1984
Juli
»Ich bin froh, daß du dableibst«, sagte Ammu, »dann bist du hier, wenn ich operiert werde.«
Maya hörte nur halb hin; ihre Hände steckten in einem großen, warmen Teigkloß. Ammu brachte ihr das Paratha-Backen bei; das Geheimnis an der Sache war das Wasser, das kochend heiß sein mußte, wenn es mit dem Mehl vermischt wurde. Sie dachte, ihre Mutter würde von irgendeiner Hochzeit erzählen, oder vom Aqiqafest der Tochter von irgend jemandem. Dann drang es allmählich zu ihr durch. »Wie meinst du das, operiert?«
»Du hattest recht. Mit meinem Bauch. Ich war beim Arzt. Es ist ein Geschwür.« Sie tätschelte ihren Unterleib. »In der Gebärmutter. Das soll rausoperiert werden.«
Jetzt konnte Maya auch die leichte Wölbung in ihrer Bauchmitte sehen. Und die Diagnose hatte nicht sie gestellt. Sie wollte die Hände vom Teig befreien, aber Ammu schüttelte den Kopf. »Zuerst die Parathas, dann kannst du mich verarzten.«
»Wie lange weißt du das schon?«
»Nicht lange.«
Maya fing an, den Teig wie eine Wilde zu kneten und verzweifelt in die elastische Wärme von Mehl und Wasser zu greifen. »Das reicht, Maya«, sagte Ammu. »Jetzt mußt du ihn teilen. Bestäube dir die Hände mit Mehl, guck, so.« Rehana riß ein Stück Teig ab, rollte es zwischen den Handflächen und drückte es, die Finger wie eine Tänzerin grazil abgespreizt, zu einer perfekt runden Kugel zurecht, die sie an Maya weiterreichte.
»Mehr Mehl«, sagte sie und reichte Maya das Nudelholz.
»Und du hast mir nichts gesagt.« Sie rollte die Kugel aus, drückte, wendete den Teigklumpen und rollte wieder.
Rehana wischte sich das Mehl von den Händen. »Jetzt weißt du’s ja, und ich wollte nicht, daß du dir unnötige Sorgen machst.«
»Aber warum? Warum hast du das gemacht, warum hast du das geheimgehalten?«
Rehana trat hinter Maya und führte ihr die Hände am Nudelholz. »Du machst es zu eckig«, sagte sie. »Ich hab’s dir doch gesagt, das war keine Absicht. Außerdem ist es angeblich sowieso nichts Bösartiges oder so.«
Die Träume, die Maya in Rajshahi gehabt hatte, die schrecklichen Vorahnungen, die sie überfallen hatten, als der Postbote ihr das Telegramm ausgehändigt hatte. Jetzt wurden sie doch wahr. Sie versuchte sich gegen das Gefühl zu wehren, daß die Vorsehung es so wollte und Ammu jetzt sterben mußte, genau wie in ihrem Traum, in ein weißes Leichentuch gewickelt und unter Gebeten und Händen voller Schlamm tief in der Erde begraben würde. Sie bekam keine Luft mehr. Reiß dich zusammen, ermahnte sie sich. Du bist Ärztin, konzentrier dich lieber darauf, was du tun kannst. Tumore in der Gebärmutter waren die ungefährlichste Art von Geschwüren; sie lagen wie ein Samenkorn im Uterus und wuchsen darin, aber es war einfach, die gesamte Gebärmutter herauszuoperieren. Ammu brauchte sie sowieso nicht mehr. So würde der Eingriff vermutlich verlaufen. Die Gebärmutter würde entfernt werden, und damit hatte sich die Sache. Ende des Alptraums.
Maya rief sofort ihren ehemaligen Professor, Dr. Sattar, an. Während sie darauf wartete, daß sie von der Telefonzentrale der medizinischen Fakultät durchgestellt wurde, kratzte sie mit dem Fingernagel an einem Stückchen loser Wandfarbe. Dr. Sattar war der beste Chirurg am Krankenhaus; normalerweise mußten die Leute monatelang warten, um sich von seinen vertrauenswürdigen Händen operieren zu lassen. Leicht ungehalten ging er ans Telefon, und sie stellte sich ihm ganz förmlich vor. Sie erinnerte ihn, in welchem Jahr sie das Medizinstudium aufgenommen hatte (»Direkt nach dem Krieg, Sir …«), seiner Stimme war jedoch kein Wiedererkennen anzumerken, und er wurde auch nicht freundlicher, erkundigte sich aber nach Details von Ammus Tumor, der Größe und genauen Lokalisation. Maya las aus dem Arztbericht vor, den Ammu ihr ausgehändigt hatte. Und dann erklärte der Professor sich bereit, sie zu behandeln, sie röntgen zu lassen und dann den nächsten Schritt mit ihr zu besprechen. Ja, bestätigte er, vermutlich würde eine Entfernung der Gebärmutter notwendig werden. Er verlor kein Wort über die Risiken oder möglichen Komplikationen oder Überlebenschancen; für ihn war Rehana nur eine Patientin unter vielen. »Rufen Sie meine Sekretärin an, und machen Sie einen Termin mit ihr aus.« Das gefiel Maya an den Chirurgen, sie redeten nie lange um den heißen Brei herum.
*
Am Tag vor der Operation erschien Rehanas Freundin Mrs. Rahman an der Tür, einen Teller mit Shemai in der Hand und ihren fünfjährigen Enkel im Schlepptau.
»Ich habe Surjo eine ganze Woche lang«, sagte sie und hielt den herumzappelnden kleinen Jungen am Handgelenk fest. »Neleema und ihr Mann sind nach Sillong gefahren.« Sie lächelte. Der kleine Junge wollte als erstes den Lilien im Garten die Blüten abreißen.
»Laß die schön in Ruhe«, schalt Maya ihn. Sie wollte nicht, daß ihre Mutter aus dem Krankenhaus heimkam und ein abrasiertes Blumenbeet vorfand.
Wenige Augenblicke später kam schon Rehana in einem Sari an die Tür, den Maya besonders gern mochte: Moosgrüne Baumwolle mit einer rosa Paisley-Bordüre. Maya hatte einmal im Scherz gesagt, Ammu sollte ihr den Sari doch vererben, etwas, das ihr jetzt natürlich sofort wieder einfiel, als sie ihrer Mutter zu einem Gartenstuhl half und ihr ein Kissen in den Rücken steckte.
»Es ist ja nichts Schlimmes«, sagte Rehana zu ihrer Freundin. Der kleine Junge kam auf sie zugerannt und jammerte, eine Feuerameise hätte ihn gebissen. »Mein armer kleiner Schatz«, sagte Mrs. Rahman und küßte die Stelle, an der sich ein rotes Pünktchen zeigte. Surjo lief wieder los und schlug mit einem Stock nach den Insekten, und Rehana fuhr fort: »Es ist wirklich keine große Sache, machen Sie sich bitte keine Sorgen.«
Mrs. Rahman nickte. »Gott hat alles in seiner Hand. Was dem Menschen auf der Stirn geschrieben steht, ist bereits festgelegt.«
Alles im Leben damit zu erklären, daß das Schicksal dem Menschen auf die Stirn geschrieben sei, haßte Maya am allermeisten. Sie wollte gerade etwas sagen, erinnerte sich aber in letzter Minute an den Morgen desselben Tages, an dem eine Nachbarin ein Stück Papier geschickt hatte, das den Tumor angeblich verkleinern würde, weil der Heilige der Acht Schnüre daraufgeblasen hatte. Ihre Mutter hatte sie inständig gebeten, ihre Ansichten für sich zu behalten.
»Wie geht es Neleema und ihrem Mann?« fragte Rehana.
»Danke, gut. Sie ist wieder in anderen Umständen.«
»Oh, Alhamdulillah.«
Mrs. Rahman schwieg schuldbewußt, weil sie ihre guten Neuigkeiten nicht für sich hatte behalten können.
Maya hatte Zaid in der Küche zurückgelassen, wo er an einem Hühnerschenkel herumnagte. Als sie zurückkam, war er immer noch beim Essen und hatte gelbe Soße an Händen und Mund kleben. »Immer hungrig, das arme Kind«, flüsterte Sufia ihr zu.
»Lecker, lecker, lecker«, verkündete Zaid, wobei er den Knochen zwischen den Zähnen knacken ließ und begeistert mit dem Kopf wackelte.
»Jetzt komm mal mit«, sagte Maya und zog ihn hinter sich her nach draußen an den Wasserhahn. Sie schrubbte ihm die Hände mit Seife, während er zusah. »Wann hast du davor zum letzten Mal was gegessen?« fragte sie. Sie hatte ihn vernachlässigt. Bei den vielen Arztbesuchen und dem eisigen Gefühl, daß sie schuld an Ammus Erkrankung war, hatte sie kaum Zeit für Zaid gehabt. Jetzt wusch sie seine Handgelenke mit einem kleinen Waschlappen ab und versuchte, dem Schmutz beizukommen, der sich in den Falten an seinen Händen abgesetzt hatte. Sie schob seine Ärmel hoch und hielt inne, als sie die kleinen runden Schorfstellen sah, die darunter verborgen gewesen waren. So etwas hatte sie schon einmal gesehen. Würmer? Sie tastete seinen kleinen Bauch ab, der jetzt nach dem Essen rund und prall war, dann zog sie ihn an sich. Als er die Arme um sie schlang, bemerkte sie, daß er nach Erbrochenem roch.
»Hast du heute spucken müssen?«
»Nein.«
Sie war sich nicht sicher, daß er die Wahrheit sagte. »Bring nachher deine Kleider runter«, sagte sie. »Sufia wäscht sie dir.«
Er nickte.
»Und was ist mit dem Abc, weißt du’s noch? A wie?«
Das Blut stieg ihm in die Wangen. »Apfel«, sagte er, krempelte die Ärmel herunter und schüttelte die Beine aus. »Ich muß jetzt weg.«
»Willst du Dadu denn gar nicht Khodahafez sagen? Sie muß ins Krankenhaus.«
Er riß die Augen auf. »Ist sie dann tot?«
»Nein, natürlich nicht. Aber sie bleibt ein paar Tage weg, also komm und verabschiede dich von ihr.«
Sufia servierte Mrs. Rahman gerade Tee im Garten. Der kleine Surjo kam hinter dem Mangobaum hervorgesprungen, ballte die Hände zu Pistolen und schoß damit auf seine Großmutter. »Bumm, bumm.«
Mrs. Rahman tat so, als wäre sie tödlich getroffen.
Zaids Hand in Mayas wurde feucht. »Wer ist das?«
»Das ist der Enkel von Mrs. Rahman. Willst du mit ihm spielen?«
»Nein.«
»Du brauchst keine Angst zu haben, er ist viel kleiner als du.«
»Ich will aber nicht.« Zaid wollte sich verdrücken, aber Mrs. Rahman hatte ihn schon bemerkt. »Ist das der Kleine von Sohail?«
»Ja«, antwortete Rehana und musterte Zaid schnell. Wenigstens hatte er keine zerrissenen Sachen an.
»Komm doch mal her«, rief Mrs. Rahman ihn zu sich, und als sie sah, wie er zögerte und sich Mayas Hand vor die Augen hielt, sagte sie: »Na komm, ich schenk dir auch ein Mimi.«
Zaid blieb wie angewurzelt stehen, dann ließ er Mayas Hand los und näherte sich ihr ganz vorsichtig.
»Na komm her.« Rehana hatte ihrer Freundin ein wenig von Sohail erzählt, aber Mrs. Rahman war dennoch so schockiert über den Anblick des Jungen, daß der Schreck sich kurz auf ihrem Gesicht abzeichnete. Zaid streckte ihr jetzt die Hand hin, und Mrs. Rahman tätschelte ihm den mit der Gebetsmütze bedeckten Kopf. Sie durchwühlte ihre Handtasche nach dem versprochenen Schokoladenriegel.
»Der gehört mir!« Ihr Enkel kam wie von der Tarantel gestochen herbeigerannt.
»Jetzt sei mal nicht so, mein Schatz, ich habe bestimmt genug für euch beide.« Sie zückte den Schokoriegel, dessen Verpackung mit dem Foto einer Orange geschmückt war, brach ihn entzwei und hielt jedem Jungen eine Hälfte hin.
»Das ist alles meins!« Surjo grabschte sich beide Hälften und stopfte sich die eine davon blitzschnell in den Mund.
»Komm, benimm dich«, sagte seine Großmutter. »Willst du dem Jungen denn nichts abgeben? Nein? Ich kauf dir auf dem Heimweg eine neue Schokolade. Ich kauf dir zwei. Jetzt gib’s dem Jungen. Gut gemacht. Was bist du doch für ein kleiner Engel.«
Surjo schmierte Zaid die halbe Schokolade in die Hand. Zaid starrte den schmelzenden Riegel einen Augenblick an. Dann drehte er sich um, hielt die Schokolade so weit wie möglich von sich weg und entfernte sich langsam, einen Fuß vor dem anderen.
»Khodahafez«, rief Rehana ihm nach. »Wir sehen uns ganz bald wieder.« Zaid drehte den Kopf nach ihr um und nickte einmal, dann trottete er langsam weiter, bis zur Rasenkante, wo er stehenblieb, die Hand an den Mund hob und vorsichtig an dem Schatz in seiner Handfläche leckte.
*
Die Ausgabe des Rise Bangladesh! kam über das Tor hinweggeflogen und landete auf der Veranda. Shafaat hatte ihren Artikel auf Seite drei neben ein langes Traktat über den militärisch-industriellen Komplex gesetzt, gegenüber einer Anzeige zu Ehren des Jahrestags der kommunistischen Revolution in Bulgarien. »Bekenntnisse einer Landärztin« von S. M. Haque. Sie hatte über ein großartiger klingendes Pseudonym nachgedacht, aber ihr war nichts eingefallen. Die Zeit vor Ammus Diagnose schien bereits sehr weit zurückzuliegen. Sie hatte mit Nazias Geschichte angefangen; jetzt fragte sie sich, welchem Thema sie sich als nächstem widmen sollte. Das Leben hier in Dhaka, die Rückkehr in den Bungalow, hatte Dämme brechen lassen, die sie sorgfältig gegen die Erinnerungen errichtet hatte: Erinnerungen an die Vergangenheit, an ihren Bruder, an den Krieg. Sie dachte an die Zusammenkunft mit Jahanara Imam und wie sie aus dem Raum gestürmt war. Und warum. An das Filmvorführgerät im Gartenhaus. Ich kannte einmal eine junge Frau, die hieß Piya.
*
Sie hatte sich von Zaid Läuse geholt. Im Krankenhaus teilte Rehana Mayas Haare, betupfte die Kopfhaut mit Petroleum und machte Jagd auf die weißen Läuseeier.
»Jetzt hör doch mal auf, Ammu, das kann doch auch Sufia später machen. Du mußt dich jetzt auf deine Operation vorbereiten.«
In der Ecke schluchzte Sufia untröstlich. »Was soll ich nur tun, wenn Sie sterben?« klagte sie. »Was soll dann aus mir werden?«
Maya hörte ihre Mutter hinter ihrem Rücken seufzen. »Ich sterbe noch lange nicht. Du bist bestimmt lange vor mir tot.« Nachdem sie Mayas Haare ausgiebig eingeölt und abgesucht hatte, ging sie mit einem feinzinkigen Nissenkamm hindurch.
Sufia zeigte auf Maya. »Die mag mich nicht. Die würde mich in einer halben Sekunde auf die Straße setzen.«
»Sie tut nur so unfreundlich«, sagte Rehana, wobei sie Mayas Haare in ein Handtuch auskämmte. »Innerlich ist sie weich wie Reispudding. Maya, jetzt sieh dir das an. Alles völlig verlaust.«
Maya drehte sich zu ihr um und sah vereinzelte kleine schwarze Insekten auf dem Handtuch. Rehana zerquetschte jedes einzeln zwischen den Fingernägeln.
»Widerlich«, sagte Maya. »Nicht zu fassen, wie schnell die sich ausgebreitet haben.«
»Weil du nicht sofort was dagegen unternommen hast.«
»Der kleine Drecksbengel. Der kriegt eine Tracht Prügel von mir.«
Rehana faßte mit beiden Händen nach Mayas Gesicht und drückte es ein wenig. »Sag so was nicht. Niemals. Hörst du?« sagte sie.
»Tut mir leid, Ma – nur manchmal weiß ich wirklich nicht, was ich mit ihm machen soll.« An diesem Morgen hatte er ihr versprechen müssen, daß er seine Lektionen schön üben würde, aber er wollte unbedingt zum Friedhof fahren, damit er seine Mutter wieder um das Fahrrad bitten konnte. Und auf dem Rückweg hatte er Maya verärgert, weil er unbedingt auf die Schule, auf die richtige Schule gehen wollte. Aber gefällt’s dir denn nicht auf der Maya-Schule, hatte sie im Scherz gefragt. Er hatte den Kopf geschüttelt. Die ist nicht richtig, hatte er gesagt. Nicht so gut.
»Sie hat noch kein Wort mit mir gesprochen, seit sie angekommen ist«, sagte Sufia und schneuzte sich die Nase.
Rehana hatte Mayas Haare fertig ausgekämmt und flocht sie jetzt zu einem Zopf. »Es ist ein Routineeingriff«, sagte Maya beim Aufstehen ungeduldig und strich sich den Kamiz glatt. »Ihr passiert gar nichts.«
»Ich glaube nicht, daß sie weiß, was ein Routineeingriff ist, Maya.«
»Ich fass’ es nicht«, stöhnte Maya. Sie stürmte aus dem Zimmer und lief durch die Krankenhausgänge, bis sie fand, was sie gesucht hatte: einen Medizinstudenten. »Entschuldigung«, sagte sie, »darf ich das mal kurz ausleihen?« Und sie zog dem jungen Mann das Stethoskop vom Hals, bevor er protestieren konnte. »Ich bring’s gleich zurück«, sagte sie und eilte zurück an Ammus Bett. »Sufia, komm her.«
Sufia näherte sich ihnen nur zögerlich. Maya legte Ammu die Metallscheibe des Stethoskops an die Brust und ließ Sufia hören. »Hörst du das? Das ist ihr Herz.«
Sufia riß die Augen auf. »Stark.«
»Stark wie ein Ochse«, sagte Rehana, »mir können sie nichts anhaben.«
»So eine Operation dauert zwei, maximal drei Stunden«, wiederholte Maya die Sätze, die sie sich selbst ständig vorsagte. »Dr. Sattar ist einer der besten Chirurgen im Land.«
Rehana legte ihre Hand, in der eine Kanüle steckte, auf Mayas Hand. »Sprich den Thronvers mit mir.«
Maya wandte sich ab und blickte zu der Stelle, an der sich der dünne Vorhang rund um Rehanas Krankenbett öffnete; auf dem Gang waren Krankenschwestern zu sehen, die mit Nierenschalen und Blut- und Salzlösungsbeuteln zielstrebig hin und her liefen. Sie hatte auf einmal unfaßbare Angst um ihre Mutter, und die düstere Vorahnung, welche sie unter dem Jackfruchtbaum in Rajshahi überfallen hatte, erfaßte sie von neuem – was alles schiefgehen konnte, und das bohrende Gefühl, daß das alles ihre Schuld war und der Tumor aus der Einsamkeit ihrer Mutter gewachsen war. Am liebsten hätte sie Ammu gebeten, die Operation abzusagen, sie zu verschieben, vielleicht auf den Winter, wenn es nicht mehr so heiß und ein Stromausfall weniger wahrscheinlich war. Oder vielleicht bis sie einen noch besseren Arzt gefunden hatten, einen jüngeren, der gerade mit den neuesten Narkosetechniken aus dem Ausland zurückgekehrt war. Und Sufia hatte natürlich recht: Würde ihre Mutter sterben, wäre Maya nie und nimmer in der Lage, sie zu ersetzen. Die Bougainvillea würde absterben, und die Früchte würden ungepflückt vom Guavenbaum herunterfallen. Außerdem war Ammu war der einzige Mensch auf der Welt, der Maya noch liebte.
Ammu wollte nichts weiter als ein Gebet. Diesen Wunsch würde sie ihr doch wohl erfüllen können. Sie versuchte, die Worte in sich wiederzufinden, aber sie waren tief in ihr vergraben und mit zu vielen anderen Dingen verstrickt. Die Enttäuschungen, ihr wundes Herz, der Zustand ihres Landes und der Diktator, der sich mit jedem zweiten Wort auf Allah bezog – all das lag wie eine Last auf den Worten des heiligen Buchs getürmt. Keine Sorge, wollte sie ihrer Mutter sagen, wir brauchen den Thronvers nicht. Wir haben doch die Wissenschaft. Aber sie konnte nicht anders, sie mußte daran denken, daß jeder Tod, jede Trennung von Körper und Geist, deren Zeugin sie geworden war – auf dem Dorf, im Feldlazarett, in den Krankenhausstationen –, stets von Gebeten begleitet worden war.
Dr. Sattar trat durch den Vorhang, gefolgt von einer ganzen Schar von Medizinstudenten, die sich in den Raum drängten. »Ist meine Patientin soweit?« Er nahm die Akte am Fußende des Betts zur Hand.
Rehana winkte ihm zu, als sei er sehr weit weg. »Sie hätten doch nicht selbst zu kommen brauchen, Herr Doktor.«
Dr. Sattar überraschte Maya mit einem Lächeln. »Unsinn. Wir sorgen für unseresgleichen, habe ich recht, Dr. Haque?«
»Ja, Sir«, antwortete sie.
Er befahl den Studenten, Rehana den Blutdruck zu messen und den Tropf richtig einzustellen. Sie wuselten nervös um ihn herum. »Ihr Bruder wartet draußen«, sagte einer von ihnen zu Maya.
»Bruder?« erwiderten Maya und Rehana wie aus einem Mund. Einen Augenblick lang dachte Maya, es könnte sich um irgendeinen entfernten Cousin ihrer Mutter handeln, der nach Erhalt des Telegramms aus Karatschi eingetroffen war. Doch dann wurde Maya klar, daß es sich um Sohail handeln mußte.
»Ich bin gleich wieder da, Ma«, sagte sie. »Sag einfach der Krankenschwester Bescheid, wenn du irgendwas brauchst.«
Sohail lehnte an der Balkonbrüstung, den Blick auf das Kachelmosaik unten gerichtet. Der Himmel über ihnen bezog sich, wurde lila und grau, es war völlig windstill. Alles hielt in diesem Augenblick vor dem Nachmittagsguß die Luft an.
»Wie geht es Ammu?« fragte er.
»Es geht ihr bestens. Du solltest reingehen und ihr hallo sagen.« Unsere Mutter könnte sterben, dann wären wir Waisen, und ich deine letzte Angehörige. Ob er dasselbe dachte?
»Der Chirurg –«
»Er ist sehr erfahren, mach dir keine Sorgen. Sie wird wieder gesund.« Oder auch nicht. War er von dem Tonfall überzeugt, den sie anzuschlagen versuchte, der Sicherheit der Medizinerin?
Er nickte. »Inschallah.«
»Und du, wie geht es dir?« Sie musterte ihn; ihr Blick blieb an dem blauen Fleck an seiner Stirn hängen, der dort von den unendlich vielen Niederwerfungen auf dem Gebetsteppich wie eine schwarze Perle hing.
»Allah sei Dank geht es mir gut.« Es fing an zu regnen, der heftige, seitlich einfallende Regen, der Maya an ihre Kindheit erinnerte, an den Geruch von nassem Zement, als sie zu den Fenstern gerannt waren, um sie schnell zuzumachen, bevor die Matratzen durchnäßt waren. Sohail trat nicht vom Balkongeländer zurück. Maya blieb neben ihm stehen, und der Regen prasselte mit voller Wucht auf beide ein. Sohails Bart glänzte vom Wasser. Er richtete sich auf und musterte Maya eingehend. War das Zärtlichkeit, was sie in seinem Blick sah? Sie versuchte, die Augen trotz des Regengusses offenzulassen. Es wäre zu schlimm, wollte sie von ihm hören, zu schlimm, unsere Mutter jetzt zu verlieren. Doch statt dessen sagte er: »Zaid hat mir erzählt, er hätte die englischen Buchstaben bei dir gelernt.«
»Ja. Demnächst liest er Middlemarch.«
Er lachte. Sie lachte. Der Regen hörte so plötzlich auf, wie er angefangen hatte. Sie wollte ihren Bruder umarmen und tat es auch, und er umarmte sie auch und drückte sie an sich. Regen vermischte sich mit salzigen, warmen Tränen.
»Es wird nichts Schlimmes passieren, Bhaiya«, sagte sie.
»Von Schwester Khadija habe ich gehört, du hättest Zaid Kartenspiele beigebracht.«
»Ja«, antwortete sie, »er ist schrecklich gerissen.«
»Schwester Khadija ist verärgert. Glücksspiel ist nicht erlaubt.«
Maya trat einen Schritt zurück, als der Schock seiner Worte sie traf. »Ja, aber es ist doch nur ein Spiel. Ammu spielt auch Karten.«
»Du kennst den Unterschied zwischen halal und haram. Wenn nicht, dann sollte Schwester Khadija vielleicht besser wieder Zaids Erziehung übernehmen.«
Nein, so hatte sie das doch nicht gemeint. Verzweiflung überkam sie. »Nein, bitte nicht.«
Er legte ihr die Hand auf die Schulter, als würde sie ihn vielleicht sonst nicht verstehen. »Der Junge vermißt seine Mutter, das weiß ich ja. Ich müßte mehr Zeit für ihn haben, aber …«
Sie versuchte, nicht sarkastisch zu klingen. »Deine Verpflichtungen?«
Er wirkte verletzt und sah an ihr vorbei hinauf zu dem kleinen Fleckchen blauem Himmel, das jetzt zwischen den Wolken sichtbar wurde. »Ein Junge muß seinen eigenen Weg in der Welt finden.«
Sie war sich nicht sicher, was er damit meinte, aber sie wollte ihm zustimmen, wollte seiner Meinung sein und Sohail versichern, daß er sein Bestes tat. Es war bestimmt nicht einfach, einen Sohn aufzuziehen. Er legte die Regeln fest, das war ihr klar, aber bei ihm klang es so, als habe er keine Wahl, als sei es eine Art Naturgesetz, das er dem Jungen auferlegte. Sie kämpfte mit sich, weil sie genau wußte, daß sie ihn ganz verlieren konnte, wenn sie zu vorlaut war. Daß er ihr vielleicht nur deswegen noch einmal eine Chance gab, weil seine Frau nicht mehr da war, weil sie gestorben war, bevor sie ihm den letzten Tropfen Gift ins Ohr träufeln konnte, von dem er für immer taub für sie geworden wäre. Maya versuchte, wenigstens dafür dankbar zu sein.
»Geh doch rein und besuch Ammu – sie wartet auf dich.« Und sie drehte sich um und ging die Treppe hinunter in Richtung OP, wobei sie sich die Wangen, die noch naß vom Regen waren, mit dem Ende ihres Saris trocknete.