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Das Katz-und-Maus-Spiel ging weiter, als Mabeki ans Ende der Route Twisk kam und weiter nach Süden fuhr. Carver folgte ihm über eine Stadtautobahn zwischen zwei langen Reihen von Hochhäusern entlang. Sie mündete wie eine unbedeutende Nebenstrecke in eine noch breitere Autobahn, die der Küstenlinie folgend zum Hafen von Kowloon führte. Während Carver sich durch den dichter werdenden Verkehr schlängelte, um den Abstand zu Mabeki stetig zu verringern, sah er große Abstellplätze mit rostigen Containern und Frachtkähne mit Kränen, die in lebhaften Kombinationen aus Rot, Weiß, Gelb und Blau gestrichen waren.

Voraus erhob sich das vierhundertvierundachtzig Meter hohe International Commerce Centre, der höchste Wolkenkratzer Hongkongs. Er sah aus wie eine Glasrakete auf der Abschussrampe, deren Countdown begonnen hat, und kurz überlegte Carver, ob Mabeki sich einen Hubschrauber bestellt hatte, der ihn vom Dach abholte – die Melodramatik würde zu einem Mann passen, der sich entschieden hatte, als Hauptdarsteller seines privaten Horrorfilms zu leben. Aber nein, Mabeki hielt auf die Mautstelle vor dem Western Harbour Tunnel zu, der das Festland mit Hong Kong Island verband.

Als er sich der Mautstelle näherte, bekam er zum ersten Mal, seit er das Grundstück der Gushungos verlassen hatte, den Rolls-Royce zu sehen. Er stand zweihundert Meter vor ihm in einer Reihe von Wagen, die darauf warteten, die Maut entrichten zu können. Carver war dicht genug hinter ihm, um aussteigen und nach vorn laufen zu können. Sein Beschützerinstinkt, den er Zalika gegenüber empfand, drängte ihn, das zu tun. Er würde bei dem Rolls-Royce ankommen, bevor Mabeki durch die Mautschranke führe. Aber was dann? Der Rolls war praktisch uneinnehmbar. Carver würde davorstehen, sich weiß Gott wie vielen Zeugen präsentieren, sich wie ein Verrückter benehmen und gar nichts damit erreichen. Nein, er würde noch abwarten müssen.

Mabeki gelangte an das Mauthäuschen, drückte fünfundvierzig Hongkong-Dollar ab und brauste in den Tunnel.

Die Sekunden verstrichen, während Carver mit wachsender Frustration in der Wagenreihe stand. Endlich kam auch er an die Schranke, bezahlte die Gebühr und fuhr in den Tunnel unter dem Victoria Harbour. Als er an der Nordwestspitze der Insel wieder ans Tageslicht kam, geriet er bald in die Scharen der Sonntagsausflügler. Der Verkehr schob sich zentimeterweise den Highway 4 am Nordufer der Insel entlang, durch das Zentrum von Hongkongs Finanzviertel und an den Banken und Firmenhochhäusern vorbei, die vor zwei Abenden, als er und Zalika an der Reling der Fähre gestanden hatten, hell erleuchtet gewesen waren. Er dachte daran, wie sie ihn geküsst und dann so zärtlich angesehen hatte. Du bist ein guter Mann, Samuel Carver, hatte sie gesagt. Tja, das konnte nicht viel heißen, wenn er sie nicht retten würde.

Aber was hatte Mabeki vor? Wohin wollte er?

Dem Peilsender nach war er vom Highway abgefahren und fuhr jetzt wieder nach Süden. Und was sollte er dort? Wenn Mabeki die Südküste der Insel erreichte, lag vor ihm nichts weiter als das Südchinesische Meer. Noch fünf Kilometer, dann war Schluss. Dann würde sich die Sache entscheiden, so oder so. Und Mabeki wusste das auch. Carver sah auf seinem Display, dass der Rolls jetzt langsamer fuhr und ihn aufholen ließ. Man brauchte kein großer Stratege zu sein, um sich auszurechnen, dass Mabeki etwas Bestimmtes vorhatte. Vielleicht wollte er einen Austausch: Zalikas Leben gegen seine Freiheit. Oder auch Carvers Leben gegen Zalikas Leben.

Das konnte er vergessen. Carver hatte eine eigene Rechnung mit ihm zu begleichen. Solange Mabeki am Leben war, konnten er und Zalika nirgendwo sicher sein. Ihn zu töten war eine Frage des Selbstschutzes.

Carver passierte die Rennbahn, wo sich große Menschenmengen eingefunden hatten, um die Pferde zu sehen und, was für eine spielbesessene Nation wie diese noch wichtiger war, riesige Summen auf das Ergebnis zu setzen. Dann tauchte die Straße in einen weiteren Tunnel. Er führte unter den Hügeln des Aberdeen Country Park hindurch zum Aberdeen Harbour. Das leuchtete ein. Wer so einprägsam aussah wie Moses Mabeki, verließ Hongkong am sichersten auf einem Fischerboot oder einem der Schnellboote, die im Jachthafen über das Wasser hüpften, und würde sich nicht den Sicherheitsprozeduren eines Flughafens aussetzen.

Als Carver aus dem Tunnel hervorkam und nach Aberdeen hineinfuhr, kam der Rolls-Royce wieder ins Blickfeld. Mabeki bog von dem erhöhten Highway ab. Die Ausfahrt schien mitten ins Zentrum der großen Wohnblocks zu führen, wo man die alten Familien angesiedelt hatte, die früher einmal komplett auf dem Wasser gelebt hatten. Die Hochhäuser waren halbkreis-und kreuzförmig angeordnet. Carver fuhr die Ausfahrt hinunter und sah seine silberne Beute ein Stück voraus in eine Seitenstraße einbiegen. Jetzt dauerte es nicht mehr lange, dessen war er sicher.

Dann bog auch er in den Schatten der Hochhäuser ein.

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