1984

August

Krebs. Jedesmal wenn Dr. Sattar das Wort aussprach, verschluckte er es, bis er schließlich nur noch von »der Krankheit« oder »dem K« sprach. Der operative Eingriff war nur der Anfang gewesen. Rehana brauchte Chemotherapie, mächtige Gifte, um den Krebs abzutöten. Doch auch der Mensch selbst konnte dabei auf der Strecke bleiben. Es war eine unsichere Wissenschaft, bei der die Behandlung oft schlimmer als die Krankheit war. Maya hörte sich das panikerfüllt an. Nie hatte sie ernsthaft die Möglichkeit erwogen, daß sie eines Tages ohne ihre Mutter würde leben müssen. Der Tod war ihnen bereits zugestoßen: Ihr Vater war gestorben, noch bevor Maya wußte, daß der Tod länger dauert als der Schlaf. Später kam der Tod zu den Patienten, die sie behandelte. Jeden Tag versuchte sie, ihm mit eigener Hand Einhalt zu gebieten, Ruhr und Malaria und Schlangenbiß aufzuhalten. Der Tod hatte auch Nazia gestreift; ihre Beine waren voller Narben, aber sie hatte überleben dürfen. Nie hatte Maya sich ernsthaft vorgestellt, daß der Tod ihr noch einmal etwas wegnehmen würde, nicht ernstlich.

In diesem Jahr war der Regen überall. In Dhaka standen alle Rinnsteine unter Wasser, und die Flüsse sprengten ihre Betten, der Padma und der Jamuna verschluckten Häuser und Rinder und den jungen Reis. Maya brachte Ammu aus dem Krankenhaus nach Hause und lief auf der Veranda auf und ab. Nachts weinte sie in ihre Armbeuge. Einmal erschien Sufia in ihrem Schlafzimmer, hielt die Petroleumlampe hoch und nickte nur, nickte, ohne etwas zu sagen.

Das Telefonmädchen überbrachte Maya eine Nachricht. Schwester Khadija wollte eine Milad für Ammu abhalten. Die Frauen von oben wollten den gesamten Koran einmal rezitieren und diesen Segen auf Ammus Genesung hinlenken. Ob sie teilnehmen wolle? Maya hatte ein friedvolles Bild im Kopf: der Geruch vieler Körper, vermischt mit dem Ascheduft des Attar. Gegen ihren Willen sagte sie ja.

Die Frauen saßen in Dreier- und Vierergrüppchen zusammen. Die Köpfe hatten sie bedeckt, aber ihre Hände und Füße, die normalerweise in Handschuhen und Socken steckten, waren zu sehen und in ständiger Bewegung: Sie trugen Teller mit Essen ins Zimmer, verteilten Sitzkissen, liefen geschäftig umher. Khadija umarmte sie herzlich.

»Schwester«, sagte sie. »Bitte nimm doch Platz.« Der Boden wurde frei gemacht und ein frisches Stück Stoff unter ihr ausgebreitet. Maya blickte sich um und sah, daß ihr viele die Gesichter zuwandten. »Das ist die Schwester vom Huzur, Maya.«

Ein Chor von Salaams ging durch den Saal. »Hier kennen dich alle. Der Huzur hat von dir gesprochen.«

Eine junge Frau mit tiefschwarzen Haaren kam auf Maya zu und lächelte sie geradezu umwerfend an. Das Telefonmädchen. »Maya, das ist Rokeya.« Rokeya grüßte mit einem Salaam. »Du bist Ärztin?« fragte sie.

»Ja, ich bin in Chirurgie ausgebildet.«

»Bei Sir Sattar?«

»Ja, er war mein Professor. Kennst du ihn?«

»Ich war auch am Dhaka Medical.«

»Wirklich – welcher Jahrgang?«

»1983.«

Sie hatte ihre Ausbildung zur Ärztin also erst letztes Jahr abgeschlossen. Was für eine Verschwendung, dachte Maya. Jetzt wartet sie nur, daß ihr Mann, wahrscheinlich irgendein faltiger alter Kerl, sie jeden Nachmittag anruft, breitet eine Decke für mich aus und nennt meinen Bruder Huzur.

»Kann ich dir eine Tasse Tee kochen?« Rokeya zupfte an ihrem Kopftuch. »Wie hättest du ihn gern?«

Sie lief davon, und Khadija bedeutete Maya, daß sie sich setzen sollte. Dann drehte sie sich zu den anderen Frauen um und sagte: »Bismillahirrahmanirrahim, laßt uns beginnen.«

Alle zogen eine Gebetskette hervor und fingen an, die Kalma leise vor sich hin zu murmeln. Die Perlen aus Stein und Holz glitten durch ihre Handflächen, während sie die Kette mit den Daumen weiterschoben. Leere Schälchen wurden weitergereicht, in den vier Ecken des Raums lagen kleine Häufchen getrocknete Kichererbsen. Wenn zu jeder Perle der Kette ein Gebet gesprochen worden war, legten die Frauen eine Kichererbse in die Schale vor sich.

Khadija ließ sich schwerfällig nieder und schlug den Koran auf. Sie fing an zu rezitieren.

*

Am zweiten Tag teilte Rokeya ihr mit, daß Sohail ausnahmsweise einmal selbst beim Talim anwesend sein würde. Er würde sogar predigen. Ob sie kommen wolle?

Als Maya ankam, war bereits alles still, und die Frauen gingen mit ihr zusammen nach hinten in den kleinen Saal. Sie waren schweigend dabei, Teller einzusammeln und Laken vom Boden hochzuheben, auszuschütteln und Plätze zuzuweisen. Setz dich dahin, gib Schwester Zayna das Kissen.

Es war genau wie bei der Trauerfeier. Ein Vorhang wurde quer durch den Raum gespannt und teilte ihn in zwei Hälften. Die Frauen saßen dicht an dicht in der hinteren Hälfte. Hinter dem Stück Stoff waren Schritte und gedämpfte Stimmen zu hören, als die Männer hereinkamen. Männer, die sich räusperten. Auf der Frauenseite wurden die Kopftücher enger gezogen, als ob allein das Geräusch ihrer Brüder auf der anderen Seite eine Extraportion Vorsicht notwendig machte.

Hinter dem trennenden Tuch fing ihr eigener Bruder an zu sprechen.

»Bismillahirrahmanirrahim, meine Brüder und Schwestern. Ich werde heute über den Propheten Ibrahim sprechen, Friede und Segen sei mit ihm. Die Geschichte Ibrahims ist alt und heilig. Unser Prophet und Bruder Ibrahim, der Friede Allahs sei mit ihm, war ein Mann der Schrift. Er übersetzte die alten Texte ins Hebräische; er sprach die Sprachen der Griechen und Assyrer fließend. Trotz seiner enormen Bildung sehnte er sich auch danach, die Geheimnisse menschlicher Gefühle zu verstehen, die Freuden und Genüsse – nicht des Fleisches, sondern des Herzens und Geistes. Als er seinen Sohn hochhob, um ihn zu opfern, spürte er die Liebe in seiner Brust steigen wie die Flut, die vom Mond angezogen wird. Das prägte er sich gut ein, er konnte aus allem etwas lernen. Und als die Mythen der Vorväter Ibrahim aus Mitleid oder Wut über ihre Torheit zum Weinen brachten, dann prägte er sich auch das als ein Stück heiligen Wissens ein. Denn die Fähigkeit zum Mitgefühl ist ein rein menschlicher Charakterzug, doch der Allmächtige hat ihn uns geschenkt.

Von Anfang an war Ibrahim ein Sucher des Wissens. Doch sein Wissen war stets dem Willen Gottes untertan. Als sein Volk anfing, Götzen aus Ton anzubeten, wandte er sich an Gott, und Gott strafte es. Als Gott von Ibrahim die Opferung seines Sohnes forderte, mußte er sich dem Willen Gottes unterwerfen. Ibrahim war der Knecht Gottes, und es lag nicht in seiner Natur, nein zu sagen. Doch er wurde nicht nur von Pflichtgefühl angetrieben. Er wollte die wahre Natur seines Glaubens ergründen – ob dieser von ihm so geliebte Glaube der Opferung seines Sohnes standhalten würde. Mit dem Messer in der Hand beugte er sich über seinen Sohn. Und dann gab Gott ihm einen Widder anstelle von Isaak in die Hand.

Wir lernen Gott kennen, indem wir uns seinem Willen unterwerfen. Wenn wir akzeptieren, daß er es besser weiß als wir selbst, wissen wir, daß Hingabe der einzige Weg zu wahrem Glauben ist. Das Beste an uns als Menschen ist unsere Fähigkeit, die Wahrheit des Allmächtigen zu erkennen, die Wahrheit, die höher ist als alle Vernunft.«

Sie hörte den spitzen Klang seiner Stimme. Er wollte ihr etwas sagen. Er wollte ihr sagen, daß sie nicht gelernt hatte, wie man Demut übt, daß sie ihren Willen über den Gottes gestellt hatte. Und daß sie deswegen gestraft wurde, oder etwa nicht?

Maya wurde an eine Geschichte erinnert, die sie während des Krieges gehört hatte. Ein Mann war von Maschinengewehrfeuer getroffen worden, drei Geschosse saßen in seinem Rücken. Er war im Feldlazarett operiert worden (ohne Narkose, nur mit einem Lappen zwischen den Zähnen), zwei Kugeln waren entfernt, die dritte aber übersehen worden. Ein Stückchen dieser dritten Kugel war in seinen Blutkreislauf eingetreten und wie ein Tourist durch seinen Körper gewandert, bis es sich schließlich im Herzen festsetzte und ihn augenblicklich tötete.

Sie wußte, daß die Geschichte medizinisch gesehen nicht stimmen konnte. Aber es paßte zu ihr und Sohail. Beide waren verletzt worden, vielleicht durch den Tod ihres Vaters oder den dünnen Schimmelbelag von Armut, der ihre ganze Kindheit überzogen hatte. Das scharfe schwarze Geschoßteil wanderte frei in Maya herum, meldete sich manchmal in ihrer Leber, manchmal in den Gliedern, dann wieder im Bauch. Sie wachte davon auf und gab etwas von seinem Gift umgehend an denjenigen weiter, der gerade in ihrer Nähe war. Ammu und Sohail hatten das meiste davon abgekriegt.

Aber Sohails Schrapnellteil hatte sich in seinem Fleisch festgesetzt, und das Gift sickerte ganz langsam in ihn ein, bis er lebendig starb. Und dieser Erdgeruch des Grabes hatte Sohail so früh im Leben zu einer Kreatur halb Geist, halb Mensch werden lassen. Das war der Grund, weswegen er immer ein Publikum hatte, sobald er eine Rede hielt, unterwegs oder in der Moschee, warum ihn alle in seinem Umkreis unbedingt aus der Nähe sehen und berühren wollten. Er war zum Propheten geboren und von Anfang an Meister seiner selbst gewesen. Aber jetzt predigte er ihr, daß die Quelle seiner Macht nicht die Herrschaft, sondern die Hingabe war. Auch Maya sollte akzeptieren, wie klein und wie begrenzt in ihrer Menschlichkeit sie war. Tat sie das nicht, würde es unschöne Konsequenzen geben.

Hinterher verließen die Männer den Raum, der Vorhang wurde zurückgezogen, und die Frauen begannen mit den Vorbereitungen für das Abendessen. Sohails Predigt ließ Maya nicht los. Sie ging aus dem Versammlungssaal zu Khadija in die Küche, wo sie vor einem kleinen Gaskocher hockte.

»Hat dich der Bayaan mit Freude erfüllt?« fragte sie. Selbst wenn Khadija nichts Heiliges rezitierte, drückte sie sich sehr gewählt aus.

Maya wußte nicht, was sie darauf erwidern sollte. Mit Freude erfüllt war sie nicht gerade.

»Der Junge«, sagte sie statt dessen. »Mein Neffe.«

»Du meinst den Sohn des Huzur?«

»Genau, Zaid. Ich unterrichte ihn ein wenig zu Hause, aber seit Ammu krank ist, habe ich nicht mehr soviel Zeit. Ich würde ihn gern in der Schule anmelden.«

Khadija schien das einen Augenblick zu bedenken. Sie rührte eine Handvoll Chilischoten in einen Topf mit Dal.

»Der Kleine hat Schwierigkeiten«, fuhr Maya fort.

»Du hast recht«, antwortete Khadija zu ihrer Überraschung. »Ich kann es nicht abstreiten. Dein Bruder ist der gleichen Meinung.«

»Ihr wißt es also.«

»Wir haben das Problem gestern mit Hadschi Mudassar besprochen.«

Wer Hadschi Mudassar war, wußte Maya. Die Leute von oben wandten sich mit allen Fragen an ihn, auch wenn die Angelegenheit noch so unbedeutend war. Sie neigten vor ihm den Kopf und ließen sich von ihm segnen. Sie taten alles, was er sagte.

»Hadschi Mudassar hat uns gesagt, daß es unsere Pflicht ist, für die ordnungsgemäße Erziehung des Jungen zu sorgen. Wir wissen, daß wir in dieser Hinsicht versagt haben.«

Khadija streckte die großen, kräftigen Hände aus und umfaßte Mayas Handgelenk. »Wir haben beschlossen, uns von nun an zu bessern. Amra neyot korechi.« Sie hatten unter dem wachsamen Auge des Allmächtigen ein Versprechen abgelegt.

Mehr schien Khadija nicht sagen zu wollen. Maya gestattete sich ein kleines bißchen Hoffnung.

»Bleibst du noch? Das Maghrib-Gebet fängt in ein paar Minuten an.«

»Es tut mir leid, ich muß zurück zu Ammu.«

»Wir beten jeden Tag für sie. Der Huzur ist ein treuer Sohn.«

»Danke«, sagte Maya, plötzlich von dieser Aussage bewegt.

»Vertraue auf Gott, Schwester Maya«, sagte Khadija. »Der Junge wird versorgt werden, und deiner Mutter geht es bald besser.« Khadija hielt ihr Handgelenk weiter ganz fest. Maya hatte eine Vorahnung und sah auf einmal vor sich, daß Khadija ihre beste Freundin werden würde, die Schwester im Geiste, die sie sich immer gewünscht hatte. Khadija legte Maya die Hand auf die Stirn, was diese als Zeichen auffaßte, daß sie gehen mußte.

Die Stirn noch heiß von Khadijas Hand, ging Maya, überrascht, wie ungern sie sie verließ, zurück nach unten.

Vier Tage später stattete Maya dem Dach ohne Einladung einen Besuch ab. Sie hatte ihre Mutter gerade mit einigen Löffeln Brühe gefüttert, nach der Wundnaht geschaut und ihr beim Einschlafen zugesehen. Die Frauen saßen in langen Reihen entlang der Wand, die Köpfe über Teller gebeugt. Rokeya ging an den Reihen vorbei und schöpfte Reis auf die Teller. »Bitte, Maya Apa«, sagte sie, »bitte, iß mit uns.« Khadija nickte ihr ebenfalls lächelnd zu. Es gefiel Maya, daß sie nicht überrascht waren, sie zu sehen. Eine neue Jamaat aus Südafrika war eingetroffen. Schwarze und weiße Frauen ließen die Gebetsketten durch die Finger gleiten und beteiligten sich am Gebet. Als die Fürbitte begann, füllten sich Mayas Augen mit Tränen.

Sie ließ sich in Khadijas Arme sinken. »Wird Ammu denn wieder gesund?«

Khadija strich ihr leicht und zärtlich über den Kopf. »Natürlich, wenn Gott will, bleibt sie bei uns.« Maya machte sich innerlich darauf gefaßt, daß Khadija ihr gleich beibringen würde, wie wichtig es war, den Tod als Gottes Willen zu akzeptieren. Doch Khadija schwieg und bewegte die Hand zu Mayas Stirn, wo sie wie ein heilender Umschlag liegenblieb, bis Maya die Augen schloß und anfing, ihr zu glauben.