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Draußen vor der Tür wartete ein Range Rover auf sie. McGuinness lud die Gewehre und Munitionstaschen in den Fond und fuhr eine der Privatstraßen entlang, die das Grundstücksgelände durchquerten, bis sie zu einem Wall gelangten, der gute neun Meter hoch war und sich so weit das Auge reichte nach beiden Seiten erstreckte. Die Straße führte schließlich darunter her.
Als sie aus der Unterführung herauskamen, blickte man in eine weite Senke, die fünfzehn Meter tief war. Das Gelände darin war angelegt wie ein Golfplatz, mit freien Rasenflächen und Baumgruppen, Hecken, Hügeln und Tälern und sogar einem Bachlauf, der in einen Teich mündete. Anstelle von Abschlagstellen, Fairways, Bunkern und Greens gab es verschiedene Stände, von denen man schoss, Wurfmaschinen, die die Tontauben warfen, diverse Gerüste, die wie Hochstände aussahen, und einen Schießstand.
»Beeindruckend«, sagte Carver.
»Danke«, sagte Klerk. »Ich habe hier Elemente von den besten Jagdrevieren der britischen Inseln nachgebildet – verschiedene Landschaften, etliche Wildarten, wir haben alles da.«
McGuinness fuhr sie zum Grund der Senke und stellte den Wagen ab. Er händigte jedem sein Gewehr, eine Munitionstasche und Ohrschützer aus. Dann stellte er sich vor sie, streifte seine ehrerbietige Art ab und sprach zu ihnen als der Mann, der die Verantwortung für die Jagd hatte.
»Sie werden zehn Scheiben pro Stand schießen, an fünf verschiedenen Ständen«, sagte er. »Sie haben fünfundfünfzig Patronen: fünfzig für den Wettbewerb und fünf zusätzlich, falls Schüsse wiederholt werden müssen. Die Gewehre werden mit abgekipptem Lauf und ungeladen getragen. Ohrschützer während des Schießens sind Pflicht. Ich werde zählen und als Schiedsrichter fungieren. Hat jemand eine Frage? Nein? Nun, wenn Sie mir dann bitte folgen würden, wir begeben uns zur ersten Wurfmaschine.«
»Schießen Sie oft?«, fragte Klerk unterwegs seinen Gast. »Ich meine zum Spaß, nicht beruflich.«
»Ab und zu. Ist eine Weile her, seit ich Tontauben geschossen habe.«
Carver achtete nicht so sehr auf Klerk. Er beobachtete Zalika, die vor ihnen herging. Sie hatte sich die Haare zum Pferdeschwanz gebunden und trug Jeans und eine Beretta Schießweste für Damen. Das theoretisch rein funktionale Kleidungsstück zeichnete durch seinen Schnitt jede Kurve ihres Oberkörpers nach und war gerade nur so lang, dass gewisse Konturen in der Jeans zur Geltung kamen. Ihr Hüftschwung schien eigens dazu angetan, ihn zu verlocken und eine Ahnung zu wecken, welche Freuden ihn erwarteten, falls er Manns genug war, sie zu besiegen.
Zalika blickte über die Schulter zurück zu Carver, ein neckendes Lächeln im Gesicht, und einen Moment lang kam in ihm der Ärger hoch über ihre unverfrorenen Spielchen und über sich selbst, weil er so leicht darauf hereinfiel. Sie hatte ihn ablenken wollen, und es hatte geklappt. Es war Zeit, sich auf die vorliegende Aufgabe zu konzentrieren, nämlich bei diesem Wettbewerb zu siegen.
Sie gingen nun durch Hecken. Ein kurzes Stück voraus sah Carver drei runde Schießstände, die aus Trockenmauern mit Rasen obendrauf errichtet waren. Davor stieg der mit Heidekraut bewachsene Boden leicht an und simulierte den Hang einer Bergheide, wo man Moorhühner jagte.
»Dachte, wir fangen mit Moorhühnern an«, sagte Klerk. »Wir schießen nacheinander von dem mittleren Stand. Sam, wie wär’s, schießen Sie als Erster?«
Eine offenkundige Taktik, um ihn zu benachteiligen. Klerk und Zalika hatten dort schon hundert Mal geschossen und kannten alle Eigenheiten des Geländes und die Positionen der Wurfmaschinen, aus denen die Tonscheiben mit dem exakten Durchmesser von einhundertacht Millimetern emporschnellen würden. Als Neuling hätte Carver enorm profitiert, wenn er den anderen zuerst hätte zusehen dürfen. Stattdessen musste er nun unbesehen schießen, auf seine Reaktionsschnelligkeit vertrauen und das Beste hoffen.
Carver packte zehn Patronen aus der Munitionstasche in eine seiner Westentaschen, dann trat er in den Stand. Er schloss die Augen und atmete ein paar Sekunden lang tief durch, um seinen Kopf von allem zu befreien, außer den Gedankengängen, die nötig waren, um ein kleines, sich schnell bewegendes Ziel zu treffen. Dann lud er zwei Patronen in den Doppellauf und legte an.
McGuinness stand mit einer Fernsteuerung in der Hand schräg hinter ihm.
»Möchten Sie zwei sehen, Sir?«, fragte er.
Er bot an, zwei Scheiben zur Demonstration auszulösen, damit Carver beobachten konnte, von wo sie kamen und in welcher Entfernung und welchem Winkel sie flogen. Die erwartungsgemäße Antwort wäre Ja gewesen. Doch eine launische Verstocktheit, sich auf äußere Hilfe angewiesen zu zeigen, hinderte Carver, das Vernünftige zu tun. Und so antwortete er: »Nein, danke, ich komme zurecht.«
Er richtete den Blick in die Luft über dem künstlichen Hochmoor und sagte: »Pull!«
McGuinness drückte einen Knopf, und Carver hörte eine Feder springen, als die Wurfmaschine die erste Tontaube ins Freie katapultierte, dann das flattrige Schwirren, mit der sie durch die Luft sauste. Sie flog niedrig und schnell von einer Stelle in etwa vierzig Meter Entfernung, genau wie es ein echtes Moorhuhn täte, und kam auf ihn zu, aber von rechts nach links geneigt in seine Schusslinie.
Carver schoss.
Die Tonscheibe flog weiter, bis die Schwerkraft sie zum Boden zog.
Er hatte sie verfehlt.
Bestürzt über seine Dummheit und Unfähigkeit überhörte er die Auslösung der zweiten Scheibe, legte zu spät an und verfehlte auch die.
Carver wusste nicht, wann er sich zuletzt so gedemütigt, so bloßgestellt gefühlt hatte. Hinter ihm standen die anderen verblüfft schweigend da, bis Klerk ausrief: »Gütiger Himmel, Carver, schießen Sie zum ersten Mal?« Das war als freundschaftlicher Spott gemeint. Doch Carver fand das überhaupt nicht komisch. Er hatte nicht nur danebengeschossen. Er hatte sich wie ein blutiger Anfänger verhalten.
Er warf die zwei Patronenhülsen aus, brachte das Gewehr in Anschlag und rief: »Pull!« Diesmal traf er beide Scheiben. Sie zerbrachen in wenige große Stücke – ein klares Zeichen, dass er nicht die Mitte getroffen hatte. Aber getroffen waren sie trotzdem. Genau wie die nächsten drei Dubletten. Mit acht von zehn Punkten verließ Carver den Stand. Ihn interessierten nur die zwei Fehlschüsse.
Klerk war nach ihm dran. Er schoss mit dem monotonen Stil eines Mannes, der viel Zeit und Geld auf den Unterricht bei einem exzellenten Lehrer aufgewendet hat. Technisch schoss er fehlerfrei, aber er war kein geborener Schütze. Dennoch kam auch er auf acht Treffer und schien damit vollkommen zufrieden zu sein.
Nun war Zalika an der Reihe. Sie traf nicht nur von Anfang an, sondern pulverisierte die Scheiben, traf sie so optimal, dass sie in der Luft zerstoben wie Rauchwölkchen.
Als sie den Lauf abkippte, fing sie die herausspringenden Hülsen einhändig auf und legte sie in einen Behälter, der dafür bereitstand. Das Auffangen war eine nette Gewohnheit, dachte Carver, eine clevere, trügerisch beiläufige Art ihm zu zeigen, wie sehr sie an solche Waffen gewöhnt war. Ihm fiel noch etwas anderes auf, als Zalika nachlud: Sie drehte die Patronen im Lauf, sodass die Aufschrift am Messingboden richtig herum lag. Das war ein vielsagendes kleines Ritual, mit dem sie sich zum Schuss bereit machte, wie ein Tennisspieler den Ball einmal springen lässt oder ein Golfspieler seinen Schwung einmal probehalber ausführt.
Es funktionierte. Zalika zerstäubte die nächsten vier Dubletten so effizient wie die erste. Sie verließ den Stand mit einer glatten Zehn. Wäre es nicht längst offensichtlich gewesen, hätte Carver spätestens jetzt gewusst, dass er einen Kampf vor sich hatte – einen, den er leicht verlieren konnte. Wenn er überhaupt eine Chance haben wollte, musste er den Eindruck des Versagers loswerden und neues Ansehen gewinnen.
Während sie zum nächsten Stand gingen, fragte er McGuinness: »Nur aus Neugier: Was für Chokes habe ich?«
»Viertel und Zylinder«, antwortete der Wildhüter.
»Interessant«, sagte Carver.
Er hoffte, entspannt zu klingen, sogar ein bisschen blasiert. Ein ViertelChoke war die geringste Streuungsverkleinerung, die zu bekommen war, und »Zylinder« hieß ohne Laufverengung. Das erzeugte viel breitere Schrotgarben. Auf kurze Distanz war das ein Vorteil; das könnte der einzige Grund gewesen sein, weshalb er in dieser desaströsen ersten Runde überhaupt eine Scheibe getroffen hatte. Doch je länger die Jagd dauerte, desto mehr Löcher taten sich zwischen den Schrotkugeln in der Luft auf und desto schwieriger wurde es, einen Treffer zu landen. Sobald sie auf hochfliegende Scheiben oder auf größere Distanzen schießen würden, bekäme Carver Probleme.