geruch von Ananas und einem Garten. Ein Haus voll Glück und Stimmen. Die Stimme von Maria, lachend und glücklich, glücklich.

Er wartete, lungerte gequält unter den Schatten herum wie ein Gespenst, nur um einen flüchtigen Blick auf sie zu werfen. Und das machte die Sache noch schlimmer. Er sah durch ihr Fenster und hörte Stimmen schnattern und Besteck und Teller und Pfannen, in denen Bananen gebraten wurden, ihr Leben ging fröhlich weiter ohne ihn, und er krümmte sich zusammen. Zunächst hatte er nicht die Courage, an die Tür zu pochen und ihr gegenüberzutreten, er wollte die Wahrheit nicht sehen müssen. Aber er fand seine Stärke in einer Bar wieder, kam in der Dämmerung wieder und stakste bis an die Tür, Bauch rein, Brust raus. Eine lange klagende Trompetenphrase, hochaufsteigend und Schleifen um die Sterne ziehend. Mimosenduft in der Luft. Lachen. Er hämmerte so lange gegen die Tür, bis der Mann herauskam.

»Was wollen Sie?«

»Mein Mädchen.«

»Sie meinen«, sagte er, »meine Frau.«

»Sagen Sie nicht, daß...«

»Vor einer Woche.«

»Aber sie hat Sie gehaßt.«

Der Mann zuckte die Achseln. »Es war uns bestimmt.«

Oh, Maria, warum warst du so grausam, da ich doch das Sternenlicht sah, wie es dir durchs Haar spülte, und das versunkene Glühen des Mondes in deinen Augen.

Nestor schaffte es den Hügel hinunter bis zu einer Kaimauer, er lehnte sich an ein kleines Denkmal des kubanischen Dichters José Marti und sah auf das Meer aus Dämmerung. Dort malte er sich aus, wie glücklich er hätte mit ihr sein können, wenn er nur nicht so grob gewesen wäre oder mehr geredet hätte, oder ein wenig wirklichen Ehrgeiz besäße. Hätte sie doch nur nicht die Schwäche in seiner Seele gesehen. Wie in einem Traum tauchte Maria hinter ihm auf, und sie lächelte. Als er ihre Hand zu berühren versuchte, war es, als griffe er nach Luft. Da war nichts. Aber Maria war da. Sie sprach so sanft und so zärtlich zu ihm über ihre Herzens- und Seelenqualen, daß er, als sie verschwand, merkwürdig beruhigt war.

Was war es, das sie zu ihm gesagt hatte?

»Was auch geschieht, ich werde dich ewig lieben.«

Immer und ewig bis in den Tod.

Er verbrachte die Nacht vor ihrer Tür im Freien. Am Morgen entdeckte er, daß sie ihm einen Teller mit Schinken und Brot hinaus aufs Pflaster gestellt hatte, wo er geschlafen hatte, aber eine Armee von glutroten Ameisen war darüber hergefallen.

Er kehrte nach Havanna zurück und erzählte Cesar, was Maria ihm gesagt hatte.

Um seinen Hals hing das Kruzifix, das seine Mutter ihm zur Erstkommunion geschenkt hatte und das oft die fülligen Brüste der schönen Maria gestreift hatte. Und um seine Brust lag das drückende Gefühl von Steinen und Erde, das schwache, pulsierende Gefühl in den Gelenken, die zu Wachs wurden, als müßte er jede Sekunde zusammenbrechen.

»Sie sagte, sie liebt mich noch immer. Sie sagte, sie denkt die ganze Zeit an mich. Sie sagte, sie wollte mich niemals verletzen. Sie sagte, manchmal, wenn sie nachts im Bett liegt, muß sie an mich denken und kann mich in sich fühlen. Sie sagte...«

»Nestor, hör auf damit.«

»Sie sagte, sie hätte mich geheiratet, wenn da nicht diese eine Sache gewesen wäre, dieser andere Mann in ihrem Leben, ein alter prometido aus der Stadt, wo sie herkommt. Daß er einfach jemand ist, den sie vergessen wollte. Ein Provinzler, der sich nicht um sie kümmerte, als sie zusammen waren, und der herkam, um sie zurückzuholen, und -«, er bedeckte sein Gesicht mit den Händen, »- sie fühlte, daß sie zu ihm zurückgehen mußte und...«

»Nestor, hör auf.«

»Sie sagte, sie wird sich immer an unsere schönen Zeiten zusammen erinnern, aber er war vor mir da, und, na ja, jetzt ist unser Schicksal besiegelt. Sie sagte, daß sie ihn aus innerem Schmerz geheiratet hat. Sie sagte, sie wollte mich nie hintergehen, und daß sie mich wirklich geliebt hat. Sie sagte, es würde ihr das Herz brechen, daß wir uns nicht schon viel früher getroffen haben, aber dieser Mann war immer schon der, den sie liebte... «

»Nestor, sie war wie eine puta!«

»Sie sagte, ihre wahre Liebe bin ich, aber...«

»Nestor, hör auf. Mann, hast du keine Eier mehr? Du bist besser dran ohne sie.«

»Ja, besser.«