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In London kommen so viele Hautfarben und Nationalitäten zusammen wie sonst nirgendwo. Und unter allen Flughäfen der Welt fertigt Heathrow die meisten internationalen Passagiere ab. Nirgendwo ist die ethnische Mischung so bunt und dicht wie in seinen überfüllten Terminals. Es wäre sehr ungewöhnlich, wenn dort jemand wegen seines Aussehens einen zweiten Blick auf sich zöge. Daher schenkten Samuel Carver und Zalika Stratten dem großen, kahlrasierten Afrikaner, der einige Schritte entfernt mit dem Handy am Ohr bei einem Koffer stand, nicht die geringste Beachtung. Sie waren dabei, ihr Gepäck für den Donnerstagmorgen-Flug mit Cathay Pacific nach Hongkong aufzugeben.

Carver war emotional mit der schönen Frau neben ihm und geistig mit dem bevorstehenden Auftrag beschäftigt. Er war noch nie in Hongkong gewesen und versenkte sich während des Fluges die meiste Zeit in Stadtpläne und Reiseführer, teils als Profi, der sich mit der entscheidenden Umgebung vertraut macht, teils als Tourist, der sich von einer fremden Stadt faszinieren lässt, von einer kleinen Insel kapitalistischer Demokratie in dem großen kommunistischen China.

Hongkong war von einer Vielzahl von Inseln umgeben und bestand aus drei Teilen. Der erste war die Insel Hongkong, die 1841 als Erstes von den Briten okkupiert wurde und das politische und wirtschaftliche Zentrum der Stadt geblieben war. Auf dem chinesischen Festland, gegenüber dem Victoria Harbour, lag Kowloon, der bevölkerungsreichste Flecken der Erde, wo knapp hunderttausend Menschen pro Quadratkilometer lebten. Nördlich von Kowloon, hinter einer Bergkette mit Landschaftsparks und Seen, lagen die New Territories, ein Gebiet, das die Briten 1898 von den Chinesen erlangten. Dort, in dem Außenviertel Tai Po, hatten die Gushungos ihr Schlupfloch. Carver sah sich den Stadtplan genau an und prägte sich jede Straßen-, Schienen-, Flug-und Wasserroute ein, auf der man hin-und wieder wegkommen konnte.

Das Flugzeug landete am Freitagmorgen zur Frühstückszeit. Sie checkten in einem Hotel auf der Uferseite von Kowloon ein, um sich den Weg nach Tai Po zu erleichtern. Sowie sie ausgepackt, geduscht und sich umgezogen hatten, machten sie sich auf den Weg in die unvergleichliche Atmosphäre von Tatkraft und Unternehmergeist, in ein Menschengewühl, wo überall gedrängelt, argumentiert, gescherzt und in der drückenden Hitze geschwitzt wurde. Wohin Carver blickte, prallten Vertrautes und Fremdes aufeinander und schufen einen verblüffenden kulturellen Mischmasch. Die meisten Schilder trugen chinesische Schriftzeichen, die ihm völlig unverständlich waren. Doch dazwischen tauchten immer wieder englische Wörter auf: Tom Lee Music, Stockwell Securities, Classic Beauty und an einer Ladenfassade, die direkt aus einer englischen Straße hätte stammen können: Body Shop. Über zehn Jahre nach dem Ende der britischen Herrschaft gab es die Pitt Street, Knutsford Terrace und den Jordan Path zwischen Namen wie Tak Shing Street und Yan Cheung Road. Man fuhr noch immer links, und die Busse waren Doppeldecker.

An einer Ecke hatte es einen Zwischenfall in einem Lebensmittelladen gegeben, denn eine Hand voll Polizisten waren dort zugange. Sie waren allesamt Chinesen, trugen aber olivgrüne, kurzärmlige Tropenuniformen, und ihre Drillichhosen steckten in glänzenden schwarzen Stiefeln, die geradewegs aus einem Depot der British Army stammen konnten, desgleichen die Barette und Mützenabzeichen. Im Vorbeigehen hörte Carver einen Polizisten über Funk sprechen. Ein Schwall Mandarin endete mit den Worten: »Yes, Sir. Over.«

Zalika bestand darauf, in einem weiß gekachelten, von Neonlampen erleuchteten Restaurant einen Happen zu essen. Die Speisekarte war auf Chinesisch, und sie bestellten, indem sie auf abfotografierte Mahlzeiten zeigten. Aber auf dem Etikett von Carvers Bier stand »Carlsberg«.

Inzwischen hatte er einen Schneider gefunden, der seine Anzughosen änderte. Zwei Stunden später hatte er auch einen Wagen gefunden. Er brauchte einen schäbigen, unauffälligen, der aber spritzig und schnell war, für den Fall, dass es Schwierigkeiten geben sollte. Nach zwanzig Minuten online brachte ihn ein Taxi durch den Cross Harbour Tunnel von Kowloon nach Hongkong Island und zu dem Autohaus Vin’s Motors in der Tin Hau Temple Road, North Point, nicht weit von der Happy-Valley-Rennbahn.

Als Carver hereinkam, geschmackvoll gekleidet und mit einer schönen jungen Frau am Arm, leuchteten die Augen des Verkäufers auf. Das war sicher ein Mann, der beeindrucken wollte und auch die Mittel dazu hatte. Da winkte eine fette Provision. Seine Begeisterung schlug in Enttäuschung um, dann war er sprachlos und schließlich unverhohlen neugierig, als Carver bloße zweiundzwanzigtausend Hongkong-Dollar – grob gerechnet siebzehnhundert britische Pfund – für einen ihrer ältesten, billigsten Wagen ausgab, einen verschossenen braunen 1998er Honda Civic EF9. Das Modell war bei Autofreaks wegen der erstaunlichen PS-Zahl beliebt, die die Ingenieure von Honda aus der 1,6-Liter-Maschine herausgeholt hatten – die größte Leistung pro Kubikzentimeter, die je ein Motor gehabt hatte, behaupteten manche.

Das entsprach Carvers Ansprüchen an die Schnelligkeit. Der Nachteil war jedoch, dass die Stylisten den Wagen, um das Leistungsvermögen zu signalisieren, mit roten Recaro-Sportsitzen, einem Titanknauf am Schaltknüppel und Aluminiumpedalen ausgestattet hatten. Carver bat höflich, dies alles gegen schlichtere Varianten auszutauschen, und kaufte einen zweiten, noch schäbigeren Civic zum Ausschlachten. Er bat außerdem, ein paar Beulen und Schrammen in die Karosserie zu machen. Der Motor sollte dagegen auf höchstmögliche Leistung frisiert werden, ohne Rücksicht auf die Kosten oder Anzahl von zu ersetzenden Bauteilen. Er gab dem Verkäufer ein anspornendes Trinkgeld von zwanzigtausend Hongkong-Dollar, damit der Auftrag innerhalb von zwei Tagen ausgeführt würde. Dann beantwortete er alle Fragen, die dem Mann auf der Stirn geschrieben standen, und erzählte augenzwinkernd, dass ein Freund sich gerade einen neuen Porsche 911 gekauft habe. Er wolle in seinem verbeulten alten Wagen bei ihm aufkreuzen und ihm ein Rennen mit einer hohen Wette vorschlagen. Dann wolle er mal sein Gesicht sehen, wenn der Honda gewänne. Das sei ein prächtiger Scherz, stimmte man überein, und Carver wurde das Versprechen abgenommen, am Montag wieder herzukommen und den Kollegen in der Service-Abteilung von seinem Sieg zu berichten, den die Kollegen für ihn errungen hatten.

»Du bist ein erstklassiger Lügner«, bemerkte Zalika, als sie das Autohaus verließen.

»Dann sind wir schon zwei«, erwiderte Carver. »Kein Wunder, dass Klerk dachte, wir würden zusammenpassen.«

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