1992
Der Tag ist perfekt. Noch hängt eine Andeutung von Winter in den Bäumen, das Licht ist blaß und gleißend. Die Bühne ist mit grün-rotem Stoff verkleidet, und in der Mitte befindet sich ein quadratisches, umzäuntes Areal mit erhöhter Plattform. Der Zeugenstand.
Bald wird sich das Suhrawardi Field mit Menschen füllen. Ein Zeuge nach dem anderen wird auf der Bühne antreten. Einer nach dem anderen wird seine Geschichte erzählen. Ali Ahmed, Shahjahan Sultan, Jahanara Imam. Sie werden vom Krieg sprechen, über die Kinder und Kameraden, die sie verloren haben. Darüber, was sie gesehen und was sie getan haben. Sie werden darüber sprechen, was sie die ganzen Jahre lang nur vor sich selbst ausgesprochen haben.
Mayas Tochter, die fünfjährige Zubaida, wird ihre Hand halten, während die Reden den ganzen Nachmittag lang weitergehen. Ihre Handflächen werden rutschig, aber sie halten einander fest, die Finger verschränkt. »Ammu«, flüstert sie, »wird Ghulam Azam jetzt aufgehängt?«
»So schnell geht das nicht, Beta. Erst muß er mal verurteilt werden.«
Wenn Jahanara Imam nach vorn tritt, um ihre Geschichte zu erzählen, wird Maya in der Menschenmenge nach Ammu suchen. Sie wird sie nicht sehen – es sind zu viele Menschen da –, aber sie weiß, daß ihre Mutter da ist. Sie hat es versprochen. Die Leute werden zuhören, die Stille durch Nicken und Klatschen erträglicher machen; immer wieder wollen sie hören, wie Jahanara ihren halbwüchsigen Sohn aufs Schlachtfeld geschickt hat. Wollen von ihren Pflichten als Mutter hören.
Eine Frau erhebt sich. Sie geht zur Bühne und blickt geradeaus in Richtung Horizont. Alles ist still, nur die Bäume rauschen. Ein Geschenk der Zuschauer: Als würden sie extra für sie den Atem anhalten.
Die Jahre haben sie majestätisch werden lassen. Sie ist schwerer, aber immer noch schön. Ein junger Mann führt sie am Ellbogen auf die Bühne.
Maya nickt ihr zu und beginnt. »Bitte nennen Sie Ihren Namen.«
»Piya Islam.«
»Bitte sagen Sie uns, warum Sie hier sind, Mrs. Islam.«
Sie lächelt. »Miss Islam.«
Die Zuschauer lachen anerkennend.
»Miss Islam, sagen Sie uns, warum Sie heute hier sind.«
»Ich wurde am 26. Juli 1971 von der pakistanischen Armee gefangengenommen. Sie überfiel mein Dorf; jemand hatte erzählt, in unserem Dorf würden Guerillakämpfer versteckt. Mein Vater wurde getötet.« Sie hält inne und räuspert sich. Der junge Mann reicht ihr ein Glas Wasser. Sie trinkt.
»Ich wurde auf einen Lastwagen geworfen. Die Tochter unserer Nachbarn war auch dabei; sie war erst vierzehn Jahre alt. Sie weinte und erbrach sich auf dem Lastwagen.
Wir wurden an eine Wand gekettet. Vor uns war schon jemand dagewesen – sie hatte ihren Namen in die Wand gekratzt. Sie hatte sich aufgehängt. Deswegen schoren sie uns die Haare ab und nahmen uns die Saris weg.«
»Können Sie uns sagen, wie viele Soldaten es waren?«
»Zwanzig, dreißig. Sie wechselten sich ab. Als das andere Mädchen starb, war nur noch ich übrig.«
»Und wie lange waren Sie in Gefangenschaft, Miss Islam?«
»Bis der Krieg vorbei war.«
»Vielen Dank, Miss Islam. Möchten Sie dem noch etwas hinzufügen?«
»Ja.« Sie drehte sich zu dem jungen Mann um. »Das ist mein Sohn. Er heißt Sohail. Ich habe ihn nach dem Mann benannt, der mich aus diesem Ort befreit hat. Dem Mann, der mir das Leben gerettet hat.«
Piya tritt vom Zeugenstand herunter. Maya breitet die Arme aus, und vor all diesen Menschen, den Menschen, die gekommen sind, um Zeugnis abzulegen, und den Menschen, die gekommen sind, um ihre Geschichte zu erzählen, umarmen sie sich. Alles, was in ihrem Bruder gut ist, und alles, was in ihr gut ist, ist auf diesem Feld, in dieser Frau, die ihren Sohn nach ihm benannt hat, in dem Mädchen, das nach seinem Sohn benannt ist. Zaid. Zubaida. Ein im Namen umschlossener Name. Jedesmal, wenn ihre Tochter lacht, voller Begeisterung und Freude am Leben, hinterläßt der Schmerz einen Abdruck, die Erinnerung an ein kleines Sprachgenie, einen Falschspieler und Dieb. Er fehlt ihr. Jeden Tag fehlt er ihr. Zaid und Sohail. Da spürt sie es, da unter den Rippen, neben dem schlagenden Herz. Und hier, an ihren Schläfen. Jedesmal, wenn sie die Augen schließt und sieht, was aus Sohail geworden ist, und weiß, daß sie nie zusammen ins Kino gehen werden oder mit Ammu am Tisch sitzen und Witze erzählen oder ein Buch lesen werden (es kann nur Einen geben, es kann nur Einen geben), wird es ihr das Herz brechen. Aber sie erkennt die Wunde in seiner Geschichte, die nie verheilende Wunde, denn auch sie hat diese Wunde. Seine Wunde ist ihre Wunde. Und weil sie das weiß, merkt sie, daß sie sich nicht länger wünschen kann, er wäre anders.