1972

Mai

Es ist das Frühjahr, nachdem er aus dem Krieg zurückgekehrt ist, und Sohail stellt fest, daß seine Hände nicht aufhören zu zittern. Er drückt sie an die Brust. Er umfaßt die Teetasse mit beiden Händen. Er steht im Schlafzimmer seiner Mutter in der Tür. Ma, will er sagen, meine Hände zittern. Kannst du ein Gebet sagen und pusten? Kannst du meine Finger an deinen festbinden? Doch er sagt nichts. Er ist kein Kind mehr; er ist ein Mann, ein Soldat, der aus dem Krieg zurück ist. Er fragt sich, ob es ihm wieder gutgehen kann, ob er jemals wieder unschuldig sein kann. Nach Piya, nach dem Töten.

Und so kam der Krieg zu ihnen ins Haus. Sohail, der Wasser aus seinem Glas verschüttet, dem der Dal vom Teller fällt. Eine verschwundene Frau. Eine zitternde Hand. Ein Schweigen zwischen Geschwistern.

Er hat einen unschuldigen Mann getötet. Der Mann war kein Feind, kein Soldat. Nur jemand, der das falsche Wort zur falschen Zeit gesagt hat. Jetzt gibt es nur noch eine Art, gut zu sein. Das Buch hat ihm gesagt, daß er gut ist, daß es in der Natur des Menschen liegt, gut zu sein. Die Worte haben ihn bekehrt, und er ist voller Liebe zum Buch. Wochen nach Piyas Verschwinden – nur eine schwache Ahnung ihres Geruchs ist zurückgeblieben, den er in der Küche zu erschnüffeln versucht, wo sie im Hocken gearbeitet hat, oder an dem Fleck auf dem Boden, wo sie ihre Schlafmatte entrollt hat – klettert er die Leiter hoch aufs Dach und sitzt im Schneidersitz unter der offenen Sonne. Es ist Mai, ein windloser, regenloser Monat, in dem nichts als Hitze vom Himmel kommt. Er sitzt da und liest die Worte. Seine Mutter hat ihm das Buch gegeben, und er liest die Worte, statt sich mit seinen Freunden zu treffen oder den Sieg zu feiern. Von weit weg hört er die alten Freunde: Es wird Zeit, mit dem Studium weiterzumachen; hör auf, deiner Mutter Sorgen zu bereiten. Mensch, komm, freu dich, der Krieg ist vorbei. Jetzt wird gefeiert.

Am meisten Angst hat er vor dem Sprechen. Ständig sieht Maya ihn gierig an und hungert nach den kleinsten Kleinigkeiten. Gestern hat er ihr etwas über das Essen im Lager der Untergrundkämpfer erzählt, wie es auf seiner Zunge tanzte, obwohl es nur ein bißchen Dal Bhat war. Das Essen der Freiheit. Gierig schluckt sie die Geschichte, und schon will sie mehr. Wie unersättlich sie ist. Er will, daß sie schweigt, damit er dem Brüllen in seinem Kopf lauschen kann. Wenn sie dieses Brüllen hören könnte, denkt er, das Brüllen des Todes, würde sie ihn vielleicht verstehen. Aber sie weigert sich, auch nur einmal lange genug den Mund zu halten. Sie blickt ihm suchend ins Gesicht, und schon fängt sie wieder an zu erzählen, wer jetzt gerade aus dem Krieg zurückgekommen ist, wer einen Sohn, wer einen Bruder verloren hat. Anderen Leuten ist Schlimmeres zugestoßen.

Ich habe gemordet. Würde er seiner Schwester vom Krieg erzählen, würde er ihr das sagen müssen. Sie will heldenhafte Geschichten hören. Sie will hören, daß er Bomben unter Brücken angebracht hat und gerade noch wegkam, bevor die brennende Zündschnur die Ladung zum Explodieren gebracht hat, und daß die zerstörten Brücken der pakistanischen Armee den Weg abgeschnitten haben und den Einwohnern des nördlichen Tangail oder Kushtia oder Bogra das Leben gerettet haben.

Doch eine solche Geschichte hat er nicht zu erzählen. Sie wird immer wütender über sein Schweigen, und selbst nachdem seine Mutter die Morgen auf dem Dach längst akzeptiert hat, folgt Maya ihm mit den Augen und schweigt ihn vorwurfsvoll an. Schweigen um Schweigen. Wenn er sie nach ihrer Arbeit im Rehabilitationszentrum für Frauen fragt, fährt sie ihn an: Glaubst du etwa, Frauen sind nicht genauso Kriegsopfer wie Männer?

Er denkt an all die Menschen, die gestorben sind – die feindlichen Soldaten, und die Leute, die er nicht gerettet hat, und sein Freund Aref und all die jungen Männer, die in den Krieg gezogen und gestorben sind. Jeden Tag denkt er an sie. Wie egoistisch von ihr, ein Stück davon abhaben zu wollen.

Ammu ist nicht gierig, aber sie macht sich Sorgen um ihn, steigt die Leiter halb hoch und ruft: Es ist schrecklich heiß da oben, Sohail, willst du nicht herunterkommen und etwas trinken?

Auf dem Dach hat er ein paar Dinge zusammengetragen. Da ist ein Zierkamm, den Piya vergessen hat, ein Oberhemd, das seinem Freund Aref gehört hat, der im letzten Sommer von der Armee erschossen worden ist. Und ein Foto seines Vaters vor dem Vauxhall. Es ist kein hübsches Foto – sein Vater war nicht hübsch, aber er hatte zuversichtlich in die Zukunft geblickt und das für ihn vorgesehene Leben gelebt. Und der Koran, von Ammu.

Zu euch ist von Gott ein Licht und ein klares Buch gekommen.

Mit diesem Buch leitet Gott diejenigen auf die Wege des Heils, die sich um Sein Wohlgefallen bemühen.

Er führt sie mit Seiner Ermächtigung aus der Finsternis ans Licht und bringt sie auf den geraden Weg.

Das Buch glaubt daran, daß er gut ist. Er beginnt darin zu lesen.

Eines Tages kommt er zu Maya und versucht, ihr davon zu erzählen. Er sagt, es sei das Schönste, was ihm in seinem ganzen Leben passiert ist. Er habe etwas gefunden, etwas, das alles erklärt. Will sie nicht wissen, was das ist? Ist sie gar nicht neugierig? Er wirkt blaß, und die Haut spannt sich über seinem Gesicht, und sie sieht, daß der Tod in ihm eine Wohnung gefunden hat, der Tod, dem er im Krieg so nah gekommen ist, er und der Tod in einem engen Korridor. Jetzt ist es wie ein Geschwür, das nicht heilen will, und er drückt sein Gesicht ganz dicht an ihres, und sie versteht, daß das, was er ihr gerade sagt, das Geschwür davon abhält, sich von seinem Gesicht in seine Knochen und von seinen Knochen in sein Blut zu fressen. Es ist ein Damm, so wie der Staudamm, der gerade in Rangamati gebaut wird, der das Wasser wie eine riesige Hand zurückhalten und den Dörfern Strom liefern wird: Es hält ihn zusammen, es gibt ihm die notwendige Energie.

In diesem Augenblick fällt Maya eine Entscheidung, eine, die sie in den folgenden Jahren noch oft bereuen wird. Sie sieht seinen leuchtenden, feuchten Augen an, daß er die Wahrheit sagt. Sie sieht, daß er ins Nichts gefallen ist und daß dieses Buch ihn, den Ertrinkenden, zurück an die Oberfläche gebracht hat, wo er wieder nach Luft schnappen kann. Auch sie selbst empfindet das Bedürfnis nach einer solchen Rettung, einem solchen Anker, einer solchen Wahrheit. Doch weil ihr urplötzlich klargeworden ist, daß die Religion mit ihrem offenen Duft und ihren wolkenlosen Strecken der Ewigkeit möglicherweise in der Tat das ist, was er behauptet, und weil diese Sehnsucht sie genauso quält, beschließt sie in diesem Augenblick, daß es nicht sein darf. Niemals wird sie jemand sein, der unter der Macht eines Schicksalsschlages zusammenbricht und sein Leben davon bestimmen läßt.

Und auch Sohail wird das nicht tun. Sie wird es nicht zulassen. Sie glaubt – oh, wie kann sie nur so dumm sein, so arrogant –, sie glaubt, daß sie in dieser Frage etwas zu sagen hat. Sie glaubt, daß sie seine Verwandlung verhindern kann. Sie glaubt, daß ihr Wille stärker ist als der Sturm in ihrem Herzen und der Sturm im Herzen ihres Bruders.

Er kommt zu ihr. »Ich habe gebetet.«

»Wofür?« Sie liest den Observer.

»Nicht für etwas Bestimmtes. Ich bete.«

»Ich bitte dich, Bhaiya«, sagt sie, »fang mir bloß nicht mit diesem ganzen religiösen Humbug an, sonst erkennen wir dich am Ende nicht wieder.« Sie wendet sich wieder der Zeitung zu und schlägt die Seite mit den Kleinanzeigen auf.

»Aber genau das bedeutet Gebet. Daß man alle anderen Gedanken und Interessen losläßt und meditiert.«

Sie sieht ihn an, und er merkt, daß sie nach dem Witz sucht.

»Ich meine das ganz ernst«, sagt er, womit er die Frage beantwortet, die sie vor lauter Verblüffung nicht stellen kann. Er zögert und wägt ab, bevor er weiterspricht. Draußen auf der Straße ist das Geschrei eines Mannes zu hören, der auf etwas schlägt, das wie ein Kochtopf klingt. »Allah, Allah, Allah. Almosen für die Armen, Almosen für die Armen.«

»Es spielt keine Rolle, was uns zu Gott bringt. Es zählt nur, daß wir zu Gott finden.«

»Hast du das von irgendeinem Mullah?«

»Nein, Maya, das ist die Wahrheit.«

»Es hat also nichts mit Piya oder mit dem Krieg zu tun? Ist sonst noch etwas passiert? Hast du etwas Schlimmes getan?«

Sie ist nah dran an der Wahrheit, zu nah. »Ich hab’s dir doch gesagt, es spielt keine Rolle.«

»Natürlich spielt es eine Rolle. Wie soll ich das Heilmittel akzeptieren, wenn ich nicht weiß, worin die Krankheit besteht?«

»Du hältst mich also für krank?«

Die Stimme des Bettlers wird lauter. »Gott vergibt euch«, schreit er. »Gott vergibt euch.«

Das Fenster hinter Maya ist vom goldenen Schein des Morgenlichts erleuchtet, das sich auf ihren Rücken ergießt und ihm in die Augen fällt. Ihr Gesicht liegt im Dunkeln, nur den Strahlenkranz ihrer Haare kann er sehen.

»Ich habe einiges darüber gelesen«, sagt sie. »Es wird Kriegsneurose genannt.«

Als er antwortet, wird ein Anklang von Zorn in seiner Stimme hörbar. »Du hörst mir nicht zu. Ich bin nicht krank. Es kann ja sein, daß es nach dem Krieg immer schwierig ist.«

»Und ich will doch nur sagen, daß das nur eine Reaktion darauf ist.«

»Aber selbst wenn dem so wäre und es mit dem Krieg zusammenhängt, kann ich trotzdem nur dankbar sein.«

Das wiederum macht Maya wütend. »Aber du hast ja wohl nicht vergessen, was sie uns im Namen Gottes angetan haben?«

»Nur weil der Name des Herrn für schreckliche Dinge mißbraucht wurde, macht ihn das noch lange nicht schlecht. Das ist der Irrtum, dem ich verfallen war.«

»Irrtum? Du meinst also, es war alles ein Irrtum?«

Sohail blickt zur Seite, weil er nicht weiß, wie er darauf reagieren soll. Er wünscht sich ja nicht, es hätte keinen Krieg gegeben oder er hätte sich nicht den Kämpfern angeschlossen, das nicht. Aber sein Leben ist nicht für den Krieg, sondern für etwas anderes bestimmt. Wie soll er ihr das erklären? Daß es einen Grund gibt, warum er überlebt hat und so viele andere gestorben sind. Er wünschte, sie würde es verstehen, würde ein bißchen verstehen, wie es war, wünschte, das Herz wäre ihr genauso schwer wie ihm, ein Herz, das sich auf irgendeine Sicherheit stützen muß, einen Weg.

Maya trinkt ihren Tee mit einem Riesenschluck aus und will den Frühstückstisch verlassen. »Ich fass’ es nicht«, sagt sie, »daß du nach alldem so was machst.«

In diesem Augenblick kommt Rehana dazu, in der Hand eine Schüssel Grieß-Halwa, das sie auf dem Herd wieder aufgewärmt hat. Sohail zeigt auf das Fenster hinter Maya.

»Da draußen ist jemand«, sagt er.

Sie sehen hinaus. Der Oberkörper des Mannes ist nackt, nur die langen, raffiniert geknoteten Haare fallen ihm bis über die Schultern. Er klopft ans Fenster. »Gott vergibt euch«, sagt er. »Gott ist voller Gnade.«

Sie starren einander einen Augenblick an, dann sagt Maya: »Und, was sagt dir dein Buch, was du mit dem Mann da draußen tun sollst, Bhaiya?«

Sohail fischt einen zusammengefalteten Geldschein aus der Tasche. Der Mann hält die Hände wie eine Schale, als das Fenster einen Spaltbreit aufgeht und der Geldschein durchgesteckt wird.

»Das war’s? Mehr tust du nicht? Du willst nicht wissen, warum dieser Mann betteln muß?«

»Frag ihn doch selbst.«

»Ich tu nicht so, als ob ich heilig wäre.«

Sohail haut mit der Faust auf den Tisch. »An mir ist nichts Heiliges, überhaupt nichts. Nur habe ich eben genug Demut, um das zuzugeben. Es gibt etwas Höheres als uns.«

»Aber jetzt guck dir doch an, was dein höheres Wesen uns beschert hat! Krieg und einen Bettler, der an die Scheibe klopft.«

»Maya«, ermahnt Rehana sie, »das reicht jetzt.«

Der Mann hebt die Hand zum Dank an die Stirn, dann wendet er sich ab und schlüpft zum offenstehenden Tor hinaus. Sohail stürmt aus der Küche und schließt sich türenknallend in seinem Zimmer ein.

Maya dreht sich zu ihrer Mutter um. »Hast du das gehört? Als nächstes verwandelt er unser Haus in eine Moschee!«

»Warum bist du nur immer so intolerant, Kind?« Sie schmiegt ihr Gesicht an das ihrer Tochter und flüstert ihr versöhnlich zu: »Er betet, und freitags geht er in die Moschee. Davor braucht man doch keine Angst zu haben. Es ist nur der Glaube.«

Rehana sollte recht behalten – anfangs zumindest. Sohail war wieder fast der alte, lächelte beim Essen, pfiff leise vor sich hin. Er besuchte Vorlesungen an der Universität, auch wenn er danach nicht auf dem Campus blieb oder an den Zusammenkünften der Studentenvertretung teilnahm. Hin und wieder sah man ihn mit seinen Freunden beim Cricketspielen auf dem Abahani Field. In jenem zweiten Sommer nach dem Krieg, als die Verfassung geschrieben und die Folgen des Zyklons überstanden waren, sagte Rehana zu Maya, sie als Mutter habe das richtige Gespür gehabt und ihr Sohn habe sich nur ganz wenig verändert. Er hatte sich noch nicht einmal einen Bart wachsen lassen.

Schlimmere Ereignisse warfen ihre Schatten. Sie hörten, daß der junge Hussain, der ein paar Jahre jünger als Sohail war, ins Wasser gegangen sei. Und der Nachbarssohn Shahabuddin hatte seine schwangere Frau verprügelt, weil er überzeugt war, daß sie ein Dämonenkind unter dem Herzen trug.

Aber die meisten jungen Leute waren so ernsthaft und folgsam wie eh und je. Sie besuchten ihren Unterricht; sie heirateten und bekamen Kinder und machten ihren Eltern jeden Abend eine warme Milch. Sie schoben ihre Erinnerungen beiseite, so gut sie konnten, und wischten sich das Blut von den Händen und vom Saum ihrer Saris. Und Rehana schlief ruhig, weil sie sicher war, daß ihr Sohn es mit seinem Glauben nicht übertreiben würde. Immerhin war sie diejenige gewesen, die ihm das Buch gegeben hatte.