1984
September
Maya staunte über die vielen Leute, die Rehana besuchten. Mrs. Rahman traf als erste ein, klopfte Rehana das Kissen auf und stellte einen Hühnereintopf in den Kühlschrank. In ihrem Schlepptau kam ein ganzes Grüppchen von Damen aus dem Ladies Club, die versprachen, ihr alljährliches Rummy-Turnier bis zu Rehanas Genesung aufzuschieben. Der Fischhändler kam und der Schlachter, bei dem sie seit über zwanzig Jahren einkaufte; er brachte ihr einen riesigen Hammelknochen mit, von dem sie eine Suppe kochen könne, die das, was sie krank gemacht hatte, heilen würde, wie er versprach. Die Direktorin von Mayas alter Schule und die Dhanmondi Society schickten Blumen. Sufias Schwester kam mit ihrem Mann, beide sehr förmlich gekleidet, in der Hand ein Gebet, das ihnen ihr Sufimeister auf ein winziges Zettelchen geschrieben hatte. Sogar Rehanas deutscher Mieter erschien mit einem Strauß Rosen. Er blieb nur eine Minute, gerade lang genug, daß Maya ihn begutachten und schrecklich enttäuschend finden konnte. Er war kahlköpfig und so groß, daß er sich bücken mußte, um durch die Tür zu kommen, und mit einem feinen Pelz blonder Härchen bedeckt. Er lächelte tapfer und überreichte Rehana dann einen Umschlag, auf dem MIETE SEPTEMBER 1984 stand.
Nach einem weiteren Morgen bei Khadija und den Frauen oben saß bei Mayas Rückkehr Joy neben Ammus Bett, der ihr eine Anekdote von seinem neuen geschäftlichen Unternehmen mit Chottu erzählte. Sie lachte so sehr, daß sie sich mit beiden Händen den Bauch hielt.
»Nicht so heftig, Ma, deine Stiche sind doch noch gar nicht richtig verheilt!« Sie warf Joy einen verärgerten Blick zu.
Joy unterhielt sich weiter mit Rehana. Er wirkte frisch, als käme er gerade aus der Badewanne, mit sauberen Füßen in schicken Sandalen und kurzgeschnittenen Haaren. Dicht zu Ammus Ohr vorgebeugt erzählte er seine Geschichte gemächlich zu Ende. Dann verabschiedete er sich, nicht ohne ihr zu versichern, daß sie bestimmt in Windeseile wieder gesund und zurück am Herd beim Braten ihrer berühmten Parathas sein würde.
»Danke, daß du gekommen bist«, sagte Maya höflich und führte ihn ins Wohnzimmer. Sie wollte etwas zu ihrem letzten Zusammentreffen und dem peinlichen Abschied sagen.
»Deine Mutter hat erzählt, du wärst jetzt öfter oben zu Gast.«
»Sohail ist ins Krankenhaus gekommen und hat bei ihr am Bett gesessen. Ich glaube, das hat sie sehr genossen. Da wollte ich mich erkenntlich zeigen.«
»Und wie findest du es da?«
»Eine andere Welt.«
»Das hört sich ja gar nicht so schlecht an.«
»Anders. Es ist anders als alles, was ich kenne.« Sie versuchte, das Gefühl, mit diesen Frauen zusammenzusein, in Worte zu fassen. Joy war mit dem Fuß gegen etwas unter dem Sofa gestoßen, und jetzt faßte er in den Staub.
»Ich glaube, ich weiß, was da liegt«, sagte er.
Maya wußte es auch. Er zog es hervor, ein Stück Strandgut. Ein letztes Überbleibsel.
»Die Saiten sind noch alle da«, sagte er. Maya holte einen Lappen aus der Küche, und als sie das Instrument abwischten, kam das honigbraune Holz zum Vorschein.
»Kann man noch drauf spielen?« fragte Maya.
»Muß wahrscheinlich gestimmt werden. Ich kann’s ja mal probieren, aber ich bin nicht sehr gut. Mein Bruder hat viel besser gespielt.«
»Meiner auch«, entgegnete sie.
Sie wußte genau, was er dachte: Es ist so ungerecht, daß sie ihren Bruder noch hat und ich nicht. Was würde er darum geben, seinen Bruder wiederzubekommen. Wahrscheinlich würde er seinen Bruder unter allen Umständen wiederhaben wollen, selbst wenn der sein altes Leben aufgeben und sich wie ein anderer Mensch aufführen würde. Joy dachte sicherlich, daß lebendig oder tot nicht miteinander zu vergleichen waren. So schrecklich verschieden war es nicht, gab sie innerlich zurück. Es gibt einen Grund für solche Ausdrücke wie ›für mich bist du gestorben‹, die sie Sohail mehr als einmal an den Kopf geworfen hatte.
Joy zupfte auf den Gitarrensaiten herum und drehte an den Wirbeln am langen Hals des Instruments. »Ich glaube, so klingt’s besser«, sagte er. »Probier’s doch mal.«
Sie strich mit dem Daumen über die Saiten. »Klingt schön«, sagte sie.
»Wie früher.«
»Du hast immer so ein schönes Lied gesungen, ein spanisches.«
»Wir haben doch nie spanische Lieder gesungen.«
»Doch, das mit dem ganz langen Namen.«
»Oh!« Er schlug sich aufs Knie. »Du meinst ›Guantanamera‹.«
»Genau, das hat mir immer so gut gefallen.«
»Sohail hat das gern gesungen. Er hat gesagt, das wäre ein Revolutionslied, aber in New York hatte ich einen Freund aus Mexiko, der hat mir den Text erklärt. Es ist ein ganz normales Lied.«
»Wie, normal?«
»Über irgendeinen armen Typen, der sich nach Liebe sehnt.«
»Hast du was gegen Liebe?«
Joy lehnte sich auf dem Sofa zurück und schlug die Beine übereinander. »Ich habe nur kleinere Vorbehalte. Nichts Prinzipielles, so wie du.«
Sie zupfte an den Saiten herum. »Du hast ja keine Ahnung. Ich will das gleiche wie alle anderen Mädchen auch.« Und in diesem Moment glaubte sie das sogar selbst. Daß sie sich genauso nach Zärtlichkeit sehnte wie der Rest der Welt. Er nahm die Gitarre und klimperte darauf herum.
»Komm her, ich zeig dir die Akkorde«, sagte Joy. Er nahm ihre Finger und setzte sie auf die Saiten. »Du mußt ganz fest drücken.«
Zaid kam ins Zimmer. »Da ist ja mein kleiner Sprachkünstler«, sagte Maya. »Zaid, komm und sag Onkel Joy guten Tag.«
Joy streckte dem Kleinen die Hand entgegen, und als Zaid auf ihn zutrat, um sie zu schütteln, zog er sie ganz schnell weg und hielt sie sich vor die Stirn. »As-salamu ‘alaikum. Reingelegt!«
Zaid kicherte wie verrückt.
»Der Knirps da spricht jede Sprache der Welt. Stimmt’s, Zaid? Sag was auf spanisch zu Onkel Joy!«
Zaid dachte angestrengt nach. »Oh-kay«, sagte er und gab ganz langsam und deutlich zum besten: »Aki jegoo la pas.«
»Ganz hervorragend«, sagte Joy. »Das verstehe ja sogar ich.«
»Hat er wirklich was Richtiges gesagt?« flüsterte Maya. »Ich habe immer gedacht, er denkt sich das alles nur aus.«
Joy griff nach einem Kartenspiel, das auf dem Tisch lag, und mischte es durch. »Ich zeig dir was, Zaid.«
»Karten spielen dürfen wir nicht«, warf Maya schnell ein, »das ist Tabu für ihn.«
Joy warf ihr einen vielsagenden Blick von der Seite zu. »Das ist kein Spiel«, sagte er, »das ist Magie.« Nervös ließ Maya ihn seinen Zaubertrick vorführen. Dann kletterte Zaid auf Joys Schoß, flüsterte ihm etwas ins Ohr und tanzte dann zum Zimmer hinaus: Adios, adios, adios.
*
Rehana hielt ihre Haare büschelweise in den Händen.
»O Ma.« Maya nahm ihr das Haarbüschel weg, das wie ein kleines, pelziges Tierchen aussah. Die kahle Stelle auf der Kopfhaut glänzte wie eine Metallmünze auf dem Meeresboden.
Rehana war im Bad gewesen, als ihr die ersten Haare ausgingen. Im Handtuch seien noch mehr, sagte sie.
»Komm, wir rasieren sie ab«, sagte Maya.
»Nein, noch nicht.« Rehanas Stimme klang sehr müde. »Bitte nicht.« Sie ließ den Kopf aufs Kissen sinken und wandte das Gesicht ab, damit Maya nicht sah, wie sie weinte. »Ist ja nicht so schlimm«, sagte sie und putzte sich die Nase, »der Doktor hat’s mir ja vorhergesagt.«
Maya hielt immer noch das Haarbüschel in der Hand. »Wirf’s weg«, sagte Rehana. »Verbrenn es.«
Sie ließ es auf den Boden fallen. Sufia kam, hob es auf und verschwand in der Küche.
Rokeya saß mit dem Gesicht in Richtung Sonne auf dem blanken Betonboden. »Geh doch bloß in den Schatten«, sagte Maya, »du holst dir noch einen Sonnenbrand.« Es mußte einer der heißesten Tage des Jahres sein. Rokeya begrüßte sie mit einem heiseren Salaam. Maya sah, daß ihre Lippen ganz ausgetrocknet waren, einzelne Haare hingen unter dem Kopftuch heraus.
»Wie geht es deiner Mutter?« erkundigte sie sich.
»Es geht so«, antwortete Maya.
Rokeya nickte, und in ihren Augenwinkeln sammelten sich die Tränen. Mit einer Geste, die Maya augenblicklich erkannte, legte sie beide Hände auf den Bauch.
»Bist du schwanger?« fragte Maya und beugte sich zu ihr herunter, um sie genauer zu betrachten.
Rokeya lächelte schwach. »Wie hast du das erraten?«
Khadija kam durch den Vorhang nach draußen. Sie gab Rokeya ein Glas Wasser. »Geh jetzt rein«, sagte sie. Rokeya faßte mit beiden Händen nach dem Glas und trank es gierig in einem Zug aus.
»Wir sollten einen weiteren Talim für deine Mutter abhalten«, sagte Khadija. Sie drehte sich wieder zu Rokeya um. »Sag den Schwestern, daß sie alles vorbereiten sollen.«
Im Saal stand die Luft. Die Fenster waren geschlossen und die Vorhänge zugezogen, so daß es unerträglich heiß war. Khadija wirkte als einzige so, als mache die Hitze ihr nichts aus. Ihre Stirn glänzte vom Schweiß wie poliert, als sie vorn im Raum Platz nahm. Sie schlug das heilige Buch auf und fing an, leise für sich zu lesen. Die anderen Frauen, die geflüstert und sich Luft zugefächelt hatten, setzten sich aufrecht hin und ermahnten einander zur Ruhe. Rokeya winkte Maya neben sich.
Die Sonne stand hoch am Himmel, und Maya starrte auf ihre Hände, während der Schweiß unaufhörlich an ihr herunterfloß. Hier, dieser Raum, war der einzige Ort, an dem sie glauben konnte, daß ihre Mutter überleben würde. Überall sonst hatte die Möglichkeit ihres Todes bereits die Oberhand gewonnen: Jede Mahlzeit, die nicht von Rehana gekocht worden war, die leeren Zimmer, der Garten, den Maya so gewissenhaft wässerte und dennoch nicht vor dem Gelbwerden bewahren konnte.
Und deswegen saß Maya jeden Tag wieder Khadija zu Füßen. Sie las nicht im Koran und betete auch nicht mit. Sie saß einfach nur im Schneidersitz da, die Hände im Schoß, während ihr die Beine allmählich einschliefen, bis die Panik endlich ein wenig nachließ.
Als Rehana die meisten Haare schon verloren hatte, bat sie Maya schließlich, den Rest auch noch abzuschneiden. Sie setzte sich im Bett auf, die Schulterblätter ragten spitz unter dem Nachthemd hervor, die Haut an ihrem Hals war grau und müde. Sufia stand leise weinend dabei, als Maya ihrer Mutter ein Handtuch um die Schultern legte.
Sie hatte gewußt, daß dieser Tag kommen würde, sie hatte sich innerlich darauf vorbereitet. Sie würde gelassen und ihre Hand würde ruhig bleiben. Zuerst kam die Schere. Die Haare waren Ammu nicht gleichmäßig ausgegangen; an manchen Stellen waren sie schon ganz verschwunden, an anderen saßen sie noch dicht und fest auf der Kopfhaut. An diesen Stellen schnitt sie das Haar ganz kurz, fühlte das Gewicht der langen, dicken Strähnen in der Hand, bevor sie sie zu Boden fallen ließ. Sufia folgte ihren Bewegungen mit dem Kehrbesen. Rehana selbst war gefaßt und hatte die Zeitung aufgeschlagen, als sei es ein Morgen wie jeder andere und als warte sie nur darauf, daß ihr die Frühstückseier serviert würden. Auch sie hatte sich offensichtlich auf diesen Tag vorbereitet.
Nach der Schere nahm Maya ein Rasiermesser, tauchte es in eine Schale mit warmem Seifenwasser und strich damit leicht und behutsam über den Kopf ihrer Mutter. Jetzt kam ein glänzender, perfekt runder Ammuschädel unter ihren Händen zum Vorschein. Ein ganzer Planet.
»Ich weiß noch, daß ich meinem Vater oft zugesehen habe«, erzählte Rehana und hielt die Zeitung hoch, »wie er von seinem Barbier rasiert wurde. Er wirkte immer sehr entspannt.«
»Wie fühlt es sich an?«
»Schön. Kitzelt ein bißchen.«
Bald war nur noch ein wenig Seifenschaum übrig. Maya rieb ihrer Mutter den Kopf mit einem dünnen Handtuch ab. »Ich habe etwas für dich«, sagte sie. Sie ging in ihr Zimmer und kam mit einem bunten Kopftuch zurück, das sie ein paar Tage zuvor bei einem Straßenhändler erstanden hatte. Es war rot mit einem weißen Muster und ließ sich hervorragend um die Stirn ihrer Mutter knüpfen.
»Jetzt siehst du wie eine Zigeunerin aus«, sagte Maya. »Oder ein Pirat.«
»Her mit der Augenklappe, dann raube ich dich aus.« Sie lachten.
Am Abend kamen Mrs. Rahman und Mrs. Akram, um mit Rehana Karten zu spielen. Maya ließ sich überreden, als vierte mitzuspielen, damit sie pokern konnten. Niemand verlor ein Wort über Rehanas Haare, außer der Bemerkung, Rot müsse ihre Glücksfarbe sein, weil sie zweimal gewann, mit einem Paar Asse und einem Straightflush.
*
Als der Fastenmonat Ramadan anfing, beharrte Rehana darauf, daß Maya alle Einkäufe zur Vorbereitung auf das Opferfest machen solle. »Es ist das erste Mal, daß ich die Fastenzeit nicht einhalten kann«, sagte Rehana, deren Kopf leicht auf dem Kissen ruhte. »Dann kannst wenigstens du zum Id was Hübsches anziehen.«
Ammu hatte ihr ganz genaue Anweisungen mitgegeben. Wie viele Meter Stoff für ihren Salwar Kamiz zu kaufen waren. Für Sufia Bluse, Unterrock und Sari. Geschenke für Mrs. Rahman und Mrs. Akram. Etwas für Sohail. Jetzt standen Maya und Zaid in einem Stoffladen und versuchten, das richtige Material für Sufias Bluse zu finden.
Die Verkäufer, junge Männer mit dünnen Bärtchen, eilten zwischen dem Verkaufstisch und den Regalen hinter ihnen hin und her. Die Stoffballen in jeder nur erdenklichen Farbe waren wie Bücher in einem Regal an der Wand aufgereiht. Es begann der langwierige Prozeß, einen perfekt zum Sari passenden Stoff für die Bluse zu finden. Die jungen Männer hielten den bereits von Maya gekauften Sari neben Stoffe mit ähnlichen Farbtönen. Dann bewegten sie sich an der Palette von hell bis dunkel vorbei, bis Maya nickte: Marineblau für Sufia.
Jetzt mußten sie hinüber zum anderen Teil des Markts gehen, in dem die Schneider saßen. Zaid zog sie am Handgelenk hinter sich her und hüpfte über die vielen Sprünge im Beton.
»Weißt du noch, was wir gestern gelernt haben?« fragte sie ihn. »Die Zahlen? Versuch doch mal, die Schritte von hier bis zum Schneider zu zählen.«
Zaid war abgelenkt, von den grellbunt gemalten Werbeschildern, den Frauen beim Einkaufen, den Hunden, die nach ihren Flöhen bissen, den Kinoplakaten, dem durchdringenden Geruch nach Tamarindenpickles. Es war ein schöner Tag, ein kleiner Vorgeschmack auf den bevorstehenden Winter; eine frische Brise kitzelte sie an den Ohren und Fingerspitzen. Maya mußte an die vielen Opferfeste zurückdenken, die sie zusammen im Bungalow gefeiert hatten. Das Knistern der neuen Kleider, die von Ammu so stark gebügelt und gestärkt worden waren, bis sie nach nassem Reis rochen. Warten, daß Sohail aus der Moschee zurückkam, dann Frühstück, dann in die Rikscha, um allen Leuten, die sie kannten, einen Besuch abzustatten. Zum Id war ihr Leben auf einmal voll, und den Höhepunkt des Nachmittags bildete der Halt am Friedhof, wo sie an Abbus Grab beteten: Wieder ein Jahr zu dritt vergangen, wieder sagten sie ihm, wie sehr sie ihn vermißten.
»Ek«, fing Zaid zögernd an, »Dui.« Das Käppchen auf seinem Hinterkopf hüpfte auf und ab. »Tin.« Eins. Zwei. Drei.
Maya wurde plötzlich von Zärtlichkeit für den Jungen überwältigt. »Halt das mal fest.« Sie drückte ihm die Einkaufstaschen in die Hand und hob ihn hoch. Das Kind war leicht wie eine Feder.
»Was hättest du gern?« sagte sie. »Such dir etwas aus.«
»Für mich?«
»Ja, irgendwas, egal, was du willst. Alles, was es auf dem Neuen Markt gibt.«
Er lächelte sie mit seinen schiefen, strahlend weißen Zähnen an, die er, wie sie wußte, mit Kohle und einem Zypressenzweiglein putzte, da Zahnbürsten oben verboten waren. Er versuchte sich zu entscheiden, was er sich wünschen sollte, blickte an sich und an seiner schmutzigen Kurta herunter, betrachtete die schwarzen Halbmonde unter seinen Fingernägeln. Sie erwartete, daß er um das Fahrrad bitten würde, von dem er auf dem Friedhof gesprochen hatte, aber er überraschte sie, als er ihr ins Ohr flüsterte: »Sandalen.«
»Was, du willst wirklich nur Sandalen? Du darfst dir alles wünschen, was es auf dem ganzen Neuen Markt gibt, und du willst nur ein Paar Sandalen haben?«
Er nickte feierlich.
»Na schön, dann müssen wir noch mal kehrtmachen.« Sie setzte ihn ab, und sie durchquerten das große Marktgelände noch einmal, bis sie vor dem Bata-Laden standen. Ein magerer Verkäufer im blauen Oberhemd fing schon an, Maya zu bestürmen, bevor sie auch nur den Laden betreten hatten.
»Darf es etwas mit Absatz für Sie sein, meine Dame? Ein geschlossener Schuh vielleicht?«
»Wir suchen etwas für den Jungen«, sagte Maya und führte Zaid hinein. Sie flüsterte ihm ins Ohr: »Welche Farbe willst du?«
»Blau«, flüsterte er zurück.
Der Verkäufer kam mit einem Paar blauen Chappals an, die denen, die Zaid anhatte, sehr ähnlich sahen, nur daß diese völlig durchgelaufen und schon ein wenig zu klein waren.
Maya zog ihm die neuen Sandalen an. »So, jetzt lauf ein Stück«, sagte sie, »mal sehen, ob sie passen.«
Zaid machte ein paar vorsichtige Schrittchen, setzte einen Fuß zögerlich vor den anderen. Dann kam er schon zu ihr zurückgelaufen. Seine Lippen waren rot und seine Augen voller Tränen. Sie legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter. »Ist ja in Ordnung. Lauf nur darin herum, ob sie passen.« Dann drehte sie ihn um und schob ihn sanft von sich weg.
»Haben Sie nicht was Besseres für ihn, vielleicht eine geschlossene Sandale?«
Zaid raste einmal durch den Laden und kam dann zu ihr zurückgesprungen.
»Hier wird nicht gerannt«, sagte der Verkäufer und hielt ihm den Finger mahnend vors Gesicht. An Maya gewandt fragte er: »Wieviel wollen Sie ausgeben?«
»Spielt keine Rolle«, antwortete sie, »zeigen Sie mir einfach ein anderes Modell.«
»Das ist aber wirklich nett von Ihnen«, sagte er, während er die Schuhkartons durchguckte, »daß Sie mit Ihrem kleinen Dienstboten einkaufen gehen.«
»Er ist kein –«
Zaid hatte sich die Schuhe mittlerweile auf die Hände gezogen und ließ sie wie Seehundflossen aneinanderklatschen. Maya sah zwischen ihm und dem Verkäufer, der ein weiteres Paar billige Gummisandalen in der Hand hielt, hin und her.
»Gehen wir«, sagte Maya, nahm Zaid die Schuhe weg und drückte sie dem Verkäufer in die Hand. »Geben Sie uns die alten Sandalen wieder.«
»Die habe ich weggeworfen.«
Zaid fing an zu weinen. »Ach, hör doch auf«, sagte sie ungeduldig zu ihm und war auf einmal wütend auf ihn, weil er so schäbig gekleidet war. Sie sah selbst, wie er durch den Mund atmete, wieviel getrockneten Schleim er in den Augenwinkeln hatte. Mit seinem grauen Hemdkragen und den Schorfstellen auf den Armen sah er tatsächlich wie ein Dienstbote aus.
Der Verkäufer kam zurück und trug die alten Schuhe mit spitzen Fingern vor sich her. Maya ergriff sie und schob Zaid aus dem Laden. Das Kind war mittlerweile in ein tief beleidigtes Schweigen verfallen und wollte sie nicht an der Hand halten, sondern ging mehrere Schritte hinter ihr her. Sie versuchte, ihm zu erklären, daß der blöde Verkäufer geglaubt habe, Zaid sei ihr Dienstbote, aber er wollte nichts davon hören, drehte ihr den Rücken zu und schlug ihre Hand weg, wenn sie ihn zu berühren versuchte. Sie brachte die Besorgung beim Schneider hinter sich, mit dem sie unnötig hart über den Preis verhandelte und von dem sie verlangte, daß die Kleider in drei Tagen fertig sein müßten, obwohl es noch mehrere Wochen bis zum Id waren, dann machten sie sich auf den Heimweg und schwiegen einander in der Rikscha weiter an. Als sie zu Hause ankamen, versuchte Maya wieder, mit ihm zu reden, aber Zaid rannte die Treppe hoch, wobei er immer zwei Stufen auf einmal nahm, und drehte sich nicht zu ihr um, als sie ihm zum Abschied hinterherrief.
»Hast du alles bekommen?« fragte Ammu. Sie flüsterte nur noch, mit einer fast tonlosen Stimme. »Ich muß mal. Ruf Sufia.«
»Die wäscht gerade ab. Ich geh mit dir.«
Ammu hatte nicht genug Kraft, um zu protestieren. Maya stützte sie mit einem Arm unter den Achseln und half Ammu, sich aufzusetzen. Sie ächzte leise und hielt die Hand hoch. »Warte.« Sie atmete tief ein, schwenkte die Beine aus dem Bett und sagte Maya, sie solle ihren Arm so ausstrecken, daß sie ihr aufhelfen konnte. Zusammen bewegten sie sich ganz langsam durch den Flur.
»Schließ nicht ab«, sagte Maya an der Badezimmertür. Sie hörte es drinnen rauschen, dann ein Klatschen an der Wand und Speigeräusche. »Ist alles in Ordnung, Ma? Bitte laß mich reinkommen.«
Sie hörte nichts. »Ma? Laß mich reinkommen, ja, bitte.« Immer noch nichts. Sie drückte die Tür auf und sah Ammu mit dem Arm vorm Gesicht neben der Toilette am Boden liegen. Maya versuchte, sie hochzuheben. An Wange und Kinn klebte Erbrochenes. Maya goß ihr einen Becher Wasser über und dann noch einen. Ammu lag ganz still, öffnete aber die Augen, als ihr das kalte Wasser ins Gesicht spritzte. Zu dem kleinen Badezimmerfenster kamen Gartengeräusche herein. Maya zog Ammu den Sari aus und steckte ihn in den Waschbottich. Ammu hob den Kopf. Zentimeterweise bewegten sie sich zurück zum Bett. Ammu sagte etwas, und Maya kam ganz nah mit ihrem Ohr und versuchte, sie zu verstehen.
»Alles«, sagte Rehana leise, »hast du alles bekommen?«
»Mach dir keine Sorgen, Ma«, antwortete Maya. »Das Id wird genauso wie jedes Jahr sein.«
Shafaat rief begeistert an. »Wir haben Leserbriefe zu Ihrer Kolumne bekommen«, sagte er. »Die Leute finden sie interessant.«
Es war ihr egal, ob die Leute ihre Beiträge interessant fanden. Verstanden sie, worum es ihr ging? »Ja«, antwortete er, »Ihre Aussage ist klar und deutlich angekommen. Wir haben einen Brief vom Khatib der Moschee in Rajshahi erhalten. Offensichtlich ein ganz aufrechter Bursche.«
»Ist es ein Drohbrief?« Um sich selbst hatte sie keine Angst, nur um die Leute aus dem Dorf, um Nazia.
Er versicherte ihr, sie brauche sich keine Sorgen zu machen. Rauschen im Hörer, als er Rauch aus dem Mundwinkel blies. Na schön. Dann würde sie weiter schreiben.
Als ich den unwegsamen Süden unseres Landes bereiste, geriet ich in das Land der Bergvölker, der Garo und Chakma. Haben Sie sich jemals gefragt, ob Sie schon mal einen Angehörigen dieser Minderheiten kennengelernt haben? Neben einem in der Schule gesessen haben? Schon mal jemanden gekannt haben, der einen Garo oder Chakma zum Freund hat? Nein? Dachte ich mir.
Die Naturvölker wissen, wie man Medizin im Wald findet. Pflanzen, die eingeweicht und auf eine Wunde gedrückt werden. Sie kauen Blätter und schmieren die Paste auf die Verletzung. Jedes kleine Fleckchen des Landes, sagen sie, birgt einen Schatz.
Zum Ausgleich dafür brennen wir ihre Dörfer nieder und lassen zu, daß die Soldaten die Frauen vergewaltigen. Wir nehmen uns ihre Wälder und vertreiben sie aus ihren Hütten. So etwas verdient die Bezeichnung Freiheit nicht.
*
Ammu wurde jeden Tag schwächer. Die Verschlechterung ihres Zustands ging fast unmerklich vor sich, aber manchmal fiel Maya doch auf, wie eckig ihre Kieferknochen wirkten, wie erschreckend schmal ihr Profil geworden war. Sie versuchte, auch andere Dinge zu überwachen – wieviel sie aß, ihre Verdauung, die durch die Chemotherapie ausgelöste Übelkeit. Doch Ammu hielt all das so geheim wie möglich, weigerte sich, offen über ihre Krankheit zu sprechen, und zog Sufias Hilfe immer der ihren vor. Sie legte so viel Wert auf die Verschleierung der Einzelheiten ihrer Krebserkrankung, daß Maya sich manchmal fragte, ob ihre Mutter sie überhaupt dahaben wollte.
Dabei konnte Maya sich auch nicht vorstellen, irgendwo anders zu sein. Ihr früherer Aufenthalt an anderen Orten hatte sich aufgelöst wie Zucker in Wasser, ohne Spuren zu hinterlassen. Sie dachte kaum noch an Nazia und ob sie wohl noch einmal anrufen würde. In Rajshahi war die Mangosaison gekommen und wieder vergangen, und sie hätte vielleicht kurz bei der Erinnerung an die Duftströme verweilen können, die ins Dorf geweht kamen und allen das Wasser im Munde zusammenlaufen ließen, aber das tat sie nicht. Sie dachte nur an Ammu, an nichts als an die Vertreibung der bösen Vorahnung. Oben war sie eine regelmäßige Besucherin geworden; sie saß an den Rändern dieser seltsamen Welt, fasziniert von den Ritualen, der Ruhe und Gewißheit, die die Frauen zu umgeben schienen. Einmal fragte sie Rokeya nach ihrer Meinung zur Ermordung von Präsident Zia, und Rokeya sah sie an, als wisse sie nicht, von welchem Zia sie spreche. Wahrscheinlich fragte sie sich, ob es einen Zia im Koran oder in ihrer Großfamilie gab. Maya brachte nicht ihre üblichen Tiraden vor, daß die Bürger ihre Freiheit, für die sie so hart gekämpft hatten, gar nicht verdienten, wenn sie nicht einmal wußten, wer ihr ehemaliges Staatsoberhaupt war. Daß sie die korrupten Politiker verdienten und daß es Leute wie Rokeya waren, die das Land in die schlimme Lage gebracht hatten, in dem es sich jetzt befand. Doch statt des gewohnten Wutanfalls – verspürte sie Erleichterung. Sie war es leid, daß ihr alles ständig das Herz brach, die Politiker und die ganzen Betrüger und die Frauen, deren Ungeborene starben, weil sie es nicht rechtzeitig ins Krankenhaus schafften. Hier auf dem Dach existierte eine Welt, in der es keine Rolle spielte, daß zwei ihrer Regierungschefs ermordet worden waren und der Zynismus mittlerweile vollends gesiegt hatte, da Bangladesch seinen eigenen Diktator hatte, seine eigene schreiende Ungerechtigkeit, seinen eigenen schmutzigen kleinen Krieg im Süden. Es gab nur diesen Saal, diesen heißen Raum mit seinem Gestank nach Männern und Frauen, und das Gefühl, daß sie, Maya, mit ganzer Kraft am Ende eines Stricks zog und ihre auf den Tod zutaumelnde Mutter zurückzuholen versuchte.
Zaid vergab Maya den Vorfall auf dem Markt und ging wieder wie üblich bei ihr ein und aus. Wie zuvor gab sie ihm zu essen und versuchte, ihm etwas beizubringen. Nur Dinge, die halal waren, kein Kartenspiel, kein Fernsehen. Sie nahm Addieren und Subtrahieren mit ihm durch. Seine zappelige Energie war die einzige Aufmunterung im Bungalow. Er schlich sich auf Zehenspitzen zu Rehana ans Bett und saß ihr, einen pragmatischen Optimismus ausstrahlend, zu Füßen, auch wenn seine Großmutter immer tiefer in der Matratze versank. Sie wirkte so zerbrechlich wie ein Vogeljunges im Nest, wie ein zitterndes Rotkehlchen mit blutroter Brust.