1984

Dezember

»Die Chemotherapie hat nicht angeschlagen«, sagte Dr. Sattar. Er würde ein Stück ihrer Leber entfernen müssen. Als Rehana das erfuhr, lachte sie, und die anderen wußten natürlich, was sie daran so lustig fand. Kolijar tukra, Stück meiner Leber, war ein beliebtes bengalisches Kosewort, und sie hatte ihre Kinder oft so genannt. Mein Schatz, mein Herz, Stück meiner Leber. In all den Jahren hätte sie nie gedacht, daß sie eines Tages ein Teil ihres Organs würde weggeben müssen. Sie sagte: »Lassen Sie bloß noch genug davon drin, Dr. Sattar. Soweit ich weiß, habe ich nur die eine.«

Die Operation wurde gleich für den nächsten Tag angesetzt. Als Maya an diesem Abend beim Packen half, Zahnbürste, Kamm, Gebetsmatte, hatte sie das Gefühl, sie hätte sich Worte für genau diesen Fall zurechtlegen müssen. In den Monaten, die seit der Tumordiagnose ihrer Mutter vergangen waren, hätte sie sich vorbereiten sollen. Doch was hatte sie statt dessen getan? Hatte ihrer Mutter die Haare geschoren, ihr Medikamente verabreicht, war immer wieder mit ihr ins Krankenhaus gefahren, hatte kurzangebundene Anrufe bei ihren Freundinnen gemacht: Ja, es geht ihr schon besser, ja, sie hat Appetit. Vielen Dank für das Essen, das Sie ihr geschickt haben, ja, es hat ihr geschmeckt, genau, sie muß ihre Kräfte beieinanderhalten. Könnten Sie so gegen zehn kommen? Morgens fühlt sie sich meistens besser.

Und sie hatte einen gewissen Frieden mit denen von oben geschlossen. Sie konnte ohne bohrenden Zorn an ihren Bruder denken, sie konnte den abgeklärten, distanzierten Mann, der er geworden war, ansehen, und sie konnte im Bett liegen und dem chaotischen Getrappel über sich lauschen, und die Schwärme Männer und Frauen in wehenden Gewändern die Treppe rauf- und runtergehen sehen. Und ja, sie konnte sogar an den vernachlässigten Zustand des kleinen Zaid denken und sich sagen, daß alles nur eine Folge widriger Umstände war.

Sie wurde erwachsen, sagte sie sich. Da war ihre Mutter, und da war die Stadt, an die sie sich erst wieder gewöhnen mußte, und an das fehlende politische Bewußtsein, und vielleicht, ganz vielleicht, war das der Anfang eines Waffenstillstands mit Sohail. Mehr nicht. Schweigend faltete sie Rehanas Kleider, lauschte, ob schon wieder Regen auf die Blätter trommelte, damit sie eine Bemerkung über das Wetter machen konnte oder damit sie etwas über den Garten sagen konnte, daß er bald unter Wasser stehen würde, wenn es noch einen Regenguß gab. Im Kopf legte sie sich ein paar Sätze zurecht, doch keiner klang richtig. Sie dachte an etwas, das Dr. Sattar gesagt hatte. »Noch hat die Krankheit nicht gewonnen.« Daran klammerte sie sich.

Rehana saß aufrecht im Schneidersitz im Bett, die rechte Hand auf dem Koran. »Du mußt dich ausruhen, Ammu, du weißt doch, wie es auf der Station ist.« Jetzt hatte es doch noch zu regnen begonnen, weicher Nieselregen warf graue Schleier über das Zimmer.

»Hier steht geschrieben, Allah will sich in Gnade zu euch kehren. Weißt du, was das bedeutet?«

»Nein.«

Sie klappte das Buch zu. »Du hast nie richtig aufgepaßt bei deiner Ustani.«

Maya ließ sich neben ihrer Mutter aufs Bett fallen. »Sie hat mir ja auch nie irgend etwas richtig erklärt. Außerdem hat sie mir gesagt, ich soll mich zwischen den Beinen rasieren.«

Rehana riß die Augen auf. »Das glaube ich dir nicht.«

»Das ist kein Witz! Sie meinte, dann wäre man reiner. Aber weißt du noch, Ammu, wie sie sich ständig da unten gekratzt hat?«

»Nein, das weiß ich nicht mehr.«

»Doch, ehrlich, ich habe immer gedacht, sie hat einen Mann unter ihrer Burka versteckt. Oder einen Moskitoschwarm.«

»Tst-tst!« Rehana gab Maya einen kleinen Klaps auf die Wange und schüttelte lachend den Kopf. »Du bist immer noch so schlimm wie damals als kleines Mädchen, als du jedesmal so getan hast, als wärst du krank, sobald deine Lehrerin gekommen ist. Weißt du noch, daß du ihr erzählt hast, du hättest deine Periode, dabei warst du gerade mal acht Jahre alt?«

»Wie der Blitz ist sie aus dem Haus geschossen!«

»Und wann will mein kleines Mädchen endlich mal erwachsen werden, hmm? Mir ein paar Enkel schenken?«

»Na, dazu müßte ich ja wohl erst mal heiraten.«

Rehana legte die Hand auf den Einband des Korans und fuhr die Goldbuchstaben mit dem Finger nach. »Als ich geheiratet habe, kannte ich deinen Vater kaum. Nachdem die Ehe arrangiert worden war, gab es ein Photo, das im Haus die Runde machte, aber ich hatte nicht den Mut, danach zu fragen. Marzia hat es mir dann in einer Nacht heimlich gebracht, und wir haben es uns bei Kerzenlicht angesehen.«

»Und was hast du gedacht?«

»Ich wünschte mir, ich hätte es nicht gesehen. Heiraten mußte ich ihn ja sowieso.«

»Wäre es denn so schlimm, wenn ich nicht heiraten würde?«

»Nein, so schlimm wäre das nicht. Guck mich an, ich habe den größten Teil meines Lebens ohne Mann verbracht.«

»Männer können so schrecklich sein.« Sie dachte jetzt an Nazia, an ihr Baby, das mit Schlitzaugen und fremder Hautfarbe auf die Welt kam, an Saima und Chottu, an all die Grausamkeiten, die ihr zustoßen konnten, wenn sie sich bereit erklärte, jemanden zu heiraten.

»Da hast du natürlich recht«, sagte Rehana, streckte langsam die Beine aus und ließ sich aufs Kissen sinken. »Aber wem willst du später mal von deinen Sorgen erzählen, mein kleines Mädchen?«

»Ich weiß es nicht.« Maya suchte die Füße ihrer Mutter unter dem Laken und begann, sie zu massieren. »Ich mache es so wie du.«

Rehana lächelte. »Mein Trost ist die Liebe meiner Tochter.«

Da spürte es Maya auch, das tief in sich begrabene Bedürfnis nach Liebe. Durch die Chemotherapie war Rehanas Kreislauf sehr schwach geworden; sie hatte ständig kalte Füße, und Maya hörte sie befriedigt seufzen, als sie ihr mit der flachen Hand den Spann rieb. Draußen wurden alle Abendgeräusche vom Regen gedämpft. Die Grillen zirpten, doch die hohen Töne ihrer Rufe wurden vom fallenden Wasser geschluckt. Nur die Blätter drehten ihre Lautstärke auf und wollten sich mit dem Klatschen gegen die Regentropfen bemerkbar machen.

Wie oft hatte Maya sich schon gesagt, daß sie nicht für das Eheleben gemacht war. Oder zur Mutter. Jeden Tag sah sie Kinder auf die Welt kommen, egoistisch und einsam und mächtig; sie sah, wie die Neuankömmlinge alles um sich herum verschlangen, bis ihre Kräfte dann allmählich nachließen, wenn sie herausfanden, daß die Welt wesentlich armseliger war, als sie auf den ersten Blick gewirkt hatte.

Rehana schien auf einmal sehr müde geworden zu sein und schloß die Augen. »Sprich den Ayat al-kursi mit mir«, sagte sie.

»In Ordnung.« Maya sagte sich zwar, daß sie es nur ihrer Mutter zuliebe machte, genau das, was sie sich auch bei jedem Besuch oben einredete, merkte aber, wieviel Erleichterung sie beim Beten durchströmte. Anfangs verhaspelte sie sich noch mit den arabischen Worten, doch dann waren sie ganz mühelos wieder da, zusammen mit den Erinnerungen an die Kindheit, an ihr Lieblingsessen, an die Butterblumen auf dem Rasen.

Allahu la ilaha illa hua alhayyul al-qayyum.

Allah – es gibt keinen Gott außer Ihm, dem Lebendigen und Beständigen.

La ta’ghudhuhu sinatu wa la naum

Ihn überkommt weder Schlummer noch Schlaf.

»Ich möchte gern, daß du betest, Maya. Wenigstens einmal am Tag, zum Maghrib.«

Maya schüttelte den Kopf. »Du weißt, daß ich das nicht tun kann, Ma, das wäre unfair.«

»Warum unfair?«

»Unfair den Gläubigen gegenüber.« Die Tränen fielen heiß und weich auf ihre Wangen.

»Gott ist größer als dein Glauben«, sagte Rehana. »Ich bitte dich darum, weil du vielleicht etwas brauchst, wenn ich einmal nicht mehr da bin.«

»Bitte, Ma, sag so etwas nicht.«

»Du tust immer so unabhängig. Du bist von zu Hause weggegangen, du hast dein eigenes Leben geführt. Du bist ein starkes Mädchen. Aber wer wird für dich dasein, wenn ich nicht mehr bin? Ich wünschte, du hättest etwas Eigenes. Das hätte auch dein Vater für dich gewollt.«

Etwas Eigenes. Was könnte das sein? Ehe, Familie, Gott? Auf nichts davon war sie vorbereitet. Ihr wurde mit einemmal bewußt, daß Ammu die ganze Zeit die Einsamkeit ihrer Tochter als Last empfunden haben mußte. Sie hat mich und all meine Sorgen ganz allein mit sich herumgeschleppt. Vielleicht sollte sie ihrer Mutter sagen, daß sie beruhigt sterben könne, dachte Maya, daß sie etwas finden würde, was das hinterlassene Loch füllen würde. Doch sie konnte es nicht, sie war noch nicht soweit. »Laß uns noch ein bißchen zusammen beten, Ammu, wenn du dich dann besser fühlst.«

»Ich bin müde, mein Schatz. Ich will jetzt schlafen.«

Maya hielt Wache neben Ammu, lauschte auf ihren Atem, bereit, ihre Mutter zu schütteln, sollte er aussetzen, sollte Ammu irgendein Zeichen geben, daß sie dem nachgeben wollte, was auf ihrer Stirn geschrieben stand, ihrem Schicksal, oder dem Gefühl, daß ihre Aufgabe vollbracht war.

Und sie dachte über Ammus Bitte nach, ein einziges Gebet am Tag, in der Abenddämmerung, der heiligen Stunde. Wie gern hätte sie eingewilligt; sie wünschte, sie hätte sich schon vor langer Zeit dem praktischen Wesen der Religiosität gebeugt. Doch wenn sie das jetzt täte, wäre es ein schaler und substanzloser Handel. Kein Gott, den sie respektieren konnte, würde sich auf einen solchen Pakt einlassen, bei dem Er genau wußte, daß die an die Tür klopfende Gläubige nichts weiter wollte als einen Flaschengeist, die Erfüllung eines einzigen Wunsches. Und selbst wenn dieser Wunsch von einer tieferen Sehnsucht begleitet wurde, ließ sich unmöglich vorhersagen, ob sie ihr Versprechen je einhalten würde.

*

Am Morgen fand Maya Zaid, der sich unter dem kleinen Schreibtisch zusammengerollt hatte. Sie spähte darunter und sah zwei Knie, die an eine kleine Brust gedrückt waren.

Er öffnete die Augen und streckte ihr die Hände entgegen. Sie zog ihn unter dem Möbelstück hervor. »Wo kommst du denn her?« fragte sie.

»Vom Bus«, sagte er.

»Ganz allein?« Er hätte keinen schlechteren Zeitpunkt treffen können. Sie mußte Ammu helfen, die letzten Sachen für das Krankenhaus zusammenzupacken. Zaid stank nach Schweiß und Gott weiß nach was noch, und die Haare waren ihm so kurz abrasiert, daß die blassen Adern zu sehen waren, die sich wie Schlingpflanzen von seinem Nacken über den Kopf schlängelten. All die Wochen hatte sie auf ihn gewartet, und da war er nun, verdreckt und kahlköpfig, und brach ihr das Herz.

Die Augen voller Tränen, nickte er. »Es sind Ferien«, sagte er.

»Hast du Hunger?« fragte sie, barscher, als sie beabsichtigt hatte. Sie hatte gewußt, daß die Behandlung bei ihrer Mutter nicht anschlagen würde; sie wußte, was Metastasen in der Leber bedeuteten. Zaid weinte jetzt, die Hände ans Gesicht gedrückt.

Sie nahm ihn in den Arm und drückte ihn, bis er keine Luft mehr bekam. »Ich habe die ganze Zeit auf dich gewartet«, sagte sie. »Wußtest du das?«

Sie setzte ihm einen Toast und ein Spiegelei vor, beides aß er langsam, mit beim Kauen zitterndem Mund. Ammu war aufgewacht und rief herüber, sie solle nicht vergessen, die Gebetsmatte mit einzupacken. Maya sah Zaid an. »Ich muß Dadu ins Krankenhaus bringen.«

»Es sind Ferien«, wiederholte er. »Der Huzur hat erlaubt, daß wir heimgehen.«

Sie glaubte ihm, was sollte sie auch sonst tun.

»Ich bin so bald wie möglich wieder da.«

Zaid gab ihr den leeren Teller, kroch auf allen vieren durchs Zimmer und zwängte sich wieder unter den Schreibtisch. »Ich bleibe hier. Ich warte einfach so lange hier.«

Maya redete sich ein, daß er schon zurechtkommen würde. Sie würde bald aus dem Krankenhaus zurückkehren und ihn holen, und dann würden sie zusammen in den Park gehen, und Ammu würde wieder gesund werden, und sie würden alle zusammen Ludo spielen, und er würde wieder schummeln, genau wie immer.

*

Maya zählte die Stunden, die ihre Mutter schlief. Zweiundzwanzig. Siebenunddreißig. Vierzig. Am dritten Tag sagte Dr. Sattar, Maya solle ihren Bruder kommen lassen. Und alle anderen, die sie vielleicht noch einmal sehen wollten. Maya telefonierte, und die Leute kamen, Leute, an die sie sich aus ihrer Kindheit erinnerte, Nachbarn und Bekannte. Sie brachten ihre Kinder mit, die am Bettlaken zerrten und sich beschwerten, daß es nach Krankenhaus roch. Sie sagten Inna lillahi, so als ob Rehana schon tot wäre. Maya rief wieder im Bungalow an und flehte Sohail an zu kommen. Ammu verläßt uns, sagte sie in den Telefonhörer, unternimm etwas.

»Ich habe getan, was ich konnte«, hatte Dr. Sattar gesagt, »jetzt können wir nur noch abwarten.«

Rehana atmete, hatte aber das Bewußtsein nicht zurückerlangt. Ihre Niere versagte. Ihre Fingerspitzen verfärbten sich blau.

Rehana war in ein Einzelzimmer verlegt worden, weg von der Station und den anderen Patientinnen. Maya begrüßte die Besucher, wiederholte die Sätze über Krebs, Gebärmutter, die teilweise Entfernung der Leber. Sie war höflich und protestierte nicht, als Mrs. Rahman ein Bändchen vom Heiligen der Acht Schnüre mitbrachte und Rehana ums Handgelenk band.

Am vierten Tag versuchte Dr. Sattar Maya zu überreden, nach Hause zu gehen. Nur für ein paar Stunden. Zum Frischmachen. Kleiderwechseln. Als sie sich weigerte, bot er ihr an, sich im Arztzimmer ein wenig auszuruhen. Er führte sie am Ellbogen die Treppe hinunter und über den Hof. Sie kannte den Weg, durch die grünen Korridore, in denen Unmengen von Patienten saßen und warteten, in der Hand zerknitterte Zettel und Aktenordner mit abgenutzten, schwarzen Rändern.

»Ich schicke jemanden, der Sie wieder abholt. Jetzt schlafen Sie.« Dr. Sattar machte die Tür hinter sich zu, und Maya fixierte den Lichtstreifen unter der Tür. Er leuchtete goldgelb und versuchte, sie über die andere Seite zu täuschen, wo ihre Mutter lag, mit blauen Fingerspitzen, während das Leben aus ihr entwich. Sie sagte dem Lichtstreifen, daß sie ihn anstarren würde, bis sich seine Farbe änderte, bis er von Gold zu Blau wurde, von Tag zu Nacht, doch die Augen mußten ihr zugefallen sein, denn als sie sie wieder aufmachte, war das goldene Licht immer noch da, unbeirrt, beständig schien der Streifen schmal und lang ins Zimmer hinein, und Maya dachte an ihren Vater, an sein viel zu kurzes Leben, und an all die jungen Männer, deren Blut in den Staub geflossen war, und an ihren Bruder und an seinen Sohn, auf einmal fiel ihr Zaid wieder ein, und sie fragte sich, ob er sich wohl immer noch unter dem Schreibtisch versteckte – wie hatte sie ihn nur dort zurücklassen können? –, und dann überkam sie auf einmal die Furcht, niemals einen eigenen Sohn zu haben, weil sie vielleicht gar nicht in der Lage war, irgend jemanden genug zu lieben, jemanden so sehr zu lieben, daß sie seine Einsamkeit annehmen und zu ihrer eigenen machen konnte.

Der Lichtstreifen leuchtete beständig. Tag blieb Tag. Dann wurde er länger und bekam einen Schatten. Sie hielt eine Hand hoch, damit sie nicht geblendet wurde. Eine Krankenschwester stand in der offenen Tür.

»Wie lange habe ich geschlafen?«

»Nicht lang. Ein paar Stunden.«

Als sie wiederkam, war das Krankenzimmer voll fremder Männer, ein Kreis aus langen weißen Kitteln. Waren sie da, um den Aktenbericht zu verfassen? Frau, zweiundfünfzig Jahre alt, Uteruskarzinom Stadium vier. Gebärmutterentfernung. Leberresektion. Zwischen den vielen Menschen sah sie die Füße ihrer Mutter unter dem Bettlaken herausragen, ihre ordentlichen, geraden Zehen, den Leberfleck unter dem Sprunggelenk.

Dr. Sattar löste sich von den anderen. »Kommen Sie, Maya.« Der Kreis öffnete sich, um sie mit aufzunehmen. Wollten sie ihre medizinische Meinung? Jetzt hoben sie die Arme, Handflächen gen Himmel. Diese Geste verstand sie sofort. Es waren keine Ärzte. Ich erhebe die Hände zu dir, Allerbarmer, und bitte dich, o Allah, ich flehe dich an. Ihre Arme gingen nach oben. Sie sah ihren Bruder am Bettende stehen, an dem die Füße ihrer Mutter unbedeckt und einsam lagen, der ihr unbekannte Worte flüsterte. Die Männer in Weiß sprachen ihm nach und erhoben die Stimmen im Chor. Amen. Sie wußte, daß es falsch war, im Kreis zu stehen, in alle möglichen Richtungen gewandt, und so Gott anzuflehen. So machte man das nicht. Diese Welt, hatte Sohail ihr gesagt, war vergänglich. Ammu würde ihren himmlischen Lohn empfangen. Es war egoistisch, sie hierbehalten zu wollen. Er tat es für Maya, weil sie ihn angefleht hatte, ihre Mutter nicht sterben zu lassen. Er war gekommen, er hatte diese Männer mitgebracht, und sie hatten sich im Kreis aufgestellt, nicht in einer geraden Linie in Richtung Mekka. Sie kannten die Worte. Sie hatten sich entschlossen, sie zu benutzen.

Sohail sah ihr in die Augen, und sie machte eine Bewegung auf ihn zu, um ihn zu umarmen, aber sein Gesicht sagte ihr, daß sie wegbleiben sollte, daß sie wegbleiben mußte, um den Zauber nicht zu durchbrechen, also trat sie wieder einen Schritt zurück und konzentrierte sich auf den Glauben, daß dies die Rettung war.

Sohail hob eine Plastikflasche mit Wasser hoch und goß ein klein wenig davon in ein Glas. Wasser aus dem Brunnen Zamzam. Sanft hob er den Kopf seiner Mutter an, setzte ihr das Glas an den Mund und flößte ihr sehr behutsam ein wenig zwischen die leicht geöffneten Lippen ein. Die Tropfen, die daneben gingen, wischte er nicht weg. Die Männer rezitierten weiter. Dr. Sattar wischte sich mit einem Taschentuch über die Augen.

Wenn die pakistanischen Soldaten im Krieg einen kleinen Jungen auf der Straße trafen, dann mußte er vor ihnen den Lungi öffnen. Beweis es uns, sagten die Soldaten. Beweis, daß du einer von uns bist. Der Junge fummelte an dem Knoten in seinem Lungi herum und hielt den Wickelrock dann auf, damit der Soldat hineinspähen konnte. Vielleicht war es Nacht. Es ist zu dunkel, man sieht ja gar nichts, sagte der Soldat dann. Hol ihn raus und zeig ihn uns. Zeig uns, daß du beschnitten bist, du dreckiger Bengale.

Maya hatte sich den Glauben systematisch abgewöhnt. Sie hatte die Suren verlernt, die ihre Mutter laut vorgelesen hatte, hatte den weichen Lufthauch am Kopf vergessen, wenn Ammu einen Segen geflüstert und ihr auf die Stirn geblasen hatte. Sie hatte alles Wissen um das Heilige aus ihrem Gedächtnis getilgt und ihren Körper gelehrt, zu der Zeit zurückzukehren, in der sie noch nicht wußte, wie man sich hinkniete, wie man sich niederwarf.

In den sieben Jahren, in denen sie durchs Land gereist war, hatte sie eine ganz andere Art des Glaubens kennengelernt. Die Moscheen waren auf den Dörfern nur spärlich gesät, und die seit neuestem so fromme Hauptstadt war noch viel weiter weg. Auf dem Dorf wurden Heilige und der Prophet gleichberechtigt nebeneinander verehrt. Ja, es wurde gebetet, und natürlich wurde im Fastenmonat Ramadan gefastet, und wenn die Bauern Land hatten, dann war ein Stückchen davon für den Verkauf vorgesehen, damit sie eines Tages die Pilgerfahrt nach Mekka machen konnten. Doch im Wald wurde Bon-Bibi angebetet, die Göttin der Bäume, und in die Dörfer wurden die Bauls eingeladen – magere Männer mit nasalen Stimmen, die die Lalon-Gesänge sangen und die Worte des Korans in Lieder verwandelten, in den Zwist eines Liebespaares; der Gott spielte die Rolle des Geliebten, der Dichter war sein Bittsteller.

Hin und wieder hatte sie am Rand eines solchen Konzerts dabeigestanden und der Stimme des Baul fasziniert gelauscht. Doch sie brachte es nicht übers Herz, sich ins Publikum zu setzen, wegen der pakistanischen Soldaten am Straßenrand und allem, was sie erlebt hatte, allem, was im Namen Gottes begangen worden war.

Schweigend verließen die Männer einer nach dem anderen den Raum. Nur Sohail blieb zurück, streichelte seiner Mutter die Stirn und flüsterte ihr ins Ohr. Maya saß neben ihm, und er streckte die freie Hand nach ihr aus. Es wurde dunkel im Zimmer, das Licht veränderte sich nun schließlich doch, wurde blauschwarz, und in der Brise war eine Andeutung von Kälte. Der Winter ist da, dachte sie. Die Stadt wird nach Mandarinen duften. Ammu hatte dieses Jahr einiges an Gemüse angepflanzt: grüne Bohnen, Blumenkohl, Tomaten. Im Winter kochte sie immer am besten, wenn die kühleren Monate ihnen eine reiche Ernte bescherten. Morgens dämpfte sie frisch geernteten Blumenkohl und Zuckererbsen, die sie dann einfach so aßen, nur mit ein paar Scheiben hartgekochtem Ei obendrauf. Sohail, fiel ihr ein, hatte seinen Teller früher gern mit viel Ketchup bedeckt. Sie drückte seine Hand fester, und er erwiderte ihren Druck, und sie spielten ein uraltes Spiel, einen Morsecode aus Drucksignalen, bis es Maya zu kalt auf dem Stuhl wurde. Sie legte sich zu Ammu ins Bett und wandte ihr Gesicht der Kontur ihrer Schulter zu, ohne sie zu berühren.

Maya schlief und träumte. In dem Traum war ihre Mutter sehr durstig. Wasser, sagte sie. Wasser. Dann sagte Sohail es. Wasser. Sie will Wasser.

Maya öffnete die Augen und sah, wie Sohail Zamzam in Ammus Mund fließen ließ. Ihr Mund war offen. Sie schluckte. Vielleicht würde Sohail jetzt den Augenblick verderben und von einem Wunder sprechen, aber er richtete sich nur auf und küßte seine Mutter sanft auf die Stirn. Dann nahm er seine Gebetskappe vom Tisch und ging, ohne sich noch einmal umzudrehen, als hätte der Tag nur so und nicht anders enden können.

Erst als alles vorbei war, fiel ihr Zaid wieder ein. Sie suchte unter dem Schreibtisch und in der Gartenhütte nach ihm, und hinter dem Vorhang aus Spinnweben unter der Treppe. Er war weg. Sie fragte Khadija, ob sie wisse, wo er sei. »In der Madrasa«, antwortete sie. »Der Huzur hat ihn zurückgeschickt.«