1971

Dezember

Acht Tage nach Kriegsende steht Sohail Haque in einem absterbenden Senffeld. Die zu Staub vertrockneten Blütenblätter der Senfpflanzen kitzeln ihn in der Nase und erinnern ihn an den Geruch von Fleisch, etwas, das er seit Monaten nicht mehr gegessen hat. Unter seinem Fuß stäuben und ächzen die Gräser, über ihm wacht das verschleierte Auge der Wintersonne. Seit Tagen ist er zu Fuß unterwegs, folgt dem grauen Band der Straße nach Süden, in Richtung Stadt. Er ist durch ein verlassenes Dorf nach dem anderen gekommen, hat Blätter von Bananenstauden gegessen und aus Tümpeln getrunken. Er hat sich tief über die Wasseroberfläche gebeugt und die Algen mit den Zähnen herausgefiltert. Am dritten Tag sagt ihm ein Bauer, daß der Krieg vorbei ist.

Jetzt ist er auf dem Heimweg und probiert den Namen des Landes auf der Zunge. Bangladesch.

In der Ferne sieht er einen Fleck auf der flachen Ebene.

Eine Kaserne. Er umkreist das Gelände, die feuchte Hand fest am Kolben seines Gewehrs. Kein Geräusch, keine Bewegung. Er schleicht sich näher heran; die Körperhaltungen des Soldaten sind ihm wohlvertraut, die Schenkel bereit zum Sprung, die Augen wandern unablässig hin und her, der Finger ist gekrümmt. Aber das Gebäude ist verlassen.

Die Armee hat nach dem Rückzug ihre Spuren hinterlassen. An Möbelstücken riecht er Tabak, auf der Leine sieht er Uniformen hängen. Er findet die Teller, die ordentlich in einer Ecke aufgestapelt sind, die von Mekka wegweisenden Schuhe. Er sieht die Gebetsteppiche. Er riecht die Pakistanis, Seife und Kreide und Schuhcreme.

An die Toilettenwand hat jemand »Punjab Meri Me« geschrieben: Punjab meine Mutter. Wie diese Soldaten Bengalen gehaßt haben müssen, denkt er, wie sie es gehaßt haben müssen, wenn ihre Füße im Schlamm versanken, wenn die Luft sich um sie schloß wie die Hand eines Verbrechers, die Moskitos, das unbarmherzige Bombardement des Regens, das Essen, das sie schwach und durchfallkrank machte, auslaugte und entwässerte.

Sohail fragt sich jetzt, ob er vielleicht ein wenig Mitleid mit diesen Männern hätte haben sollen. Er spürt, wie sich sein früheres Ich meldet, sein noch weiches Ich: Geograph, nicht Guerillakämpfer. Derart milde gestimmt, beschließt er, sich mit einer halbgerauchten Zigarette in eins der Stockbetten zu legen. Es ist das weichere Ich, das ihn veranlaßt, den Raum hinter dem Munitionslager zu erforschen, die schwere Metalltür zur Seite zu schieben, die Wand auf der Suche nach dem Lichtschalter abzutasten – und dann einen Anblick vor sich zu haben, der ihm sein ganzes weiteres Leben lang den Atem nehmen wird.