1977

November

Sohail warf seine Bücher weg. Maya fand ihn, wie er sie abstaubte, alphabetisch ordnete und in Kisten verpackte. Die liebevolle Art, mit der er das machte, wie er jede Kiste mit Zeitungspapier ausschlug und die Bücher sorgfältig hineinlegte, machte sie rasend. Sie sah, wie er mit sich kämpfte, als seine Hand über diesen Titel oder jenen Buchrücken strich. Wie er die Bücher aufschlug, eine Seite las – bei Ibsen verweilte, vielleicht kurz über Hedda oder Nora nachdachte – und dann jeden Band mit den Frauen aus einer anderen Zeit und einer anderen Welt, die ihm jetzt verboten war, endgültig zuklappte.

Da, als er inmitten von Büchern wie in einem Fischschwarm und sie in der Tür seines Zimmers stand, stellte sie ihn zur Rede. Die Antwort kannte sie schon, hatte sie schon lange gekannt, die Veränderungen an seiner Kleidung, die eingestaubte Gitarre. Silvi, sagte sie, ich weiß, daß Silvi dahintersteckt.

»Sie ist meine Frau. Du hast kein Recht, so über sie zu sprechen.«

»Dann ist das deine eigene Idee?«

»Ich habe mich dazu entschieden.« Er hatte einen Rilkeband in der Hand, den er in ihrer Richtung schüttelte.

Diese Bücher zu bekommen war gar nicht einfach gewesen. Jedes einzelne Exemplar hatte er mühsam auf dem Neuen Markt ergattert, wo er, auf der Suche nach den Büchern, die sie angeblich nicht hatten, sich auf einem Hocker vor den Bücherständen sitzend in die verstaubten Ecken voller Spinnweben vorgebeugt hatte. Lawrence, Fitzgerald. Der scharlachrote Buchstabe. Er liebte die aus der Gesellschaft ausgestoßenen Heldinnen, Lily Bart und Hester Prynne und Moll Flanders. Den Rilke hatte er, wie sie genau wußte, aus der Universitätsbibliothek entwendet. Der Gedichtband hatte sich an ihn geheftet und wollte mit nach Hause genommen werden; er wollte in den Rucksack eines Soldatenjungen gestopft, vom Regen und der wassergesättigten Monsunluft aufgeweicht werden. Er war im blaß orangeroten Schein einer Petroleumlampe gelesen worden, im Goldgelb einer Kerzenflamme, bei Mahlzeiten aus grobem Brot und Curry aus grünen Bananen. Orange und Gelb und Gold und grüne Bananen. Damit zeigte er jetzt auf sie, mit der Ecke eines gestohlenen Buchs, das gleich in der Dunkelheit einer Kiste versenkt und nie wieder von dem Soldaten angefaßt und laut vorgelesen werden würde, dessen Verse nie wieder von seiner Kehle gestreichelt werden würden, weil seine neue Liebe nur einen einzigen Dichter erlaubte.

»Es hat nichts mit Silvi zu tun.«

»Hast du auf einmal was gegen Bücher?«

»Alles hat seine Grenzen, Maya.«

»Ich bin ganz deiner Meinung. Alles hat seine Grenzen. Hast du dich nicht deswegen dem Guerillakampf angeschlossen?«

»Und, was hat es uns genützt?«

»Ich weiß, daß es momentan so aussieht, aber es wird ja nicht immer so bleiben.«

»Es spielt keine Rolle. Es gibt ein Leben nach diesem Leben.«

Er packte den Rilke weg, zog den nächsten Band aus dem Regal und warf ihn in die Kiste.

»Ich will, daß du mit mir darüber redest«, sagte Maya. »Du hast mir nie etwas über den Krieg erzählt.«

»Was hätte ich dir erzählen sollen? Wir haben gekämpft, und wir haben gewonnen. Am Ende hat es ja keine Rolle gespielt, oder?« Er zog sich die Mütze vom Kopf und drückte sie in den Händen. Seine Haare waren dicht an der Kopfhaut abgeschoren. Mehr als je zuvor im Krieg sah er wie ein Soldat aus.

Sie wußte, daß er ihr jeden Augenblick entgleiten konnte. Für immer weg. Was konnte sie bloß sagen, um ihn festzuhalten? Wahrscheinlich nichts. Silvis Macht über ihn war zu stark, und sie hatte den Allmächtigen im Rücken. Ein furchteinflößender Feind. Doch eines gab es, eine Sache, die sie Sohail nie gesagt hatte. Vielleicht war jetzt der richtige Zeitpunkt, es ihm zu erzählen, ihm einen Schock zu versetzen, damit ihm ein für allemal klar wurde, daß er nicht als einziger unter seinen Verfehlungen litt. »Ich will mit dir über Piya reden«, sagte sie.

Er fuhr herum und sagte mit verschwörerischer Stimme zu ihr: »Das ist vorbei, Maya.«

Sie wußte, daß er sich das selbst einzureden versuchte. Sie wußte, daß er jeden Tag an Piya dachte. Jeden Tag dachte er an sie und fragte sich, wohin sie verschwunden sein mochte. Genau wie Maya.

Sie nahm ihm die Kappe aus den Händen und machte Platz, damit sie sich setzen konnte. Er war plötzlich ganz aufmerksam und saß, die Hände auf Bücherstapel gestützt, wie ein König auf dem Thron da. Jetzt konnte sie keinen Rückzieher mehr machen. Sie würde es ihm erzählen, stellte sie sich vor, und dann würde er alle Bücher wieder auspacken und zurück auf die Regale stellen. Er würde seine schlabbrige Hose gegen Jeans eintauschen und ein Tonbandgerät kaufen, damit sie Simon and Garfunkel hören konnten.

Sie schluckte und fing an. »Es war kurz nach der Befreiung, kurz nachdem Piya zu uns gekommen ist. Ich habe beim Rehabilitationszentrum für Frauen gearbeitet. Ammu auch. Wir hatten uns da zusammen als Freiwillige gemeldet. Ammu hatte die Aufgabe, mit den Kriegswitwen zu sprechen und ihnen mit den Pensionszahlungen und Erbschaften zu helfen. Bei den Verhandlungen mit der Verwandtschaft der verstorbenen Männer.« Sie atmete tief durch, um Mut für ihr Geständnis zu sammeln. »Und weil ich medizinisch ausgebildet war, von der Arbeit im Flüchtlingslager, da haben sie mich für die Klinik eingeteilt, Bhaiya. Ich habe Abtreibungen durchgeführt.«

Sie faltete Sohails Gebetsmütze zusammen und wieder auseinander und wieder zusammen. »Ich habe es dir nicht erzählt. Du hast gedacht, ich würde mich um die Kranken kümmern, aber wir hatten einen richtigen OP hinten, wohin die Frauen kamen, um ihre Schwangerschaften abbrechen zu lassen. Weißt du noch, was Sheikh Mujib damals gesagt hat? Er wollte die Bastarde nicht in unserem Land haben. Aber für einige der Frauen war es schwierig, weißt du, damals habe ich mir gar nicht so viele Gedanken darüber gemacht. Sie wollten die Kinder nicht haben, aber wenn es dann soweit war, haben sie geweint. Und dann sind sie aus der Narkose aufgewacht und wollten die Kinder wiederhaben. Eines Tages kam Piya in die Praxis. Sie wollte mich sprechen – Ammu wußte nichts davon, sie war direkt nach hinten in die Klinik gekommen. Ich sollte sie untersuchen. Sie war schwanger, Bhaiya, wußtest du das?«

Sie konnte ihn nicht ansehen. Sie ermahnte sich: Schau ihn an, wenn du’s ihm sagst. Aber sie konnte nicht, sie konnte ihn nicht ansehen. Sie sah statt dessen die Bücher an. Ihr Blick fiel auf Wiedersehen mit Brideshead. In Richtung Evelyn Waugh sagte sie: »Es war noch früh, man hat fast nichts gesehen. Es muß gegen Ende des Kriegs passiert sein.

Sie wollte eine Abtreibung. Jetzt gleich, hat sie gesagt. Mach’s jetzt gleich. Ich war beschäftigt und hatte zehn andere Patientinnen an dem Morgen, aber ich habe ihr gesagt, sie solle warten, ich würde sie dann drannehmen. Heute, hat sie gesagt, es muß heute sein, sonst schaffe ich es nicht. Ich sag es ihm, sagte sie. Mir war nicht klar, was sie damit meinte, aber ich habe mit der diensthabenden Ärztin gesprochen und einen Termin für Piya vereinbart. Aber als sie dann endlich an die Reihe kam, war sie durcheinander. Ich bin mir nicht mehr sicher, hat sie gesagt. Sie hat nach dir gefragt, sie wollte wissen, ob ich Sohail Bhai anrufen könnte. Aber du warst an dem Tag in der Kaserne, weißt du noch, du warst dort, weil du aus der Armee entlassen werden solltest. Es gab Formalitäten zu erledigen, und du warst den ganzen Tag lang weg. Ich dachte, sie hätte Angst, einfach Angst, so wie alle anderen. Ich dachte, es wäre besser, mit ihr nach Hause zu fahren, aber dann dachte ich daran, was sie gesagt hatte; daß es an dem Tag sein mußte, sonst würde sie den Mut nicht noch einmal aufbringen. Ich wußte, wie man mit so einer Situation umgeht, ich habe das ja ständig gemacht und die Mädchen davon überzeugt, daß es das Richtige war, für sie und für unser Land. Nach der Operation kannst du einfach nach Hause gehen, habe ich gesagt, deine Familie nimmt dich wieder auf. Du bist eine Birangona, versuchte ich sie zu überzeugen, eine Kriegsheldin –«

Die Worte fielen Maya alle wieder ein, die Worte, die ihr beigebracht worden waren.

»Vom Feind geschändet. Das Kind in deinem Schoß ist ein Bastard, eine Giftbombe. Es darf nicht auf die Welt kommen. Du darfst ihm nicht deine Muttermilch zu trinken geben. Was geschehen ist, läßt sich ungeschehen machen. Du brauchst nicht für den Rest deines Lebens damit zu leben. Du brauchst nicht die Mutter dieses Kindes zu werden. Stell es dir nicht als dein Kind vor, es ist der Samen des Feindes, habe ich zu ihr gesagt. Schließlich willigte sie ein.«

Sohail schwitzte, schmale Rinnsale durchteilten sein Gesicht. Er machte keine Anstalten, sie abzuwischen. Er dachte an den Tag zurück, an dem er Piya im Gefängnis gefunden hatte, wie er sie dort hinausgetragen hatte und ihre kurzen Haarstoppeln sich an seinem Schulterblatt gerieben hatten. »Bring mich heim«, hatte sie gesagt, »ich will nach Hause, bring mich nach Hause.«

Sie waren in einem kleinen Bambuswäldchen, so weit weg von der Baracke, wie er sie tragen konnte. Doch das Land war eben wie ein Tisch, und jedesmal, wenn ihr das Gebäude wieder vor Augen kam, heulte sie laut auf. Er lehnte sie mit dem Rücken an einen Baum, wo sie das Gefängnis nicht sehen konnte, und setzte sich in ihr Blickfeld, wo die Sonne ihr ins Gesicht fiel, so daß er einen langen, eleganten Schatten auf sie warf. »Mein Dorf liegt Richtung Osten«, sagte sie.

Sie hatten sie in einem Jeep dorthin verschleppt. »Es war noch ein Mädchen da, aber das ist gestorben.«

Sie sagte ihm den Namen ihres Dorfes. Dhanikola. Bringst du mich hin? Der Krieg ist vorbei, sagte er zu ihr. Sie konnten laufen. In jedem Dorf wurden sie erschöpft, aber herzlich begrüßt und bekamen etwas von den kleinen Resten der Ernte ab, die noch vom Krieg übriggeblieben waren. Ein Dorf nach dem anderen, Pahara, Mormora, Lakhet. Jede Mutter wollte, daß er ihr Sohn war und müde und heil mit einer Frau im Arm nach Hause kam.

Sie war achtzehn. »Meine Schwester ist genauso alt wie du«, sagte er.

»Du hast eine Schwester?«

»Ja, Maya heißt sie. Sie hat in den Flüchtlingslagern in Indien gearbeitet.«

»Ganz allein?«

»Sie ist eine sehr mutige junge Frau.«

Piya hatte weit auseinanderstehende Augen und eine rauhe, schmerzerfüllte Stimme. Am dritten Tag watete sie in einen Dorfteich. Aus Angst, daß sie untergehen könnte, behielt er sie genau im Blick. Die Sonne beschien ihren Rücken, glänzte auf ihren Händen, die sich über das Wasser bewegten, als sie weiter hineinging. Als sie bis zum Hals unter Wasser war, tauchte sie mit dem Kopf unter. Ihr Sari schwebte wie eine große Blüte auf der Wasseroberfläche. Und als sie wieder auftauchte, war sie verändert, als hätte sie unter Wasser all ihren Knochen gesagt, sie sollten sich wieder ordnen. Und so kam sie wieder aus dem Wasser: diszipliniert, geordnet. Mit weit auseinanderstehenden Augen und einer Wunde in der Stimme. Er fragte, ob sie wohl irgendwann einmal nach Dhaka kommen und ihn besuchen würde. Sie waren jetzt schon recht nah, nur noch wenige Kilometer entfernt.

Sie kamen an den Rand des Dorfs, das genauso aussah, wie sie es beschrieben hatte: Ein baumbestandener Flecken, in dessen blaßgrünem Schatten saubere Hütten aus Lehm und Stroh standen. Runde Kuhfladen, in denen die Handabdrücke der Sammler zu sehen waren, klebten wie Muscheln an den Außenwänden. Ein Teich. Alles sehr still, der Nebel hing tief und schluckte den Ruf des Koel und das Plätschern des Wassers.

Er schrieb ihr seine Adresse auf ein Stück Papier, obwohl er wußte, daß sie nicht lesen konnte, obwohl er wußte, daß sie eingehend untersucht und beäugt werden würde. Sie würde den Zettel ins Feuer werfen. Sie würde nie kommen.

Er legte die Hände an die Stirn und verabschiedete sich auf förmliche Art und Weise von ihr. Es war Piya, die dicht zu ihm hintrat, ihre nach Wasser riechende Hand an seine Wange legte. Sie reckte das Gesicht zu ihm hoch und küßte ihn leicht auf den Mund, mit Lippen, die so rauh wie die Schale an einem Reiskorn waren.

Sie hatte ein paar Worte Englisch gelernt. See you again, sagte sie und machte die Entfernung mit diesen abgehackten, bemühten Silben nur noch größer.

Und dann kam sie tatsächlich. Sie kam und verbrachte Stunden mit Sohail im Garten, wo sie über alles und nichts redeten. Die Erinnerung an den Krieg begann zu verblassen. Bis zu jener Nacht – jetzt weiß er auch, daß es die Nacht war, nachdem Piya zu Maya in die Klinik gegangen war, aber für ihn war es ein Tag wie jeder andere. Er war in die Kaserne gegangen, um seine Waffe abzugeben. Während der letzten Kriegswochen hatte er auch eine Uniform mit einem grün-roten Abzeichen auf dem Ärmel bekommen. In der Kaserne sah er die Kameraden aus seinem Regiment wieder, Farouq und Shameek und Kona, die sich alle entschieden hatten, Berufssoldaten zu werden. Sie waren nicht überrascht, daß er aus der Armee austrat; er sei ihnen nie wie der geborene Soldat vorgekommen. Ohne Ziel, für das gekämpft wurde, hatte er dort nichts mehr zu suchen. Er hörte sich die offiziellen Reden an und wurde dann ehrenvoll aus der Armee Bangladeschs entlassen. Er war in seiner Uniform nach Hause zurückgekehrt. Er könne sie später zurückgeben, hieß es.

Es war schon spät und im Haus alles still, alles schlief bereits, dachte er jedenfalls, bis er Piya im Garten bemerkte. Er konnte sie im Dunkeln kaum erkennen, aber sie war es, unmißverständlich, ihr Rücken so gerade wie an dem Tag, als sie aus dem Dorfteich stieg.

»Heirate mich«, flüsterte er in die Dunkelheit.

Sie drehte sich um, doch ihr Blick ging zu dem, was hinter der Gartenmauer lag. »Wer wohnt da?« fragte sie und zeigte auf das zweistöckige Haus.

»Niemand. Wir müssen neue Mieter suchen.«

»Es gehört euch?«

»Das hat Ammu bauen lassen. Nach dem Tod meines Vaters haben wir von der Miete gelebt.«

»Es ist ein sehr großes Haus.«

»Zwei Stockwerke.«

»Warst du schon mal drin?«

»Natürlich. Willst du es sehen?« Er öffnete das in die Mauer eingebaute kleine Tor.

Selbst im schwachen Licht des Halbmonds ging sie mit sicherem Tritt durchs Tor und auf den Rasen dahinter. Sie lief die drei Eingangsstufen hinauf und wartete vor der schweren Doppeltür auf ihn.

»Es ist abgeschlossen«, sagte sie.

»Ja, natürlich. Das habe ich ganz vergessen. Ich habe den Schlüssel leider nicht.«

Sie spähte, die Hände ums Gesicht gewölbt, zum Fenster hinein.

»Piya«, sagte er, »ich möchte dir etwas sagen.«

»Ich auch.«

»Ich will dich heiraten.« Er versuchte, ihr Gesicht zu erkennen, aber es war zu dunkel. »Ich will, daß wir heiraten – was meinst du?«

»Wenn du es so wünschst«, antwortete sie und setzte sich auf die oberste Stufe.

»Willst du es denn auch?«

»Was werden die Leute sagen?«

»Das ist doch egal.«

»Sie werden sagen, daß ich es nur auf deine Sachen, auf das Haus hier abgesehen habe.«

»Aber das ist doch egal. Du liebst mich, oder nicht?«

Sie sagte nichts, sondern saß nur ganz reglos im gelblichen Mondschein da. »Wenn du willst, kann ich deine Frau werden. Aber ich bin kein guter Mensch.«

»Was dir zugestoßen ist – das ist nicht deine Schuld.«

»Ich bin so müde«, sagte sie.

Er setzte sich neben sie und verschränkte seine Finger mit ihren. »Das macht nichts, ich bin auch müde. Mir ist alles egal, was die Leute sagen und so. Verstehst du? Ich bin auch müde, so schrecklich müde. Ich will meinen Kopf in deinen Schoß legen, und – vergib mir – ich will dich wieder küssen. Ich will alles vergessen, was vorher war. Ich will, daß unsere Kinder in diesem Land aufwachsen, freie Kinder in einem freien Land. Aber du entscheidest. Sag nicht ja, nur weil du hier bist und nicht nach Hause gehen kannst. Sag ja, wenn du mich liebst – verstehst du? Daran glaube ich. Du mußt mich lieben.«

Sie drückte seine Hand stärker, dann ließ sie unvermittelt los und sprang auf, leichtfüßig, ein Mädchen, das ohne Schuhe aufgewachsen war. Sie verschwand über den Rasen.

Er glaubte, daß sie vor Freude so leicht über das Gras hüpfte, doch es war ein rasend schneller Abschied ohne jede Zeremonie.

Am Morgen war sie verschwunden. Ihr kleines Kleiderbündel, ihr Plastikkamm, das Niemstöckchen, mit dem sie sich die Zähne putzte. Ihr zweiter Sari, der am Morgen noch zum Trocknen auf der Wäscheleine gehangen hatte.

Er machte sich auf die Suche nach ihr. Fast gegen seinen Willen machte er die ganze Reise zurück in ihr Dorf, nahm den Bus nach Mymensingh und fuhr den Rest des Weges mit der Rikscha. Wir haben sie nie wiedergesehen, sagte eine alte Frau, wozu sie Betelsaft aus dem Mundwinkel ausspuckte. Das Dorf war nicht mehr schön, die Hütten wirkten in der zunehmenden Hitze heruntergekommen und staubig. Er kehrte in die Stadt zurück und lief ziellos durch die Straßen, wo er Unbekannte ansprach, ob sie ein junges Mädchen mit braunen Augen gesehen hätten, das allein unterwegs war. Alle jungen Mädchen, die allein unterwegs waren, hatten braune Augen. Wie hieß ihr Vater? Ein Mädchen hatte sich im Dhanmondi Lake ertränkt. Das hätte sie sein können. Als er zum Leichenschauhaus kam, war es schon zu spät und der Leichnam war bereits abgeholt worden. Sie saß in einem Bus an die Grenze. Oder sie hatte eins der Flugzeuge bestiegen, mit denen die pakistanische Armee nach Islamabad zurückgebracht wurde. In dem Flugzeug waren auch Frauen? Unsere Frauen? Ja, es waren Frauen dabei. Die Ehe war ihnen versprochen worden. Sie hätte dabeisein können.

»Bhaiya«, fragte Maya sanft, »war das Kind von dir?«

Er sprang auf und warf dabei eine Bücherkiste um. »Wie kannst du mich so etwas fragen?«

»Das wäre ja nichts Schlimmes.«

»Ich habe sie nicht angefaßt, ist das klar? Ich habe mich geweigert, sie anzufassen. Nach dem, was ihr zugestoßen ist.« Er zitterte, und seine Arme hingen kraftlos herunter. »Und du hast einfach diese Operation an ihr gemacht, ohne Ammu oder mich zu fragen?«

»Aber ich hab’s ja nicht getan, Bhaiya. Es kam nicht dazu – sie hat es sich anders überlegt.«

Er fing an zu weinen. Sie sah, wie ihm die Tränen in die Augen traten, und er wandte den Kopf ab.

»Du hast gedacht, ich hätte nach der Befreiung nur meinen Spaß gehabt. Aber die Zeit damals war blutgetränkt, Sohail, für uns alle.«

Er schüttelte die Hände in ihre Richtung, als seien sie naß. »Aber ich habe getötet, Maya. Ich habe getötet.«

Natürlich mißverstand sie ihn. »Es ist nicht so schlimm, Bhaiya, es war richtig so. Es war ein gerechter Krieg, ein notwendiger Krieg. Für uns und unsere Freiheit.«

Er schüttelte den Kopf. »Ich wollte es nicht tun. Aber ich war so wütend.«

»Wenn sie mir ein Gewehr in die Hand gedrückt hätten, hätte ich ihnen in die Knie geschossen und sie langsam sterben lassen.«

»Er war unschuldig.«

Keiner von ihnen war unschuldig. Das sagte sie ihm.

»Wenn du unbedingt über Rettung reden willst – Silvi hat mich gerettet. Du warst zu beschäftigt damit, ungeborene Kinder umzubringen.«

Er hatte sich also entschieden. Für seine Frau und eine Zukunft ohne Bücher. Bei dem Gedanken kochte ein lodernder, rasender Zorn in Maya hoch. »Wenn du diese Bücher in Kisten packst, dann hole ich sie wieder raus und lege sie offen vor dich hin. Jedes Buch, das du wegwirfst, packe ich wieder aus und lege es dir vor die Tür. Ich lese sie dir laut vor. Weißt du noch, wie Ammu dir früher aus dem Koran vorgelesen hat? Ich mache genau dasselbe. Ich werde die Bücher immer wieder zu dir zurückbringen, bis du sie nicht mehr ignorieren kannst.«

Seine Hand steckte in einer Kiste. Langsam richtete er sich auf. »Dann werde ich etwas anderes mit ihnen tun müssen«, sagte er leise.

Er wird sie weggeben, dachte sie. Er wird sie alle weggeben. Verdammt. Sie schlüpfte ohne ein Wort aus dem Zimmer und stiefelte durch den Garten, wobei sie ihren Zopf löste und aufgebracht mit den Fingern durch die verworrenen Haare fuhr. Tu etwas, schrie sie sich innerlich an. Tu etwas. Dein Bruder wendet sich, verwandelt sich. Bald erkennst du ihn nicht mehr wieder. Er war ihr ältester Freund gewesen, alles, was ein Bruder sein sollte: Beschützer, Herausforderer, der sie immer antrieb, noch besser zu werden. Er kannte alle ihre Schwachstellen, kannte ihre Tendenz zum Hysterischen, Dogmatischen. Daß sie viel zu oft wütend war. Er konfrontierte sie mit sich selbst. Sie brauchte ihn. Es war egoistisch, aber sie brauchte ihn. Nein, es war nicht egoistisch. Alle brauchten ihn. Er war ihr Leuchtturm. Das Land brauchte ihn. Sheikh Mujib hatte es selbst gesagt. O Gott, Mujib war tot. Sohail konnte sie nicht auch noch verlassen, es war zuviel. Die Welt würde zusammenbrechen. Was konnte sie nur tun? Silvi übte jetzt Kontrolle aus, Silvi, deren schmale Lippen und fremdländische Augen einen verwundeten Mann zum Propheten hatten werden lassen.

Sie dachte an all die Dinge, die er früher gern gemacht hatte. Vor dem Krieg, vor Piya und Silvi. Cricket auf Kurzwelle. Mangos und Eiscreme. Dante und Ibsen. Jimi Hendrix und John Lennon. Ihre Stimme zum Harmonium. Ihre Stimme. Wann hatte er sie zum letzten Mal singen gehört? Sie konnte für ihn singen. Sie konnte Harmonium spielen und ihre Kehle für ihn öffnen. Sie hatte schon miterlebt, wie sich die Augen ihrer Zuhörer weiteten, wenn sie die erste Note sang, und hinterher hatte sich eine neue Förmlichkeit zwischen ihnen eingestellt, selbst wenn sie sie vorher kannten, weil ihr Gesang sie in ihren Augen verändert hatte. Solch eine zarte Stimme in einer so harten Frau. Kleine Frau, große Stimme.

Silvi sollte zum Teufel gehen. Maya würde singen. Sie holte das Harmonium aus dem Kasten. Lang war es her, seit sie zum letzten Mal den Blasebalg auf der Rückseite des Instruments bearbeitet hatte, wahrscheinlich seit dem Krieg nicht mehr.

Sie war auf dem Kriegspfad. Krieg gegen Silvi. Sie hatte die Bücher auf ihrer Seite, und das Harmonium und Tagore, und sie würde kämpfen. Schon röteten sich ihre Wangen im sicheren Sieg, als sie mit geballter Faust durch den Garten lief und in die Luft schlug. Auf ihre Freunde war kein Verlaß mehr, nicht, seitdem Sohail Kona gleich beim ersten Anlauf bekehrt hatte. Schwache Seelen! Sie mußte es selbst tun. Sohail war in seinem Zimmer und fragte sich wahrscheinlich immer noch, was er mit seinen Büchern tun sollte. Jetzt war der beste Augenblick, um zuzuschlagen. Sie staubte das Harmonium ab. Legte eine Jutematte in den Garten. Sie würde es genau hier tun. Ammu würde nach Hause kommen, sie singend im Garten vorfinden und zustimmen, daß sie im Kampf gegen Silvi alle Waffen in ihrem Arsenal einsetzen mußten. Fanatismus wurde mit Fanatismus bekämpft. Die Sonne ging allmählich unter, und die Abendgeräusche ersetzten die des Tages. Grillen, Mücken. Schon hatte sie ein paar Stiche auf dem Arm. Es war ihr egal. Sie zündete eine Moskitospirale an. Schön, los ging’s. Sie fing mit einem von Sohails Lieblingsliedern an: »Ekla chalo re.« »Jodi tor daak shune keu na, tobe chalo re.«

Zuerst hatte sie ein wenig Schwierigkeiten mit dem Harmonium, ihre Finger trafen die Tasten nicht richtig, aber schnell war sie wieder drin, pumpte den Blasebalg mit der linken Hand und drückte mit der anderen die Tasten. Tagore, genau der richtige Mann für diese Aufgabe.

Das Lied war zu Ende. Sie hörte das Rascheln eines Gekkos im Gras, seinen Stakkatoruf. Hätte sie nicht besser eine Lampe mit hinausnehmen sollen? Sing einfach weiter. Ein Revolutionslied: »Amar protibader bhasha, amar protirodher agun.« Das Lied ließ ihr Herz höher schlagen. Ihre Finger rasten, verhedderten sich, schlugen auf die Tasten ein. Dieses Lied hatte Sohail immer geliebt. Es würde all seine Erinnerungen wecken. Sie behielt seine Tür im Auge, aber da bewegte sich nichts, das ganze Lied über. Dann halt ein Gedicht. Sie rezitierte soviel von Nazruls »Bidrohi«, wie sie noch im Kopf hatte, wobei sie mit drei Fingern auf dem Harmonium das Tempo vorgab. Als ihr Gedächtnis beim zweiten Vers versagte, stellte sie sich vor, daß er aus dem Zimmer gestürmt kommen und die Zeilen für sie zu Ende sprechen würde. Doch nichts. Sie stimmte das gefühlvollste Tagore-Lied an, das sie kannte, »Anondo Dhara«. Quell der Freude. Sie hörte etwas. Das Knarren seiner Tür. Eine Lichtsäule, die seinen Schatten umrahmte.

Er kam nach draußen. Erwartungsvoll wurde ihre Stimme lauter. Er hatte etwas in den Armen, zu dunkel, man konnte nichts erkennen. Einfach Augen zumachen und weitersingen. »Anondo dhara bohichey bhuboney.« Er ging über die Veranda und nach vorn zur Einfahrt. Rascheln. Seine Bücher. Oh, er schaffte sie hinaus. Keine Pause, einfach weitermachen. Er tut nur das, was er vorher angekündigt hat. Wahrscheinlich kommt jemand, um die Bücher abzuholen. Egal, wer es war, sie würde denjenigen festhalten und davon überzeugen, die Bücher vor dem Haus stehenzulassen. Ha! Was würde er dann machen? Vielleicht muß er sie nur vor Silvi verstecken – ja, so wird es sein. Er will sie beschützen. Denk nicht an die Bücher. Sing einfach weiter. »Bohichey bhuboney.« Aus seinem Zimmer rein und raus, rein und raus; hin und wieder hörte sie ihn unter dem Gewicht der Kisten ächzen, die er in die Einfahrt schleppte.

Sie sang jetzt, ohne nachzudenken, alles, was ihr in den Kopf kam. Sie fing ein neues Lied an, ohne das vorherige zu beenden. Sie schwankte im Rhythmus hin und her, Finger und Atem und Zunge, alles gehorchte. Sie hielt die Augen fest geschlossen, weil sie eine andere Zeit herbeisingen wollte. Eine Zeit, in der ihr Bruder keine Bücher in Kisten packte. Der Gesang ließ es warm werden im Garten. Genauso mußte Tagore sich den Vortrag seiner Lieder gedacht haben. Feurig und herzerwärmend. Worte wie das Röhren und Spucken eines Feuers.

Sie öffnete die Augen.

Der Garten war orangeschwarz, und Sohail stand in der Mitte und warf Bücher auf einen Haufen. Einen Scheiterhaufen. Arm hoch, Wurf, das Feuer hochschlagen sehen, Wurf. Sang sie immer noch? Sie war verstummt. Außer dem Knistern des Feuers war nichts mehr zu hören, ein tiefes Grollen, sie wollte sich bewegen, konnte aber nicht. Der Eimer stand unter dem Wasserhahn im Garten. Sie könnte versuchen, ihn zu füllen und das Feuer zu löschen. Doch dessen Farbe sprach für sich selbst, sprach: Ich bin stärker als du. Mein Feuer hat dein Feuer zum Schweigen gebracht.

Es mußte ein Traum sein. Eine große Ruhe durchfloß sie. Sie sang ihr Lied weiter. Ihre Stimme blieb bei ihren Strophen, während Ammu sie ins Haus schleppte, während Ammu den Eimer füllte und die Flammen löschte. Erst als sie Ammu brüllen hörte, wurde sie aufgeschreckt; Ammu schrie sie an, es sei alles ihre Schuld, während Maya sich die schwebenden Aschestückchen aus den Haaren pickte, sich durchs Gesicht rieb, das schwarz vom verkohlten Papier war. Erst da verstand sie, was geschehen war.

Sohail hatte alle Bücher verbrannt.

»Du hast ihn provoziert«, brüllte Ammu. »Du hast ihn immer und immer weiter provoziert.« Und Maya hörte sich protestieren: »Was habe ich denn gemacht? Ich habe bloß gesungen.« Ihre Mutter entgegnete mit weit aufgerissenen Augen: »Hast du dir das ein einziges Mal angehört, was er gesagt hat, da oben auf dem Dach? Hast du einmal hingehört? Nein. Du hast dich nur über ihn lustig gemacht. Du hast dich taub gestellt und dich über ihn lustig gemacht.«

»Weil ich wußte, wohin das führen würde.«

»Aber das mußte doch nicht so kommen. Du hast ihn dazu angestachelt, weil du ihn einen Mullah genannt hast. Und warum? Weil du es nicht aushalten kannst, daß er anders ist als du!«

Auch du, Mutter.

Maya traf noch in jener Nacht alle Vorbereitungen, rief, die Lunge voller Rauch, Sultana an und packte ihre Sachen. Am Morgen verschwand sie. Zwei Monate später hörten die Predigten auf dem Hausdach auf. Kleine Wellblechhütten entstanden, und Sohail und Silvi bauten sich ihre Welt oben auf dem Bungalow auf. Mrs. Chowdhury starb, still und leise und ohne eine Träne ihrer Tochter. Zaid wurde geboren und von einer Hebamme in die Welt gebracht, deren Gesicht hinter schwarzem Gitterstoff verborgen war. Das war das erste, was er sah: Eine leere Fläche, wo das Willkommenslachen hätte sein sollen.

*

Maya nahm den Bus nach Tangail. Ohne ihr Gepäck auszupacken oder ihre Freundin zu begrüßen, begann sie eine Schicht im Krankenhaus. Der diensthabende Oberarzt war gestreßt und hatte Blutspritzer auf dem Kragen, als hätte er selbst am Hals geblutet. »Was machen Sie hier ganz allein?« fragte er, während er sich die Ärmel hochkrempelte und sich über ein gesprungenes, grau gerändertes Waschbecken beugte.

»Ich bin eine Freundin von Sultana«, antwortete Maya. »Aus dem Medizinstudium.«

Er schien zu erschöpft zu sein, um weitere Fragen zu stellen. »Wir haben eine Cholera-Epidemie.« Die Gänge waren völlig überfüllt, die Leute warfen ihre Gamchas auf den Boden und setzten sich darauf. »Sie wissen, was zu tun ist – orale Rehydrierung.« Er händigte ihr einen weißen Kittel aus. Sie war in den Krankenhausdienst entlassen.

Sie raste durch eine Schicht, dann durch die nächste, angetrieben von rastloser Energie und der ständigen Angst, daß sie zurück nach Hause gehen müßte, wenn sie sich hinsetzte und über das nachdachte, was sie getan hatte. In der zweiten Nacht fand sie ein herrenloses Stethoskop, das sie sich um den Hals hängte, und als sie in den Spiegel blickte, war sie froh, ein völlig übermüdetes Gesicht zu sehen, in dem alle Anzeichen eines gebrochenen Herzens von körperlicher Erschöpfung überdeckt wurden.

Als Sultana sie am nächsten Morgen endlich fand, lief sie immer noch im Dauerlauf zwischen den vielen Patienten auf dem Boden und in den Betten hin und her.

»Jetzt kannst du mal aufhören«, sagte Sultana.

Sie blinzelte und brauchte einen Augenblick, um ihre Freundin zu erkennen. »Ich habe noch ein paar von heute nacht.«

»Du bist seit achtunddreißig Stunden auf den Beinen. Laß uns nach Hause gehen.«

Maya blinzelte wieder, weil ihr das Salz in den Augen brannte. »Danke schön«, sagte sie und wandte dabei das Gesicht ab, damit ihre Freundin ihre Tränen nicht sah. »Meine Sachen sind noch auf der anderen Station.«

Sie blieb, bis der Höhepunkt der Cholera-Epidemie überstanden war. Als es Zeit wurde zu gehen, sagte Sultanas Mann: »Mein Freund Ranen hat eine Klinik in Rangamati. Die brauchen immer Leute.«

Nach vierzehn Tagen in Khulna und einer Woche in Khagrachari saß sie im Zug nach Rangamati. Auf der Fähre drangen die Klänge unbekannter Sprachen an ihr Ohr, hartkantige Silben, und noch weiter auf ihrer Reise sah sie Frauen in langen Röcken und kurzärmligen Blusen mit kleinen, fast quadratischen Gesichtern, die ihre Säuglinge mit Bändern aus handgesponnener Wolle in Dunkelblau und Gelb und Rot auf den Rücken gebunden hatten. Diese Menschen wurden als Urbevölkerung bezeichnet, urtümliche Stämme, die Chakma und Marma und Santal hießen und bereits vor allen anderen dagewesen waren, bevor es Pakistan und Landkarten und den Krieg gegeben hatte. Maya beobachtete ein kleines Mädchen und seine Mutter, die mit den Fingern aus einem in Blätter verpackten Päckchen aßen. Sie lachten mit offenen Mündern und gaben einander voller Zuneigung sanfte Klapse auf die Wange.

Maya beendete ihren kurzen Einsatz in Rangamati und nahm wieder den Zug nach Süden. Als sie ausstieg, war sie am Rand des Landes angekommen, noch weiter im Süden als die Hafenstadt Chittagong, und lief hinaus auf einen einsamen, beigebraunen Sandstrand. Cox’s Bazaar. Das Meerwasser war ein wenig trüb, aber angenehm warm, und als sie mit den Füßen hindurchlief, merkte sie, daß sie die Ascheflocken nicht mehr schmeckte, den verkohlten Ruß, der sich unter ihrer Zunge und zwischen ihren Fingern abgesetzt hatte. Ihre Zunge war auf einmal sauber, und als sie sich, voll bekleidet im Salwar Kamiz, ins Wasser hockte, rubbelte sie die Zwischenräume zwischen ihren Zehen und ihre Kniekehlen sauber. In der Pension schrubbte sie weiter an sich herum, diesmal mit Seife, goß sich eimerweise das Wasser über den Kopf und bearbeitete den Schmutz unter ihren Fingernägeln mit der Bürste. Mit rotem Gesicht, das dünne, gestreifte Handtuch, das zum Zimmer gehörte, um die Haare gewunden, kam sie aus dem Bad.

Zum ersten Mal seit der Abreise dachte sie an ihre Mutter und beschloß, ihr ein Telegramm zu schicken. Sie rang mit den Worten und entschied sich schließlich für Es geht mir gut. Bitte mach dir keine Sorgen. Es ist besser so.

Und so geschah es. Ein paar Wochen hier, ein paar Wochen dort. Rangamati, Bandorbon, Kushtia. Schließlich wandte sie sich wieder nach Norden und reiste unter Umgehung der Hauptstadt den Jamuna und den Padma entlang bis nach Rajshahi, wo sie sich niederließ, wo sie ihre Träume vom Waisenleben träumte und unter einem Jackfruchtbaum scharlachrote Beeren aß und auf den Briefträger wartete.