1984

Februar

Erst als Silvi gestorben war, konnte Maya nach Hause zurückkehren. Sie dachte einen Augenblick über diese Tatsache nach, als sie sich im Dritte-Klasse-Abteil auf die Holzbank setzte. Auf dem Schoß hielt Maya ihre ganze Habe: Einen kleinen Rucksack mit zwei Saris, einen Salwar Kamiz [1], ein Paar Turnschuhe, eine Arzttasche mit Stethoskop und ein kleines Mangobäumchen für ihre Mutter. Es war schwierig gewesen, den Baum zu verpacken; er war nicht leicht und der in Erde gepackte Wurzelballen dick und unhandlich. »Der Baum überlebt nicht«, sagte der Bauer, von dem sie ihn gekauft hatte. »Das ist ein Rajshahi-Baum, der gehört nach Rajshahi.«

Eine alte Frau mit einem Tiffinbehälter rutschte auf den Platz neben ihr. Sie starrte Maya einen Augenblick lang an, dann klemmte sie den Blechbehälter zwischen die Knie, zog eine Gebetskette heraus und fing an, das Glaubensbekenntnis vor sich hin zu murmeln.

La ilaha illa llah wa muhammadan rasul allah.

Natürlich würde er überleben. An der Westseite des Gartens war eine leere Ecke, und wenn irgend jemand diesen Baum zum Tragen bringen konnte, dann war es Ammu. Andererseits waren sieben lange Jahre vergangen – sie wußte nicht mal, ob die Ecke noch leer war.

Eine Gruppe junger Männer kam ins Abteil. Sofort fingen sie an herumzualbern, eine Streichholzschachtel und ein Päckchen Star-Zigaretten herumgehen zu lassen und zu rauchen. Maya widerstand dem Wunsch, sie zurechtzuweisen, drückte das Gesicht gegen die waagerechten Gitterstäbe des offenen Abteilfensters und starrte hinaus auf die müllübersäten Gleise, den Bahnsteig, wo kleine Jungen Erdnüsse und kühle Getränke verkauften, und hinaus zu den saftiggrünen Mangohainen. Sie würde das alles vermissen. Das Haus mit den zwei Zimmern, das sie gemietet hatte, stand jetzt leer, der rohe Betonboden war gefegt und gewischt. Und die Veranda, auf der sie ihre Patienten behandelt hatte, war ebenfalls leer. Verschwunden waren der Untersuchungstisch, der kleine Tisch, auf dem ihre Ausrüstung gelegen hatte, der hölzerne Stuhl, über den sie am Ende des Tages ihren weißen Kittel mit den Kugelschreibern in der Brusttasche gehängt hatte.

Angefangen hatte es mit einer Handvoll Schlamm. Sie sagte sich, daß der Wind eine Kokosnuß oder ein Stück Holz gegen ihr Haus geweht haben mußte. Drei Tage lang schenkte sie dem Geräusch keine Beachtung.

In der vierten Nacht das Lachen. Unmißverständlich: Jemand hielt sich den Mund zu, aber ein Prusten war ihm entwischt. Das nervöse, mädchenhafte Kichern eines jungen Mannes.

Maya rannte nach draußen und starrte in die Finsternis, konnte aber nichts sehen. Nichts ist dunkler als eine mondlose Nacht in Rajshahi.

Geendet hatte es Monate später mit dem Blinken eines Messers. Sie sah es wieder vor sich: Eine geschmeidige, helle Bewegung wie das Zungenlecken einer Katze, und etwas weiß Aufblitzendes, das ihr ins Auge fiel, der Saum eines langen Gewands, das über dem Knöchel eines Mannes schwebte, als er aus dem Zimmer schlüpfte und verschwand. Mayas Hand fuhr an ihre Kehle, an den Wundschorf, der dort noch schwarz und anklagend zu spüren war. Der Mann hatte sie nicht geschnitten, er hatte das Messer nur an ihren Hals gedrückt: Damit gab er ihr zu verstehen, daß sie noch nicht miteinander fertig seien, daß er jeden Augenblick wieder erscheinen und die Sache zum Abschluß bringen konnte.

Ja, das Dorf würde ihr fehlen. Nazia und das Haus und die Mangos und der Weg rund um den Teich. Aber die Katzenzunge dieses Messers und die Narbe an ihrem Hals bedeuteten, daß sie wahrscheinlich nie mehr zurückkehren würde.

*

Kurz bevor der Zug losfuhr, belegte ein Ehepaar mit zwei kleinen Kindern die Bank gegenüber. Die Mutter hielt eines der zwei kleinen Kinder auf dem Schoß, das ältere saß eingeklemmt zwischen den Eltern. Die Mutter lächelte schüchtern; Maya vermutete, daß es ihre erste Zugfahrt war – ihr Nasenschmuck glänzte, an den Handgelenken trug sie zwei dünne Goldreife, ihr gesamtes Vermögen.

Es war wirklich kein großer Verlust, daß die Frau ihres Bruders nicht mehr lebte. Die Aussicht auf das Zusammentreffen mit Silvi – schrecklich fromm, das Gesicht straff von dem Kopftuch eingefaßt, ohne das man sie seit dem Krieg nicht mehr gesehen hatte – war es gewesen, was Maya von der Heimkehr abgehalten hatte. Natürlich war auch ihr Bruder Sohail mit schuld. Und Ammu, die sie mit ihrer Wut allein gelassen hatte – ihrer Wut und dem verkohlten Gestank brennender Bücher, dem Geruch, der sie vertrieben und in den sieben Jahren ihrer Abwesenheit nie mehr verlassen hatte. Der Zug fuhr langsam durch Rajshahi und dann durch Natore, wo die Landschaft immer noch flach und trocken war. Die Gerüche der Reisfelder vermischten sich mit dem der gelb leuchtenden Senfpflanzen und der schwelenden Kuhfladen.

Die alte Frau neben ihr öffnete den Tiffinträger, dem der Duft von Dal und gebratenem Blumenkohl entströmte. Die Familie gegenüber folgte ihrem Beispiel und packte Fladenbrot und Bhaji aus. Maya wurde hungrig; sie hatte nichts für die Reise eingepackt. Die junge Mutter riß das Brot in kleine Bröckchen und steckte sie dem Baby in den Mund. Das restliche Essen gab sie an ihren Mann weiter, den sie nicht ansah, als er den in Zeitungspapier verpackten Imbiß entgegennahm.

Das ältere Mädchen wollte nicht essen, zupfte ihre Mutter am Ellbogen und schüttelte den Kopf. Maya durchwühlte ihre Tasche und fand zwei Tamarinden-Bonbons. Sie bot der Kleinen eines davon an; sie stand auf, kletterte auf Mayas Schoß und nahm sich das Bonbon von ihrer ausgestreckten Hand. Die Mutter wollte protestieren, aber Maya winkte ab. »Schon in Ordnung«, sagte sie. Die Kleine zog die Knie an die Brust und schlief ein. Maya mußte ebenfalls geschlafen haben; als sie die Augen wieder aufmachte, lag das Mädchen schwer in ihren Armen, und der Zug war schon fast am Bahadurabad Ghat. Jemand rüttelte an ihrer Schulter. Die alte Frau zeigte auf ihren Tiffinbehälter, in dem noch ein Stück Fladenbrot und ein Restchen Reispudding waren.

»Iß«, sagte sie und kniff Maya in die Wange, »du bist zu dünn. Wer soll dich da heiraten?«

*

In Bahadurabad ging Maya auf die Fähre. Es war mittlerweile Nachmittag, und die Sonne tanzte auf dem unendlich breiten Fluß. Sie hielt dem Fährmann die Fahrkarte hin und bahnte sich einen Weg hinauf aufs Oberdeck, wo sie die einzige Frau war, die bereit war, in der prallen Sonne zu sitzen. Der Padma schwappte sanft gegen das Fährschiff, ohne die Macht seiner Strömung zu verraten. Maya kaute auf trockenen Keksen herum und versuchte sich zu erinnern, ob dies dasselbe Boot war, das sie nach Rajshahi gebracht hatte. Es hatte einen seltsamen Namen gehabt. »Hey!« rief sie einem kleinen Jungen in Uniform zu, »wie heißt das Boot hier?«

»Padma

Es mußte ein anderes Boot gewesen sein. Die Reise damals, als sie von zu Hause geflohen war, schien Ewigkeiten her zu sein. Sie hatte bei ihrer alten Freundin Sultana Zuflucht gesucht. Beide hatten während des Krieges in den Flüchtlingslagern ausgeholfen, wo Sultana alle damit schockiert hatte, daß sie den Lastwagen mit Hilfslieferungen selbst gefahren hatte. Maya dachte immer an das, was Sultana ihr in jenem langen Sommer vor der Unabhängigkeit erzählt hatte: Daß sie davon träume, nach Hause zu gehen, wenn der Krieg vorbei war, nicht in die Stadt, sondern zurück in das Dorf ihres Vaters. »Ich will die Erde unter meinen Füßen spüren«, hatte sie gesagt. Nach der Bücherverbrennung, als Maya gehen mußte, hatte sie Sultana angerufen und gefragt, ob sie bei ihr unterkommen könne. Sultana berichtete ihr, daß sie vor kurzem einen Mann geheiratet habe, den sie seit der Kindheit kenne, einen jungen Arzt. Sie arbeiteten zusammen in einer Klinik in Tangail; Maya könnte kommen, sie könnten ihre Hilfe gebrauchen.

Drei Monate war sie geblieben, aber Tangail war Dhaka zu nah gewesen. Tag für Tag hatte Maya den Bussen hinterhergeschaut, die in Richtung Hauptstadt fuhren, und sich selbst herausgefordert: Steig einfach ein und fahr nach Hause! Außerdem waren Sultana und ihr Mann frisch verheiratet. Maya überraschte sie in der Küche, wie sie sich mit offenem Mund küßten, seine Hände in ihrem Haar.

Sie ging, reiste in Zügen, Fähren und Rikschas durchs Land, bis sie schließlich am Universitätskrankenhaus in Rajshahi landete. Sie meldete sich anfangs wieder als freiwillige Arzthelferin, dann bewarb sie sich um eine Stelle als Assistenzärztin. Nach zwei Jahren am Krankenhaus erhielt sie die Zulassung und konnte eine eigene Arztpraxis eröffnen. Nazia war diejenige gewesen, die sie auf die Idee gebracht hatte, Nazia, die den langen Weg in die Stadt hinten auf einem tuckernden Dreiradtransporter zurückgelegt hatte, mit einem Baby in Steißlage. Einfach unmöglich, argumentierte Maya, daß die Frauen den langen Weg ins Krankenhaus schaffen mußten, um ihre Kinder zu gebären. Zu viele Kinder starben.

Sie hatte irgendwann beschlossen, Frauenärztin zu werden und nicht Chirurgin. Sie hatte erlebt, wie sich die Gesichter der Schwangeren entspannten, wenn sie als Frau in das Untersuchungszimmer trat. Damals sagte sie sich, daß es eine rein praktische Überlegung war. Jeder konnte Chirurg werden, aber was wirklich gebraucht wurde, war eine Ärztin für Frauen – eine Ärztin, die die Kinder zur Welt bringen und hinterher die Wunden vernähen und die Frauen in Verhütungsmethoden unterrichten konnte. Sie dachte nicht an die Schuld, die sie zurückzahlte, daß jedes der Kinder, die sie auf die Welt brachte, eines Tages gegen die Kinder aufgewogen würde, die nach dem Krieg von ihrer Hand gestorben waren.

Es hatte noch nie eine Ambulanz oder Arztpraxis im Dorf gegeben. Nazia erzählte überall herum, wie Maya sie und ihr Ungeborenes vor dem sicheren Tod gerettet hatte, wie sie die Schwestern im Krankenhaus herumkommandiert hatte, wie geschickt sie ihr die Spritze in den Arm gegeben hatte. In diesem Jahr brachte Maya der gesamten Dorfbevölkerung vor dem Monsun bei, wie man Rehydrierungsflüssigkeit selbst herstellte: Eine Tasse voll Melasse, eine Prise Salz, einen Krug abgekochtes Wasser. Und die Monsunzeit verging, ohne daß ein einziges Kind starb. Als sie im Jahr darauf beim Bezirk eine Eingabe für eine Brunnenbohrung machte und Erfolg hatte, glaubte sie, die Herzen der Dorfbevölkerung gewonnen zu haben.

Nazia und Masud bekamen ein weiteres Kind. Sie nannten es Maya.

Als die Fähre in Jaggannathganj anlegte, war es schon dunkel. Maya sah auf die Uhr, ob sie wohl den letzten Zug noch erreichen würde. Der Baum in ihren Armen war schwer, und die Zweige kratzten sie an der Schulter. Sie mußte es versuchen; ein Hotel würde hier nur schwer zu finden sein und eine Menge Fragen mit sich bringen: Warum sie allein reiste, warum sie keinen Mann bei sich hatte, keinen Ehemann oder Vater.

Im Bahnhof sah sie die alte Frau aus dem Zug wieder, mit offenem Tiffinbehälter. Maya war seltsam bewegt, sie wiederzusehen, schwenkte begeistert die Arme und ging zu ihr hin. Die Frau winkte sie zu sich.

»Iß, iß«, sagte sie.

»Wie kann das sein«, sagte Maya, »daß Ihre Tiffindose immer voll ist?«

Die Alte lächelte und zeigte ihre winzigen, betelverfärbten Zähne. Maya hatte auf einmal schrecklichen Hunger und tunkte ein Stück Fladenbrot in das angebotene Curry.

Stunden später tauchte der Nachtzug aus dem geschmolzenen Schwarz der Nacht auf und fuhr in den Bahnhof ein, und Maya half der alten Frau beim Einsteigen. Fünf Stunden bis Dhaka, flüsterte sie sich selbst zu und sagte die Namen der Städte auf dem Weg dorthin auf: Sirajganj, Mymensingh, Gafargaon. Nur noch fünf Stunden.

*

Maya hatte erwartet, daß der Anblick Dhakas sie überwältigen würde. Sie hatte sich vorgestellt, daß sie sentimental werden und sich nachdrücklich würde daran erinnern müssen, wie notwendig die letzten sieben Jahre im Exil gewesen waren. Sie hatte sich vorgestellt, wie sie in den kühlen Februarmorgen, an dem die Wolken über den Himmel jagten, hinaustreten würde, und ihr ganzes altes Leben wäre mit einem Schlag wieder da: Die vielen Semester an der Uni, die Rikschafahrten zum Ramna Park, zum Modhumita Cinema und zur Pferderennbahn, und sie würde all die Jahre draußen auf dem Land bereuen. Doch als sie vor die Kamalpur Station trat, sah sie, daß alles häßlich und so laut war, als hätte jemand einen Lautstärkeregler voll aufgedreht. Es stank nach Menschen und Müll und Ruß. Alles war unglaublich in die Höhe geschossen – es gab Gebäude mit fünf oder sechs Stockwerken. Ihr Rikschafahrer hatte alle Mühe, auf der Mirpur Road zwischen den vielen Autos mit den ungeduldig plärrenden Hupen hindurchzukommen. Hinweise auf den Diktator waren allgegenwärtig: Graffiti an den Wänden nannten ihn den »General unserer Herzen« und den »Retter Bangladeschs«; überall standen fünf, sieben Meter hohe Plakatwände, auf denen er mit seiner hohen Stirn und dem schmalen, selbstzufrieden wirkenden Schnurrbärtchen zu sehen war.

Eine Stunde später stand Maya, ihren Rucksack ganz fest im Arm, vor ihrem Elternhaus Nummer 25, und fragte sich, was sie darin wohl vorfinden würde.

Ihre Augen versuchten, sich an das neue Aussehen des Hauses zu gewöhnen. Es war wesentlich heruntergekommener, als sie es in Erinnerung hatte. Hier liefen graue Streifen an der Rückwand herunter, wo die Regenrinne undicht geworden war; dort senkte sich das Fundament ab, als ob es langsam, aber sicher wieder in die Erde zurückwollte. Und obendrauf die Ansammlung kleinerer Verschläge, aus denen das Obergeschoß bestand, von ihrem Bruder von Hand aus Ziegeln, Wellblech und Jute gebaut. Es sah aus, als ob ein ganzes Dorf vom Himmel gefallen und auf ihrem Flachdach gelandet sei.

Früher hatte sie dieses Haus geliebt. Es war der einzige Ort, an dem die Erinnerungen an ihren Vater noch lebendig gewesen waren – seine Ellbogen auf dem Eßtisch, seine Schritte auf der Veranda. Wie er aus den Chappals geschlüpft war und die Füße aufs Bett gelegt hatte. Der Geruch seines Tweedanzugs an einem schwülen Tag. In diesem Haus lebten alle Gedanken, alle Hoffnungen, alle falschen Vorstellungen, die sie je von ihrem Leben gehabt hatte, vom Krieg, den sie gekämpft und gewonnen hatten, von ihrer Zukunft und der ihres Bruders. Doch als alles vorbei war, das Morden und der Waffenstillstand und die Gründung des neuen Landes, war ihr Bruder in die eine Richtung gegangen und sie in die andere. Und nichts davon hatte sie vorhergesehen.

Steh hier nicht dumm rum, ermahnte sie sich selbst. Reiß dich zusammen und geh rein.

Im Haus war alles still und blitzblank. Die Holzlehnen des Sofas glänzten. Der kleine Messingleuchter war poliert, der Spitzenläufer lag gestärkt und perfekt in der Tischmitte. Die Kissenzipfel ragten nach oben. Jetzt fiel ihr wieder ein, daß ihre Mutter den Haushalt stets so in Ordnung hielt, als könnte jede Minute ein Gast eintreffen und mit dem Finger über das Fensterbrett fahren, ob da Staub lag.

Das Haus war bescheiden: Drei nebeneinander angeordnete Zimmer, die auf der Gartenseite durch eine Veranda miteinander verbunden wurden. Am Ende lag die Küche mit eigener kleiner Terrasse. Dahin wandte sie sich jetzt, weil sie sicher war, daß sie ihre Mutter über den Herd gebeugt oder beim Abwasch finden würde.

Statt dessen war die ganze Küche voller Frauen. Sie trugen lange schwarze Burkas und hockten vor dem Mahlstein, dem Spülbecken, dem Herd. Unsicher blieb Maya in der Tür stehen, weil sie einen Augenblick zweifelte, ob sie wirklich im richtigen Haus war. Sie lehnte das Bäumchen an eine Wand und setzte ihre Tasche ab.

»Hallo?«

Eine der Frauen erhob sich, um sie zu begrüßen. Das Gesicht war unter dem losen schwarzen Tuch nicht zu erkennen. »As-salamu ‘alaikum«, sagte sie.

»Wa ‘alaikum as-salam.«

Die Frau faßte nach Mayas Hand. »Wir trauern um unsere Schwester«, sagte sie und wandte sich dann wieder ihrer Aufgabe zu, dem Schälen von Gurken über einer Wasserschale. Maya hatte das Gefühl, als würde sie schon lange dastehen und ihr zusehen. Keine der anderen sprach sie an. Sie nahm ihre Sachen und ging aus der Küche. Wo war Ammu? Sie wollte sie auf der Stelle sehen. Im Badezimmer beugte sich Maya über das Waschbecken und spritzte sich etwas Wasser ins Gesicht. Sie flocht ihren Zopf neu und bereitete sich auf den Augenblick vor, in dem sie ihre Mutter endlich wiedersehen würde. Als sie aus dem Bad kam, wartete im Flur eine Frau auf sie. »Es geht jetzt los«, sagte sie und führte Maya ins Wohnzimmer.

Die in Burkas gekleideten Frauen waren damit beschäftigt, das Zimmer umzuräumen. Sie schoben das Sofa an die Wand, hoben den Eßtisch hoch und kippten ihn auf die Seite. Ein Bilderrahmen mit dem Foto ihres Vaters wurde umgedreht. Das Aquarell, das Sohail von der siebenjährigen Maya mit gelben und roten Bändern im Haar gemalt hatte, wurde mit einem Kissenüberzug verhängt. Als der Muezzin zum Gebet rief, arbeiteten sie noch schneller, breiteten weiße Laken auf dem Teppich aus, entzündeten Räucherstäbchen und füllten einen langen Silberbehälter mit Rosenwasser. Schließlich hängten sie ein Bettlaken mitten ins Zimmer und unterteilten es so in zwei Hälften.

Maya wurde hinter das Laken ins Zimmer geschoben. »Bitte bedecke deinen Kopf«, sagte die Frau.

Maya hielt sie am Ellbogen fest. »Weißt du, wo meine Mutter ist?«

Die Frau schüttelte den Kopf.

»Rehana Haque. Das hier ist ihr Haus.«

Die Frau zog Maya mit festem Griff an sich. »Doa koro, apa«, sagte sie. Bete, Schwester.

Noch konnte sie hinausrennen und nach ihrer Mutter suchen. Vielleicht war sie im Club, oder sie besuchte eine Freundin. Sie konnte auch auf dem Friedhof sein und Blumen auf Abbus Grab legen. Aber jetzt war es schon zu voll im Zimmer, und Maya konnte nicht mehr weg. Immer mehr Frauen erschienen und nahmen jeden Quadratzentimeter Teppich ein. Sie standen Schulter an Schulter und hielten einander an den Händen. Maya wich an die Wand zurück. Sie hörte die Männer hereinschlurfen, die als Schattenfiguren auf dem Laken zu sehen waren, eine Gebetskappe neben der anderen. Ein Mann löste sich von der Gruppe und stellte sich in der Zimmermitte auf. Er räusperte sich und fing mit hoher, nasaler Stimme an: Al-hamdu li-llah rabbi l-alimin, Preis sei Gott, dem Herrn der Welten. Während er das Gebet sprach, sah Maya ihre Mutter zum Vorhang hereinschlüpfen. Ihr stockte der Atem. Sie hätte am liebsten laut losgeschrieen. Sie ruderte mit den Armen. »Ma!« rief sie im Flüsterton. Rehana sah sich suchend um. Der Huzur erhob die Stimme. Ammu richtete den Blick auf Maya und stand einen Augenblick ganz still, nur ihre Hände flatterten in Richtung ihres Gesichts. Maya spürte es in Augen und Kehle brennen. Sieben Jahre vergangen. Dann der Anflug eines Lächelns. Ammu bahnte sich mit ausgebreiteten Armen einen Weg durch die vielen Frauen, und schon tauchte Maya in die Wolke aus Kokosöl in ihrem Haar und Ingwer an ihren Fingern ein. »Wann bist du angekommen?« flüsterte sie. All die Jahre zwischen ihnen eingeschlossen im Bernstein ihrer Stimme.

»Eben gerade. Was ist hier los?«

»Die Trauerfeier für Silvi.«

Natürlich. Silvi war wenige Stunden nach ihrem Tod begraben worden, aber dies war ihre Milad, die Koranrezitationsfeier zu ihrem Gedenken, drei Tage nach dem Tod.

Sieben Monate nach dem Weggang ins selbstauferlegte Exil hatte Maya ihrer Mutter geschrieben. Ich bin Dir nicht böse, hatte sie den Brief begonnen. Aber ich kann nicht nach Hause kommen.

Fast ein Jahr lang hatte Ammu nicht geantwortet. Diese Monate waren Maya endlos vorgekommen. Sie hatte sich die zornigen Worte ihrer Mutter vorgestellt, wenn diese sich fragte, ob das Schweigen endlos dauern würde, und sie wünschte sich, sie hätte den Brief nie abgeschickt. Doch als Ammus Antwortbrief dann endlich kam, war er voller Neuigkeiten von den Veränderungen am Haus, den Nachbarn, dem Garten. Sie verriet keinerlei Ärger, aber sie bat Maya auch nicht, heimzukehren. Und so korrespondierten sie miteinander, tauschten langatmige Höflichkeiten aus, lange Absätze über das Wetter, erzählten einander alles und nichts.

Der Huzur predigte weiter. Die Frauen schwankten im Rhythmus der Worte vor und zurück. Maya kam der Gedanke, daß es ähnlich zugegangen sein mußte, als ihr Vater gestorben war, Männer in weißen Käppchen, Rosenwasserduft im Haus. Sie sah schnell zu ihrer Mutter hinüber. Ammu wischte sich mit dem Handrücken Tränen aus dem Gesicht. Sie sah aus wie immer.

Der Huzur sprach jetzt von Silvi. Wie gläubig sie gewesen sei, wie gut. Wie fromm. Maya saß zwischen den Trauergästen, von denen keiner weinte, weil man als Muslim sittsam zu trauern hat, und fragte sich, wie sie so lange hatte wegbleiben können – von diesem Haus und dieser Stadt und dieser Mutter und diesem Bruder. Und auch wenn sie ihr Exil selbst gewählt hatte, schien sich jetzt bereits eine dicke Haut darüber gebildet zu haben. Es war ihr jetzt schon ein völliges Rätsel. Hinter dem Vorhang standen ihr gerade verwitweter Bruder und sein Sohn Zaid. Sie stellte sich das Wiedersehen mit ihm vor, was für einen dichten Bart er haben mußte, und erinnerte sich daran, wie sehr sie ihn früher geliebt hatte, wie stark das Bedürfnis gewesen war, daß er wie sie sein sollte, wie sie sich von ihm abgewandt hatte, als er Gott gefunden hatte, wie sehr sie es ihm persönlich übelgenommen hatte, als hätte er es nur getan, um sie vor den Kopf zu stoßen.

Als Ammu beim Abschlußgebet die Augen schloß, betrachtete Maya sie eingehender. Vielleicht sah sie doch ein wenig gealtert aus. Tiefe dunkle Ringe unter den Augen, eine Falte auf der Stirn. Doch erst als alle Amen gesagt hatten und ihre Mutter sich wieder mit tränennassen Wangen zu ihr umdrehte und sie anlächelte, sah Maya, daß einer ihrer Backenzähne fehlte. Da nahmen all die Jahre Form an – die Form dieses Backenzahns, eine leere Stelle.

Maya hatte Nazia von dem Schlamm an der Wand und dem Lachen erzählt. Nazia war empört. »Diese Verbrecher«, sagte sie und fächelte sich Luft zu. »Wenn das jetzt ein Junge wird, dann schließe ich ihn zu Hause ein und lass’ ihn nur zur Schule raus.«

Es war so heiß wie noch nie. Niemand konnte sich erinnern, daß ein Sari je so schnell auf der Wäscheleine getrocknet war, die Chilis noch auf dem Feld zu Hülsen eingeschrumpft waren. Der Teich war bereits kleiner geworden, und es hieß, daß die Mangoernte gefährdet war. »Ich weiß«, sagte Maya. »Laß uns schwimmen gehen. Es ist so heiß, ich dreh noch durch.«

»Wirklich? Dürfen wir das?«

Zögern. Es gab Regeln, was schwangere Frauen tun, wo sie baden durften, aber Maya wischte das alles beiseite: Niemand glaubte noch an so etwas. Sie hielt den Frauen jetzt seit Jahren Vorträge, über Wissenschaft und Aberglauben und ihre Rechte. »Warum nicht?« sagte sie zu Nazia. Später dachte sie wieder daran, an das kurze Zögern, bevor sie ja gesagt hatte, aber an dem Tag konnte sie nur an eins denken, und das war das Wasser, das kühle grüne Naß, das die Folterqualen der Hitze etwas lindern würde.

Sie saßen auf der Treppe, die hinunter zum Teich führte, die Füße im Wasser. Nazia ging ganz hinein und tauchte den Kopf unter. »Subhan allah!« rief sie aus, »gepriesen sei Gott für das Wasser!«

»Wenn meine Frau sich die Füße kühlen möchte«, erklärte Masud, »dann kann niemand sie davon abhalten.«

Die Männer des Dorfes hatten sich kopfschüttelnd bei ihm vorm Haus eingefunden. Eine schwangere Frau im Teich? Das war zuviel.

Sie hockten eng um das Kochfeuer an jenem Abend, Maya und Nazia, und fachten die Glut der kleinen glimmenden Holzstücke an, bis die Flammen über den Topf schlugen.

»Was für ein Aufstand«, sagte Nazia. »Angeblich wird eine Versammlung abgehalten.«

»Kümmere dich gar nicht darum«, antwortete Maya. »Was zählt, ist doch, daß Masud ein guter Mann ist. Die anderen geben schon irgendwann wieder Ruhe.« Sie sagte ihrer Freundin nichts davon, daß sie die Jungen wieder vor ihrem Fenster gehört hatte. Seitdem schlief sie bei geschlossenen Fenstern, und die stehende heiße Luft nahm ihr den Atem.

*

Nach der Milad gingen die Frauen mit Terrinen voller Essen herum. Ammu spielte die Gastgeberin und forderte alle zum Essen auf. Jemand hielt Maya einen Teller hin, aber sie lehnte ab; die Zunge lag ihr wie Blei im Mund. Sie fühlte sich auf einmal unglaublich müde und überlegte, ob sie sich in Sohails Kinderzimmer zurückziehen und kurz hinlegen sollte. Es würde niemandem auffallen. Sie schloß die Augen und hörte Schritte um sich herum. Ihr Kopf fiel immer wieder zur Seite, und als sie die Augen wieder aufmachte, war das Zimmer leer.

Sie fand Ammu in der Küche.

»Ma?«

»Ach, da bist du ja wieder. Ich wollte dich nicht wecken.«

Maya hatte immer noch schrecklich schwere Lider, machte ein paar Schritte und schwankte. Ammu führte sie zurück zum Sofa. Sie wollte sich mit Ammu unterhalten, ihr von Nazia und dem Schlamm an ihrem Fenster erzählen. Und von den Peitschenhieben. Sie wollte ihr unbedingt von den Peitschenhieben erzählen. Aber daß Ammu sie angelächelt und zärtlich begrüßt hatte, machte all die Jahre noch lange nicht ungeschehen. Sie ließ sich aufs Sofa fallen und konnte die Augen kaum offenhalten. »Ich muß dir etwas erzählen.«

»Wie bist du denn hergekommen?«

»Erst Zug, dann Fähre, dann wieder Zug.«

»Du mußt schrecklich müde sein. Leg dich doch ein bißchen hin.«

Maya merkte, wie sie schon wieder eindöste. »Ich habe dir einen Baum mitgebracht.«

»Ich wecke dich nachher wieder auf. Es ist erst drei.«

Maya machte die Augen weit auf. Vor der Wand stand eine braune Kiste. Sie war bisher nicht zu sehen gewesen – die Frauen von oben hatten ein Tischtuch darübergebreitet. »Seit wann hast du das denn?« fragte Maya, rappelte sich auf und untersuchte das Ding.

Ammus Gesicht hellte sich auf. »Ein kleines Geschenk für mich selbst.«

»Ehrlich?«

»Ich habe ganz lange gespart. Zwei Jahre lang, alles, was von der Miete übrig war. Ein Deutscher wohnt jetzt bei uns im großen Haus, der zahlt seine Miete immer pünktlich. Hast du noch nie Magnum gesehen?«

»In Rajshahi gibt es kein Fernsehen.«

Ammu riß die Augen in gespieltem Schrecken auf. »Das ist ja furchtbar.«

Beide lachten. Ammu klang so begeistert, daß es die Einsamkeit fast vergessen machte: Wie sie mit einem Teller auf den Knien darauf wartete, daß um acht die BTV-Nachrichten anfingen.

Maya ließ den Kopf in das kühle Kissen sinken. Nur eine Minute, dachte sie, dann überreiche ich Ammu ihren Mangobaum und erkläre ihr alles. Sie schlief. Bei Sonnenuntergang fiel das Licht in roten Streifen durch die Jalousie ein, und später kam Ammu ins Zimmer und deckte sie zu. Sie hörte den Ruf des Muezzin, als der Tag zu Ende ging. Ein Flüstern in ihrem Ohr: Ob sie etwas essen wolle? Sie schlang die Hand um das Knie ihrer Mutter. Nein. Später schlüpfte eine Katze ins Zimmer und legte sich auf ihre Füße. Sie spürte den schnellen Herzschlag, die Hitze, die von dem kleinen Körper ausstrahlte.

Sie träumte von Rajshahi.

In ihrem Traum ist es das Ananasfeld, mit dem alles endet. Es ist ein Tag, an dem sie stolz mit dem Stethoskop um den Hals im Dorf herumläuft. Keine Goldkettchen; sie ist Ärztin. Früh an diesem Morgen hat sie einer Mutter und deren Zwillingssöhnen das Leben gerettet und den Notkaiserschnitt selbst durchgeführt, hat im perfekten Rhythmus geschnitten und genäht und die Hände tief in die doppelt belegte Gebärmutter versenkt. Und obwohl sie der Familie gesagt hat, daß sie die Kinder genauso hätten lieben müssen, wenn es Mädchen geworden wären, hat sie die Umarmungen der Frauen, ihre Erleichterung genossen. Maya kaut auf dem dreieckigen Betelpäckchen herum, das sie ihr angeboten haben. Jetzt durchquert sie mit langen Schritten das Dorf und läuft den Pfad entlang, der zur Hauptstraße führt. Mit schwingenden Armen, den Januarwind im Gesicht, geht sie am Teich vorbei, wo sie dem Jungen zuwinkt, dessen Bruder letztes Jahr von einer Schlange gebissen wurde (an dem Tag kam sie zu spät), duckt sich unter zwei Mangobäumen hindurch und entschließt sich zu einer Abkürzung durch das Ananasfeld. Schon nach wenigen Schritten, die Sonne brennt hoch am Himmel, sieht der Acker größer aus, als sie gedacht hat, aber sie ist nicht der Typ, der kehrtmacht. Also hebt sie den Sari bis zu den Waden und steigt vorsichtig über die scharfgezähnten Blätter der Ananaspflanzen hinweg. Zu gern würde sie einen Blattschopf auseinanderziehen und nachsehen, ob irgendwo schon eine Joldugi reif ist, aber sie weiß, daß dies nicht die Jahreszeit dafür ist. Trotzdem ist die Luft süß und voller Bienen, und als sie am Ende des Ackers angekommen ist, läßt sie den Saum ihres Saris sinken und geht weiter, ein Kinderlied vor sich hin summend, das ihr die kleine Maya am Vorabend beigebracht hat. Und dann sieht sie die Versammlung. Ein Dutzend Männer in einem Kreis. Masud steht in der Mitte. »Die Ärztin ist es«, sagt er. »Sie ist schuld an dem ganzen Ärger.«

Maya erwachte im Dunkeln. Sie hatte einen Salwar Kamiz von Ammu an, der an den Ellbogen fadenscheinig war und nach Waschpulver roch. Aus reiner Gewohnheit fühlte sie nach dem Schorf an ihrem Hals. Er war hart und wollte nicht abgehen, als sie an den Rändern kratzte. Sie legte sich die Decke um die Schultern und ging ihre Mutter suchen. Ammu war schon im Bett und kämmte sich gerade mit einem Plastikkamm die Haare.

»Ich dachte, du würdest die ganze Nacht weiterschlafen.«

Maya tauchte unter das Moskitonetz und stieg zu ihrer Mutter ins Bett. »Ich wußte nicht, daß ich so müde war.«

Rehana teilte ihr Haar in der Mitte, zog einen schnurgeraden Scheitel und fing an, eine Seite zu flechten. Das Ritual ließ Maya an all die Morgen vor der Schule zurückdenken, an denen sie zehn Minuten früher als Sohail hatte aufstehen müssen, damit ihre Haare eingeölt, geflochten und mit Schleifen versehen werden konnten. Sie dachte jetzt an ihren Bruder, der immer Hand in Hand mit ihr durchs Schultor gegangen war.

»Erzähl mir von Sohail.« In ihren vielen Briefen hatte Ammu so wenig von ihm berichtet – nur, daß er und Silvi oben ins Haus gezogen waren, daß seine Frau einen Sohn zur Welt gebracht hatte, daß sie die junge Familie fast nie sah, weil sie so beschäftigt mit ihrem Glauben war.

Ammu kämmte weiter ihre Haare durch und fing an zu erzählen. Die Bewegung, der sie angehörten, nannte sich Tablighi Jamaat. Die Gemeinschaft der Verkündigung und Mission. Silvi hatte oben Versammlungen abgehalten und den Frauen beigebracht, was sie als gute Muslime wissen mußten. Über Gott, die Männer und die Moral. Geschlechtertrennung und Sex. Das Leben des Propheten. Seine Frauen, Aischa und Khadija und Zainab. Die Kindererziehung. Wie man sich als Strenggläubige zu verhalten hat. Und Sohail hatte auch seine Gruppe von Anhängern in der Moschee; viele Männer hatten sich unter seiner Anleitung bereits zum Din – dem Glauben – bekehrt. Die brachten dann ihre Freunde und ihre auf Abwege geratenen Söhne mit, und Sohail sagte ihnen, was sie glauben und wie sie leben sollten. Er galt als heiliger Mann.

»Die haben zwanzig oder dreißig Leute da oben wohnen. Tagsüber sind es fast hundert.« Sohail und Silvi waren, schon bald nachdem Maya weggegangen war, oben eingezogen. Angefangen hatten sie mit dem einen gemauerten Raum vorn, dann war eine Außentreppe angebaut worden, damit sie kommen und gehen konnten, ohne Ammu zu stören. Dann waren die Verschläge aus Wellblech, die Toilette, die Küche dazugekommen.

»Woran ist Silvi gestorben?«

»Sie hatte Gelbsucht. Das wurde erst klar, als es schon zu spät war.«

Maya stellte sich vor, wie Silvis Haut gelb geworden war und ihre Augen die Farbe von Eidottern angenommen hatten. »Und Bhaiya?«

»Ihm ist nur das Leben nach dem Tod wichtig.«

»Aber jetzt, ohne Silvi«, sagte Maya, »wird sich ja sicher so einiges ändern.«

»Kann sein«, erwiderte Ammu vage. »Komm, ich kämme dir auch die Haare.«

Maya rutschte näher zu ihrer Mutter hinüber, setzte sich dann aber nicht aufrecht vor sie hin, sondern legte den Kopf in ihren Schoß. Ammu strich ihr mit der Hand über die Stirn. »Ich kann es immer noch nicht richtig glauben«, sagte sie.

Mayas Augen fingen an zu brennen. Worte stiegen in ihrer Kehle auf. Ammu fuhr ihr mit den Fingern durchs Haar und massierte ihr sanft die Kopfhaut.

»Was ist das denn?« Sie schob die Haare von Mayas Hals weg und starrte ihn an.

»Ach, nichts, nur ein Kratzer.«

»Was, am Hals?«

»Es ist eine lange Geschichte, Ammu.« Maya richtete sich auf und zog die Haare über den Hals.

»Erzähl sie mir.«

Einhundertundein Peitschenhiebe waren die Strafe. Masud kam von der Versammlung zurück und spuckte seiner Frau die Worte ins Gesicht. »Hundertundeinen«, sagte er. »Und das hast du auch verdient.«

Maya trat zwischen Nazia und ihren Mann. »Wofür?«

»Dafür, daß sie mich betrogen hat. Das Kind ist nicht von mir.«

Es ist kein Fluch, hatte Maya ihnen erklärt, es ist das Down-Syndrom. Der Säugling wird anders sein, er wird Probleme haben, aber er wird überleben. Ich kann euch zeigen, wie man ihn versorgt.

Der hat doch Schlitzaugen, hatte Masud gesagt. Guck dir die platte Nase an – hast du’s mit einem Chinesen getrieben, Frau, ja, mit einem Schlitzauge?

Er ging zu der Versammlung. Er sagte es den anderen Männern. Sie meinten, sie hätten gewußt, daß etwas nicht stimmte, seit dem Tag, an dem sie und die Frau Doktor im Teich gebadet hatten.

Das Schlitzauge ist nicht von mir. Du verdammte verlogene Hure.

Einhundertundein Peitschenhiebe waren die Strafe.

Eins, ein blutiger Striemen wie ein Fragezeichen, wo die Peitsche sich um ihre Wade gewickelt hatte.

Heb den Sari hoch!

Hure!

Am Ende, als Maya die einzige noch verbliebene Zuschauerin war und sie sich verzählt hatte, dachte, daß es schon einhundertundeins wären, obwohl es erst hundert waren, ging sie zu ihrer Freundin hin, und die Peitsche traf sie auf dem Weg zu ihr, stach sie wie ein hungriges Insekt und ließ sie das Wort verschlucken, das sie hatte sagen wollen. Shesh. Fertig. Sie hatte zu früh gesprochen. Statt ein Trostwort sagen zu können, wurde sie von der Peitsche gezeichnet. Blitzschnell faßte sie an ihren Hals, wo sie getroffen worden war, und hatte Blut an der Hand. Und war das nicht ein Grinsen in den Augen des Mannes? Des Mannes, der den Befehl ausführte, der das Dorf schützte, den Ruf des Dorfes.

Sie besuchte Nazia im Krankenhaus. »Bitte geh«, sagte Nazia. »Ich bin müde.« Sie lag mit verbundenen Beinen auf dem Bauch. Maya berührte ihren schwarzen, harten Fuß, und sie zuckte zusammen. »Laß mich allein«, flehte Nazia sie an.

Maya wollte dabeisein, wenn die Haut sich wieder über Nazias Wunden schloß. Sie wollte dableiben, bis die Narben verblaßt und fast unsichtbar geworden wären – dünne, wurmartige Spuren, die über ihre Beine tanzten. Nazia würde aufstehen, und sie würden zusammen Widerstand leisten. Sie würden zur Polizei gehen, sie würden die Versammlungen sprengen. Aber Nazia sagte nein, und ihr schwarzer Fuß sagte nein, und Maya verstand, daß die Wunde offenbleiben würde, daß sie das Dorf voller Wut und Protest verlassen mußte.

Als das Telegramm eintraf, überlegte sie gerade, wohin sie als nächstes gehen könnte. Vielleicht in die Berge von Chittagong, oder irgendwohin in den Norden. Sie fuhr mit den Fingern die Karte Bangladeschs nach, die blauen Adern hinauf, den Jamuna, den Meghna, sie las laut die Namen der Städte: Mymensingh, Pabna, Kushtia. Sie saß unter dem Jackfruchtbaum vor ihrem Haus und aß eine Schale mit sauren Rosenäpfeln, als der Postbote vorfuhr und das Bein über den Fahrradsattel schwenkte. Sie bot ihm die Früchte an, was er, den Blick zu Boden gerichtet, ablehnte. Dann sagte er: »Doktor, in Ihrer Familie ist jemand gestorben.«

Das war das einzige, wovor sie Angst hatte. Sie warf die Schale zu Boden und packte den Postboten an den Schultern. Er wich vor der Intimität der Berührung und den lila Flecken, den ihre Finger auf seinem Hemd hinterlassen würden, zurück.

»Ist es meine Mutter? Bitte sag’s mir schnell.« Sie kniff die Augen zu, als ob er sie jetzt schlagen würde.

»Ich weiß es nicht, ich kann kein Englisch lesen.«

Sie riß ihm das Telegramm aus der Hand und öffnete es. Silvi. Silvi war tot.

In dieser Nacht träumte sie, ihre Mutter wäre in ein weißes Leichentuch gewickelt und ihre Nasenlöcher wären mit Watte zugestopft. Am nächsten Morgen fing sie an zu packen. Durch ihren Tod hatte Silvi einen Waffenstillstand angeboten. Es war Zeit, nach Hause zu gehen.

Niemand kam, um sich von ihr zu verabschieden.

Das Haus war verändert, aber es hatte überlebt. Und sie hatte auch überlebt, zwei Zugfahrten und eine Fähre, einmal quer durchs ganze Land, und jetzt legte sie den Kopf in den Schoß ihrer Mutter und brauchte nichts mehr zu tun, als an die vielen Male zu denken, in denen sie in dieses Haus zurückgekehrt waren, sie und ihr Bruder, und alles war unverändert gewesen und doch ganz anders, und ihre Mutter hatte immer gewartet.

1Fremdsprachige Begriffe werden im Anhang in einem Glossar erläutert.