12

Zalika Stratten wusste längst nicht mehr, wo sie war. Vor zwei Tagen hatte sie gemeint, Stimmen zu hören, die Portugiesisch sprachen. Das ließ vermuten, dass sie sich irgendwo in Mosambik befand. Doch ihre unmittelbare Umgebung änderte sich nicht: Sie lag auf einer ähnlichen Matratze in der Ecke eines ähnlichen Raumes, wo ein ähnlicher deckelloser Eimer stand, auf den sie sich hocken konnte. Die Fenster waren zugenagelt, und die Tür in der Mitte der Wand gegenüber ihrer Matratze war abgeschlossen, und davor war ein Wächter postiert. An dem Draht, der aus der Decke kam, hing keine Glühbirne. Das einzige Licht kam durch die Ritzen zwischen den Brettern am Fenster.

Man hatte ihr die Füße zusammengekettet und dazwischen gerade so viel Abstand gelassen, dass sie durch das Zimmer schlurfen konnte, aber anständig gehen ließ sich damit nicht, und rennen schon gar nicht. Die Jeans und die Schuhe hatte man ihr weggenommen. Sie trug nur das T-Shirt und die Unterwäsche, die sie bei ihrer Entführung angehabt hatte.

Man gab ihr zwei Mahlzeiten am Tag, einen Brei aus Maismehl, der ab und zu leicht gesalzen war, gebratenen grätigen Fisch oder einen Teller Schmortopf, wo knorpeliges Fleisch in Fett schwamm. Von Zeit zu Zeit bekam sie eine Plastikschüssel mit kaltem Wasser und ein Stück hellgraue Seife, um sich zu waschen. Sie tat ihr Bestes, doch ihre Haare blieben fettig und schmutzig. Sie hatte schwarze Ränder unter den Fingernägeln und einen juckenden Schweißfilm auf der Haut.

Wie Flugpassagiere auf Langstreckenflügen nicht merken, wie widerlich die Luft an Bord ist, so roch auch Zalika schon lange nicht mehr, wie stark es in ihrer unbelüfteten Einzelzelle nach Schweiß und Fäkalien und abgestandenem Essen stank.

Mabeki schien ihre Misere nicht zu kümmern. Der lächelnde Freund ihres Bruders mit dem tadellosen Benehmen war kaum wiederzuerkennen. An seiner Stelle sah sie einen erbitterten Ideologen, der hin und wieder zu ihr kam und dozierend auf und ab schritt, der mal mit unheilvoll tiefer, ruhiger Stimme, mal in rasendem Zorn auf sie einredete, während sie auf der Matratze kauerte, eingerollt wie ein Igel, die Beine an die Brust gezogen und die Arme um die Knie geschlungen.

Das war praktisch der einzige menschliche Kontakt, den sie noch hatte. Denn das Tablett mit der Mahlzeit und der Eimer wurden von dem Wächter wortlos hereingebracht und genauso wortlos wieder abgeholt. Ihre Versuche, sich zu unterhalten, ignorierte er.

In dem Halbdunkel des Raumes wirkte Mabeki so substanzlos wie ein Geist. Nur seine Worte schienen real. Wieder und wieder trug er dieselben Argumente vor, die sein Handeln rechtfertigten, und malte Schicht um Schicht ein Bild von ihrem Vater und ihrer Familie, das allem widersprach, was sie bis dahin geglaubt hatte.

»Richard Stratten war ein Unterdrücker, ein Imperialist. Wie kann es richtig sein, wenn ein Mann so viel Land besitzt, so viel Geld, so viel Macht, während Millionen andere so wenig haben? Wie kann es richtig sein, dass der Weiße die Befehle erteilt, während der Schwarze nur immer sagen darf: Ja, Boss! Gewiss, Boss!, und ihm gehorchen muss?«

»Aber mein Vater war ein guter Boss«, wandte sie ein. »Alle unsere Arbeiter hatten fließendes Wasser und Strom.«

»So etwas wie einen guten Boss gibt es gar nicht«, widersprach Mabeki scharf. »Es gibt nur Herrscher und Unterdrückte. Du redest über Leitungswasser und Strom, als wären das Luxusgüter, für die die Arbeiter dankbar sein müssten. Dabei haben sie ein grundlegendes Recht darauf. Und ein Hahn pro Dorf ist noch kein fließendes Wasser. Strom heißt mehr als ein paar nackte Glühbirnen.«

»Was ist mit deinem Vater? Isaac fand nicht, dass Dad ein schlechter Mensch war. Er war ihm ergeben.«

»Das glaubst du? Dann bist du dumm. Dann hast du dein Leben lang die Augen verschlossen. Bildest du dir ein, mein Vater sei in unsere armselige Hütte gekommen, mit ihren vier nackten Wänden aus Porenbeton und dem rostigen Blechdach, und habe Dankbarkeit für einen Mann empfunden, der in einer Villa lebte auf dem Land, das unsere Vorfahren als Könige beherrscht haben? Glaubst du, er war dankbar, als dein Vater erklärte, er werde meine Ausbildung bezahlen? Das Geld dafür wurde mit dem Land verdient, das er den rechtmäßigen Besitzern gestohlen hatte – das der weiße Mann dem schwarzen gestohlen hatte!

Aber sag mir doch, Zalika, da dein Vater ja so ein feiner Mann war: Was hat er für all die Arbeiter auf seinen Farmen und in den Wildreservaten getan, die HIV-infiziert waren? Hat er für ärztliche Behandlung gesorgt, für die neusten Medikamente? Nein, sie wurden ausgebeutet, bis die Krankheit ausbrach und sie nicht mehr arbeiten konnten. Dann wurden sie entlassen, zum Sterben nach Hause geschickt und durch andere Arbeiter ersetzt.«

An manchen Tagen berichtete er ihr, wie weit die Verhandlung gediehen war, die er über Satellitentelefon mit den von Klerk beauftragten Experten führte. »Dein Onkel will gar kein Geld für deine Freilassung ausgeben«, behauptete er einmal. »Du könntest längst in seinem Haus in Kapstadt sein oder in London oder auf seinem Landsitz oder sogar bei seinem Haus auf den Bahamas in der Sonne liegen, wenn er einfach gezahlt hätte, was ich verlange. Willst du wissen, welchen Preis ich für dich verlange?«

»Nein«, antwortete Zalika und gab sich Mühe, so zu klingen, als meinte sie es ernst.

»Fünf Millionen US-Dollar. Das ist grob geschätzt ein Promille seines Privatvermögens, ein Bruchteil von dem, was er gezahlt hat, um seine letzte Frau loszuwerden, diese Schönheitskönigin, nach nur drei Jahren Ehe. Was war sie – Miss Österreich?«

»Tschechische Republik«, rutschte es Zalika heraus.

»Dreißig Millionen hat er ihr gegeben, damit sie geht, so stand es jedenfalls in der Zeitung. Und ich will lediglich fünf. Nicht für mich selbst, sondern für mein Volk. Dieses Geld wird gebraucht, um Brunnen zu graben, Traktoren zu kaufen, Medizin, Solaranlagen, Schulbänke, Bleistifte. Bei uns wird es viel mehr Gutes bewirken, als es auf Mr. Klerks Bankkonto je könnte, und trotzdem … trotzdem will er es nicht hergeben. Er befiehlt diesen Leuten zu verhandeln, den Preis zu drücken. Er droht, sich abzuwenden und dich deinem Schicksal zu überlassen. Es tut mir leid, Zalika, aber er hält dich nicht für wert, gerettet zu werden.«

Moses Mabeki blickte den Unterhaltungen mit Zalika Stratten mit eifriger Erwartung entgegen. Er zog großes Vergnügen daraus, sie gedemütigt, allen Komforts beraubt, mit ihrem eigenen Gestank eingesperrt zu sehen. Er genoss diesen täglichen Beweis seiner neuen Macht fast so sehr wie den Moment, wo er die Erschießung ihres Bruders befahl; oder wo er ihrem Vater den Diesel einflößte, bis er daran erstickte; oder wo er ihre Mutter seinen Kampfgenossen überließ; und fast so sehr wie den triumphalen Augenblick, wo er vor seinen kraftlosen, kriecherischen Vater trat und ihm das Buschmesser in den verräterischen Leib stieß, mit dem er den Strattens so willig gedient hatte. Zalikas Schmerz und Verblüffung zu sehen, als er ihr die Lügen über seinen Vater erzählte – auch das war ihm ein Genuss gewesen. Doch was er sich für heute Nacht vorgenommen hatte, würde er vielleicht sogar noch mehr genießen.

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