1984
Juni
Mehrere Monate nach der Party bei Chottu und Saima rief Joy mit einer weiteren Einladung an. »Die Party hat dir nicht so schrecklich viel Spaß gemacht, oder?«
»Dir etwa?« Sie freute sich, seine Stimme zu hören. »Warum hast du dich denn gar nicht gemeldet?«
Er lachte. »Ich habe auf einen guten Anlaß gewartet, und der hat sich gerade ergeben.«
»Aha, und der wäre? Ich hoffe, nicht noch ein schicker Tanzabend mit Whisky?«
»Biene Maya, du bist hart wie ein Stück Kandiszucker. Nein, diesmal ist es etwas ganz anderes – ich dachte, vielleicht möchtest du ja mal die andere Seite kennenlernen.«
»Was für eine andere Seite?«
»Leute, denen die gleichen Sachen wichtig sind wie dir.«
»Nein danke. Hab ich schon. Du erinnerst dich an Aditi? Ich habe sie auf der Party kennengelernt. Sie hat mich in ihre Zeitungsredaktion eingeladen. Der Herausgeber hat mir eine Kolumne gegeben.«
»Shafaat?«
»Du kennst ihn?«
»Den kennt jeder.«
Wie er jeder sagte, gefiel ihr nicht. Maya wollte es ihm gerade sagen, da fuhr er fort: »Ich meine richtige Revolutionäre. Ich versprech’s dir, du wirst es nicht bereuen – ich hol dich heute nachmittag um drei ab.« Bevor sie antworten konnte, hatte er schon aufgelegt. Echte Revolutionäre – er wußte, daß sie dem nicht widerstehen konnte, auch wenn es nur ein Witz war. Jedermann wußte, daß es keine echten Revolutionäre mehr gab, nicht in Dhaka und im Rest der Welt auch nicht. Es war immerhin 1984.
Sie fuhren nach Kolabagan. Die Frau, die ihnen die Tür öffnete, stellte sich als Mohona vor. »Kommt mit«, sagte sie und ging den beiden durch einen unbeleuchteten Korridor voran, der nach Schimmel und alten Büchern roch. Der Korridor führte zu einem Salon mit großen Fenstern auf einer Seite. Philodendronpflanzen rankten sich an den Gitterstäben empor und streckten die Fühler nach der Decke aus. Eine Handvoll Leute war schon da und saß in einem lockeren Kreis. Maya war seit Ewigkeiten bei keiner Versammlung mehr gewesen, aber alles wirkte vertraut: die Frauen in den schlichten Baumwollsaris, die einfachen, mit Jute bespannten Sitzmöbel, der Geruch nach Papier und Räucherstäbchen. Sie trennte sich von Joy und nahm neben einem Mann in Uniform Platz.
»Guten Tag, ich heiße Sheherezade«, stellte sie sich mit ihrem formellen Vornamen vor.
»Leutnant Sarkar«, erwiderte er mit einem Nicken. »Waren Sie schon einmal bei einem Treffen?«
»Nein, ich bin zum ersten Mal da.«
»Heute soll Jahanara Imam kommen.«
Maya riß die Augen auf. »Wirklich?«
Jahanara Imam hatte ein Buch darüber geschrieben, daß sie ihren Sohn im Krieg verloren hatte. Jeder hatte es gelesen; sie wurde Shahid Janani genannt, die Mutter der Märtyrer. Ein Glück, daß Joy sie mitgenommen hatte. Vielleicht konnte Maya sogar einen Artikel darüber schreiben.
Sie machte es sich bequem und zog ein Notizbuch heraus. Schon bald füllte sich der Raum; als keine Stühle mehr übrig waren, lehnten die Leute an der Wand, andere hockten auf dem Boden. »Da ist sie.« Der Soldat zeigte auf eine ältere Frau, die sich gerade hingesetzt hatte.
Mohona eröffnete die Versammlung. Sie hieß alle Anwesenden willkommen, auch, mit einem Kopfnicken in Mayas Richtung, alle, die zum ersten Mal dabei waren. Joy fand noch einen Platz in der Reihe hinter Maya und tippte ihr auf die Schulter. »Was habe ich dir gesagt?«
Jahanara Imam erhob sich. Die winzige Frau in dem weißen Baumwollsari sah so gebrechlich wie flüchtiger Schaum aus. Aber ihre Stimme war kräftig und ihre Worte direkt. »Dreizehn Jahre sind nun vergangen«, hob sie an, »doch ich weiß, daß Sie nichts vergessen haben, genausowenig wie ich. Dreizehn Jahre sind vergangen, und unser Krieg ist nicht vorbei. Unsere Freiheit haben wir vielleicht errungen, vielleicht brauchen wir den Kopf nicht mehr zu beugen, und wir können sagen, daß wir ein Land haben, unser Land. Doch was ist das für ein Land, das die Männer davonkommen läßt, die es verraten haben, die Männer, die gemordet haben! Es läßt sie frei herumlaufen und als Nachbarn der Frauen leben, die sie zu Witwen gemacht haben, der jungen Mädchen, die sie vergewaltigt haben.«
Sie erzählte die Geschichte von Ghulam Azam, dessen Schlägertrupp mit der pakistanischen Armee kollaboriert, sie zu Guerillaverstecken geführt und beim Niederbrennen von Dörfern mitgewirkt hatte. Ghulam Azam war nicht nur freigesprochen worden, sondern sollte jetzt auch noch die bengalische Staatsangehörigkeit erhalten.
Es war immer Mayas Stolz gewesen, nicht zu vergessen, wer sie vor Kriegsausbruch gewesen war. Sie wußte noch haargenau, welche politischen Überzeugungen sie gehabt und was sie sich geschworen hatte. Für welches Land sie gekämpft hatte. Sie wußte noch genau, wie die toten Männer mit den auf dem Rücken gefesselten Händen und den in Blut getauchten Gesichtern ausgesehen hatten, und sie würde keinen einzigen Tag vergessen, an dem sie im Flüchtlingslager mit nichts als einem Löffel und einem Jagdmesser ausgerüstet Männern Kugeln aus dem Leib geholt hatte.
Sie hatte nichts von dem vergessen, wofür sie gekämpft hatte und wer sie gewesen war und wer zu bleiben sie sich geschworen hatte. Als sie der Rednerin jetzt zuhörte, fühlte sie sich in einen anderen Körper zurückversetzt, einen, der nicht all die Monate und Jahre lang einsam gewesen war, der nicht von zu Hause weggegangen war und das letzte Jahrzehnt achtlos zu Boden getrampelt hatte, einen, der die Erinnerungen im richtigen Augenblick heraufbeschwören und wütend werden konnte, wenn der Augenblick für Wut da war.
Sie klatschte, wenn die andern auch klatschten, zwischen Jahanara Imams Sätzen. Es wurde heiß im Zimmer, und zwischen dem Dickicht aus Philodendronranken fiel direktes Sonnenlicht ein. Der Deckenventilator wurde angeschaltet, und die Frauen glätteten die Falten ihrer Saris, die in der Zugluft aufflogen. Maya hielt die Seiten ihres Notizbuchs fest.
Als Jahanara Imam geendet hatte, stand Mohona wieder auf. »Wie viele von Ihnen haben Angehörige im Krieg verloren?«
Viele Hände gingen nach oben, auch Mayas Hand.
»Madam«, sagte ein Mann im grauen Anzug, »ich habe Vater und Mutter verloren. Sie waren Professoren und wurden in der Uni erschossen.« Eine Stimme hinten aus dem Raum fügte hinzu: »Meine Verwanden haben in Alt-Dhaka gewohnt. Mein Onkel und mein Großvater wurden ermordet.«
Immer mehr Leute meldeten sich, gaben den Tag ihres Verlusts und dessen Umstände bekannt. Zwischen die Fronten geraten. Von der pakistanischen Armee beim Überfall auf ihr Dorf erschossen. In der Kaserne zu Tode gefoltert.
Maya klammerte sich an ihrem Stuhl fest, als sie die persönlichen Bekenntnisse hörte. Würden sie der Reihe nach alle aufstehen und bekennen müssen, wen sie verloren hatten, was genau sie während des Krieges getan hatten? Sie merkte, daß sie im Luftstrom des Ventilators zu zittern anfing. Eine Frau redete davon, daß alle Greueltaten des Krieges dokumentiert werden müßten. »Wir sollten eine Liste machen«, schlug sie vor, »und alle Mörder beim Namen nennen.«
Maya hob die Hand. Mohona zeigte auf sie. »Ich glaube, als erstes müßten wir auch unsere eigenen Fehler eingestehen. Daß wir auch Sünden begangen haben. Es ist so viel im Laufe des Krieges passiert – wir waren nicht nur Opfer.«
Es wurde auf einmal sehr still im Raum.
Leutnant Sarkar wandte sich ihr zu und sagte freundlich: »Sie sprechen zu einem Raum voll leidender Seelen, meine Liebe.«
Sie hörte die Leute leise atmen, die hofften, daß der peinliche Augenblick vorübergehen würde. Schließlich ergriff Mohona das Wort. »Jeder von uns trägt seine ganz eigene Last. Doch wir sind hier, um über die Kollaborateure zu reden. Wir wollen uns auf diese Aufgabe konzentrieren. Wenn wir die Greueltaten auf systematische Art und Weise dokumentieren, wird Ghulam Azam sicherlich keine Erlaubnis bekommen, dauerhaft in Bangladesch zu bleiben.«
Die Stimmen erhoben sich wieder, und Maya saß mit einem scharfen Stechen unter den Rippen da. Sie dachte an die Menschen, die sie im Krieg verloren hatte, derentwegen auch sie die Hand gehoben hatte. Doch sie hatte auch Dinge getan, die ihr jetzt wieder überdeutlich vor Augen standen. Sie drehte sich zu Joy um. »Ich muß weg«, flüsterte sie.
»Warte doch – es ist fast vorbei. Noch zehn Minuten oder so.«
Sie konnte nicht mehr warten. Sie stand auf und stieg über die Knie von Leutnant Sarkar hinweg. Am Ende der Stuhlreihe stieß sie eine Teetasse um, und bei dem Geklapper wurde es wieder still im Raum. Sie murmelte eine Entschuldigung und floh. Sie stürmte hinaus ins letzte Abendlicht auf eine stark befahrene Straße, auf der Lastwagenkolonnen vorbeidonnerten. Weiter entfernt standen zusammengewürfelte Blechhütten, und als sie näher kam, sah Maya, daß sie sich bis zum Horizont und darüber hinaus erstreckten, unendlich viele Reihen zerbrechlich wirkender Konstruktionen, die mit aufgeklebten Papierstücken, Filmplakaten, Kalenderblättern, Zeitungen, Jute und Kuhfladen zusammengehalten wurden. Sie fand eine umgedrehte Kiste und setzte sich darauf.
»Ich kann’s dir einfach nicht recht machen.« Es war Joy. Er ging neben ihr in die Hocke.
»Du bist ja nicht mein Fremdenführer.«
»Aber du warst doch so lange weg. Ich will nicht, daß du einen falschen Eindruck von Dhaka bekommst.«
»Ich könnte dir auch ein paar Sachen zeigen, weißt du.«
»Was zum Beispiel?«
»Guck dir das Elendsviertel da an. Weißt du, was das Schlimmste ist, wenn man da wohnt? Und eine Frau ist?«
»Was?«
»Wasser.«
»Warum, weil es verschmutzt ist?«
»Das auch, aber das ist nicht alles. Wenn man als Frau in dem Slum da wohnt, dann muß man mitten in der Nacht aufstehen, wenn es noch dunkel ist, und bis zum Rand der Hüttensiedlung laufen und da den Sari heben und sich über den offenen Abflußkanal hocken. Und dann schleicht man sich auf Zehenspitzen zurück zum Mann ins Bett, und den ganzen Rest des Tages mußt du warten, warten, warten, bis es endlich wieder dunkel ist, dein Bauch fühlt sich an, als ob er voller Nadeln wäre, deine Eingeweide brennen wie verrückt, aber du kannst nichts dagegen tun, nein, du darfst nicht, du mußt warten, bis es dunkel ist und alle Männer endlich schlafen, damit du einmal am Tag ungestört austreten kannst.«
Er hielt den Kopf gebeugt, und sie sah, wie sich seine Hand auf ihre Hand zubewegte, und sie zog die Hand weg – weil sie nicht wollte, daß er glaubte, etwas ließe sich durch eine so einfache Geste lösen, die Grausamkeit ihres Landes, die Kollaborateure, die frei herumliefen und nicht für Mord und Vergewaltigung bestraft wurden. Weil es Dinge gab, die nicht mit einem Händedruck beseitigt werden konnten, Erinnerungen und Sünden und der Zustand der Menschheit.
Sie wandte sich ihm zu. »Ich bin nicht für das Herumsitzen in Versammlungen gemacht.«
»Da gehörst du auch nicht hin. Du streitest dich zu gern.«
Sie lachte. »Du hast recht.« Sie lehnte sich an ihn. »Besorg mir eine Rikscha.«
»Ich fahr dich heim – zum Taxifahrer tauge ich wenigstens.«
*
Maya hatte Zaid gerade die Zahlen von eins bis zehn auf englisch beigebracht, und er sagte sie laut und stolz auf, als das Telefon klingelte. Maya sah auf die Uhr – sechzehn Uhr, es mußte für das Mädchen von oben sein, das allerdings nicht zu sehen war. Sie nahm ab. »Hallo?«
Es knirschte in der Leitung. »Hallo?« Eine Frau. »Maya?«
Nazia. »Nazia?« Das Herz klopfte ihr bis zum Hals.
»Maya Apa.« Sie benutzte die respektvolle Anrede. »Wie geht es dir?«
»Danke, es geht mir gut.«
»Und deiner Mutter?«
»Ihr geht es auch gut. Und wie geht es deinen Kindern?«
Maya hörte, wie Nazia sich räusperte. »Ich habe deine Briefe bekommen. Beide Briefe.«
Sie versuchte, sich daran zu erinnern, was sie geschrieben hatte. Die lang ausschweifenden Erklärungen, die Entschuldigungen. »Es gab viel, was ich dir sagen wollte.«
Nazia atmete laut in den Hörer aus. »Es tut mir leid, daß du weggehen mußtest, auf diese Art.«
»Es war alles meine Schuld. Ich hätte nie sagen sollen, daß du im Teich baden darfst.«
Eine Pause. »Heute darf ich nach Hause, sagt der Arzt.«
Sie war also die ganze Zeit noch im Krankenhaus gewesen. »Die Kinder werden sich freuen, daß du wieder da bist.«
»Ich muß jetzt Schluß machen.«
»Na gut«, sagte Maya. Sie wollte »Gott schütze dich« hinzufügen, aber bevor sie etwas sagen konnte, war die Leitung tot. Sie drückte mehrere Male auf die Gabel, aber es gab nur das sandige Rauschen, nicht einmal ein Freizeichen.
*
»Zaid, was weißt du über deinen Großvater?«
»Er ist tot.«
»Das stimmt. Wußtest du schon, daß er das gleiche Kinn hatte wie du?«
Das hatte sie sich ausgedacht. »Wirklich?«
Sie legte ihren Daumen auf das Grübchen an seinem Kinn. »Ja, genau wie deins.«
Sie fuhren zusammen mit der Rikscha zum Friedhof. An diesem Tag hatte er Sandalen und eine saubere Kurta an, die stark nach Waschmittel roch. Die Worte auf dem Grabstein konnte er schon fast vorlesen: MUHAMMAD IQBAL HAQUE.
»Weißt du eigentlich«, sagte Maya, »daß ich genauso alt war wie du, als mein Vater gestorben ist?«
»Hast du geweint?«
»Nein, ich habe nicht geweint. Ich wußte nicht, daß ich traurig sein sollte.«
»Ich auch nicht.«
Das hatte sie auch schon bemerkt. Sie hatte ja gesehen, wie er über seine Mutter redete und seine ganze Zuversicht in die Erinnerung an sie legte – das Ludo-Brett, ihr Versprechen, er dürfe bald zur Schule gehen. »Deine Ammu war sehr schön«, sagte Maya. »Sie hatte graue Augen, genau wie du.«
Zaid ging einmal um das Grab herum und klopfte dabei mit der flachen Hand auf den Grabstein.
»Willst du etwas zu deiner Mutter sagen, Zaid?«
»Aber die ist doch gar nicht hier.«
»Ja, aber sie kann dich trotzdem hören. Willst du ihr etwas sagen?«
Er blieb stehen und ging in die Hocke. »Ammu«, sagte er, »ich will ein Fahrrad haben.« Dann legte er die offenen Hände wie eine Schale aneinander, wie er es gelernt hatte, und sprach das Glaubensbekenntnis.
In dieser Nacht, als Maya im Schlaf die Füße bis zur Bettkante ausstreckte, merkte sie, daß sie dort etwas Warmes berührte. Sie richtete sich auf und tastete. Eine mit tiefen Atemzügen schlafende kleine Gestalt. Sie mußte träumen. Sie knipste das Licht an. Der Junge, die Hand übers Gesicht gebreitet, rührte sich nicht.
Sie deckte ihn zu, und er drehte sich um und zog sich die Decke über den Kopf. Das Mondlicht erleuchtete die Bäume im Garten.
Später, als das Zimmer ein wenig Farbe annahm, schob sie ihn unter das Moskitonetz, schmiegte sich an ihn und merkte, wie seine Schultern sich entspannten und seine Füße nach ihren Beinen suchten.
*
Am letzten Junitag, als die kochende Hitze jeden Augenblick vom Monsun abgelöst werden konnte, überredete Rehana Maya, das Haus zu verlassen, und stellte sich mit ihr vor das großartigste neue Gebäude der Stadt.
»Das ist ja scheußlich«, sagte Maya und beschattete die Augen mit der Hand. »Ich finde es furchtbar.«
»Na komm, Kind, jetzt sei nicht so hart.«
»Scheußlich.« Sie ließ den Blick schweifen, um das ganze Riesengebäude überblicken zu können. »Ist das Wasser?«
»Ja, es ist inmitten eines großen Wasserbeckens gebaut, wie eine Seerose, die auf dem Wasser schwimmt.«
»Aber warum ist es bloß so gigantisch?«
»Ist doch egal, jedenfalls ist da drin jetzt unser Parlament. Der nette amerikanische Architekt hat das gebaut.«
»Kann ja sein, aber mir gefällt es trotzdem nicht«, beharrte Maya, ging aber trotzdem weiter auf das Parlamentsgebäude zu und die breite Treppe hoch. »Wo ist denn hier der Eingang?«
»Das weiß ich nicht. Man darf nicht reingehen, man soll es von hier aus bewundern.«
Sie wandten dem Parlamentsgebäude den Rücken zu und sahen sich die Parkanlage rundherum an. Der Rasen erstreckte sich im Osten bis zur Sher-e Bangla Nagar, im Westen bis zur Mirpur Road. Die Anlage war beeindruckend, das ließ sich nicht bestreiten. Die Bäume wirkten jetzt schon uralt. Überall im Park waren Paare zu sehen, die unter einem Baum ein wenig Schatten suchten und Händchen hielten. Auf einem Stück Rasen an der Hauptstraße hatte ein Phuchkaverkäufer seinen Karren abgestellt. Er winkte die beiden Frauen heran. »Hast du Hunger, Ma?« fragte Maya.
Sie ließen sich auf den roh zusammengenagelten Stühlen nieder und bestellten zwei Portionen der fritierten Teigbällchen. Die jetzt bereits tiefstehende Sonne warf horizontale Lichtbänder über den großen grünen Teppich vor dem Regierungsgebäude. Maya wünschte sich auf einmal, sie wäre weit weg; ihre Augen sehnten sich nach den Obsthainen Rajshahis und ihrem kleinen Backsteinhäuschen. Sie fragte sich, ob Nazia sie wohl noch einmal anrufen würde; das war mühsam, sie mußte dem Postbeamten Geld geben, und der mußte die Nummer für sie wählen. »Das kleine Dorf war schon eine Art Heimat für mich«, sagte sie unvermittelt, den Blick in die Ferne auf das Gebäude gerichtet, dessen graue Kurven und die Art, wie es massiv und doch filigran zugleich über dem amerikanischen See schwebte, sie immer noch nicht recht akzeptieren konnte.
»Ja, das wird nicht leicht sein, das alles hinter sich zu lassen«, erwiderte ihre Mutter. Ich kann ja immer noch zurückgehen, dachte Maya. Ich kann alles zusammenpacken, die Tür hinter mir zumachen und wieder Landärztin werden.
Die Phuchkas wurden serviert, ein Dutzend fritierte, mit einer Mischung aus Kichererbsen und Kartoffeln gefüllte Bällchen. Maya goß die Tamarindensoße darüber und steckte eines davon in den Mund. Es war so scharf, daß ihre Augen augenblicklich anfingen zu tränen.
»Oh«, sagte Rehana, »er hat zu viele Chilis reingetan.« Sie winkte den Phuchkaverkäufer herbei.
»Nein, laß doch, Ammu, sie sind genau richtig«, sagte Maya und wischte sich die Nase. »Wirklich. Absolut delikat.« Ihre Mutter reichte ihr ein Taschentuch. »Ich hatte ganz vergessen, wie lecker die sind.« Ein Auto nach dem anderen fuhr auf dem breiten Boulevard vor dem Parlamentsgebäude vorbei. Zwischen den Phuchkabissen hörte Maya Autohupen und die Fahrradklingeln an den Rikschas, wenn sie um die Ecke bogen oder die Spur wechselten, und alle paar Minuten den Dhanmondi-Gazipur-Bus, der sich bedenklich nach einer Seite neigte, weil so viele Passagiere tarzanartig draußen an den Haltestangen hingen.
Als ihr der fritierte Teig so köstlich auf der Zunge zerging und das schräge Sonnenlicht die Wange ihrer Mutter lachs- und orangerot beleuchtete, mußte sie an die vielen liebevollen Momente mit ihrer Mutter denken. So war das Leben mit ihrer Mutter – Erinnerung um Erinnerung, die wie die Federn eines Singvogels viele Lagen bildeten und da waren, um sie warm zu halten, oder mit denen sie, wenn notwendig, losfliegen konnte. Ihre Mutter verlieh ihr Flügel, anders konnte man es nicht sagen.
»Auf der Straße ist ja schrecklich viel los«, sagte Maya und nippte an dem Tee, den der Phuchkaverkäufer ihnen mittlerweile gebracht hatte.
Ihre Mutter nickte. »Alles wird immer schneller. Jetzt sind es erst dreizehn Jahre seit der Unabhängigkeit, und man erkennt nichts mehr wieder.«
Dreizehn. Ihr mißratenes Wunschkind von einem Land war erst dreizehn. Das klang nicht sehr alt, aber in der Zwischenzeit waren schon die Panzer durch die Straßen gerollt, mehrere Staatsführer waren gewählt und ernannt worden. Zwei Präsidenten waren bereits ermordet worden. Ihr Land hatte schon in den Kinderschuhen angefangen, sich selbst aufzufressen, die Urvölker im Süden zu massakrieren, Dörfer hinter Staudämmen zu ersäufen, die uralten Bäume im Modhupur Forest abzuhacken. Ein Land, in dem alles schnell ging: Schnell kochte die Wut über, leichtfertig zerstörte es sich selbst.
Die Phuchkas waren aufgegessen, der Tee in den Tassen kühlte langsam ab. Maya wünschte, der Tag würde nie zu Ende gehen. »Ich weiß was«, sagte sie. »Laß uns zum Neuen Markt fahren. Ich will dir einen Sari kaufen.«
»Warum?«
»Weil ich deine letzten sieben Geburtstage verpaßt habe, und siebenmal Id – vierzehn, wenn man das große und das kleine Fest zählt.« Noch als sie das sagte, wurde ihr klar, daß kein Sari der Welt in der Lage sein würde, so viele versäumte Geschenke aufzuwiegen. Aber sie fand den Gedanken schön, zu ihren Lieblingsgeschäften am Neuen Markt zu gehen und mit den Sariverkäufern ausgiebig um den Preis zu feilschen, während diese kalte Getränke für ihre Kundinnen kommen ließen und die Stoffe an den Hüften ihrer halbwüchsigen Söhne vorführten.
»Na gut«, sagte Rehana, »laß uns gehen.«
Der Rikschafahrer bog auf die Mirpur Road ein und strampelte an Gawsia und Chandni Chawk vorbei. Gerade, als er in den Markt abbiegen wollte, kam ihnen eine Menschenmenge aus der Fuller Road entgegen, eine Wand aus Menschen, die auf sie zumarschierte und ein großes, handgemaltes Spruchband hochhielt.
»Die Chattra-Liga«, sagte Maya, die das Symbol aus ihren Studentenzeiten wiedererkannte. Die Demonstranten füllten langsam den Platz vor dem Tor des Neuen Markts. Die Megaphone plärrten. Maya erkannte sich in den vielen Protestierern wieder. »Was wollen die?«
Die Sprechchöre übertönten alles. Es ging darum, daß der Vizekanzler gefeuert worden war. Und um die Korruption des Diktators.
Ein Lastwagen fuhr vor, und uniformierte Männer sprangen unter der geöffneten Plane heraus. Die Demonstranten traten einen Schritt zurück, hielten das Banner aber immer noch in einer durchhängenden Linie hoch. Ein Mann am Megaphon sagte: »Wir sind in friedlicher Absicht hier. Wir wollen gehört werden.«
Die Uniformierten gingen hinter Schildern und Knüppeln in Stellung.
Als die Polizisten angriffen, wirkten sie wie wütende Hausfrauen. Sie prügelten mit ihren Nudelhölzern auf die Rücken der vorne Stehenden ein. Das Spruchband fiel in sich zusammen, sank zu Boden und verfing sich in den Beinen der Protestierer. Die Demonstranten flüchteten in alle Richtungen, aber die Polizisten verfolgten sie und prügelten auf sie ein, bis sie zusammenbrachen und einer nach dem andern unter den Achseln gepackt und zum wartenden Laster geschleppt wurden.
Maya sah einen Jungen, der sich den Kopf mit beiden Händen hielt, und zwischen seinen Fingern floß das Blut heraus. Der Rikschawallah versuchte, kehrtzumachen, aber hinter ihnen waren zu viele Autos, und vor ihnen wurde die Straße von Polizeiwagen versperrt. »Bitte verzeihen Sie mir, aber Sie müssen leider laufen«, sagte er und weigerte sich, den Fahrpreis anzunehmen. »Beeilen Sie sich, wenn Sie nicht jetzt gleich gehen, sitzen Sie hier stundenlang fest.«
Sie liefen in westlicher Richtung auf dem Bürgersteig, weg vom Neuen Markt. Hinter ihnen stiegen Tränengaswolken auf. Maya faßte nach dem Ellbogen ihrer Mutter. »Schnell, Ammu.« Sie fingen an zu rennen, bogen im Dauerlauf von der Mirpur Road ab und überquerten die Brücke. Sie kamen in eine Seitenstraße, und auf einmal war alles still und kein Anzeichen eines Polizeieinsatzes mehr zu sehen. Maya drehte sich um und umarmte Ammu atemlos. Ein Schluchzen stieg in ihrer Kehle auf.
»So hast du früher auch ausgesehen«, sagte Rehana, die ihre Gedanken erahnen konnte.
Maya trocknete sich die Augen. »Wie denn? Jung und unbekümmert?«
»Als ob du dafür geboren wärst, auf der Straße rumzumarschieren.«
Sie gingen zu Fuß zurück zum Bungalow. Um achtzehn Uhr schaltete Maya die Nachrichten an. Eine Nachrichtensprecherin im züchtig festgesteckten Sari las die Meldungen vor. Der Diktator hatte verkündet, daß er ein starkes Bangladesch aufbauen würde. Der Finanzminister gab bekannt, auf für das Land nachteilige Handelsbeziehungen mit Indien werde man sich nicht einlassen. Die Proteste, die Prügelorgien und Festnahmen wurden mit keinem Wort erwähnt.
»Was für eine idiotische Nachrichtensprecherin! Schön rot angemalt hat sie ihren Mund, aber raus kommen nichts als Lügen! Ich weiß nicht, warum du diesen blöden Fernseher überhaupt hast.« Maya schlug mit der flachen Hand auf den Senderwahlknopf.
»Laß das an«, sagte Ammu. Sie bügelte einen Sari und lehnte sich mit ganzer Kraft auf die knittrige Bordüre am Rand.
»Ich fasse es nicht, daß du diese Propaganda glaubst!«
Rehana stellte das Bügeleisen hochkant und richtete sich auf. »Und was glaubst du, wer den ganzen Tag über mit mir geredet hat? Bevor du zurückgekommen bist? Niemand. Manchmal hab ich Sufia gebeten, beim Abstauben ein bißchen zu singen, irgendein Volkslied, nur damit ich wußte, daß jemand da ist. Ich habe den Fernseher gekauft, weil es hier sonst so still ist, daß ich die Ratten höre, die ins Haus zu kommen versuchen! Also erzähl mir bloß nicht, ich soll das ausmachen. Ich sehe fern, solange ich will.« Und sie schlug ebenfalls mit der flachen Hand auf den Knopf, woraufhin das Bild mit einem Satz wieder da war und dann wieder verschwand. Sie drehte an der Antenne. »So ein Mist«, sagte sie, während es auf dem Bildschirm flackerte. Schließlich hatte sie den Sender wiedergefunden, lehnte sich, ohne das Bügeleisen aus der Steckdose zu ziehen, an das Sofa und hörte sich den Wetterbericht an.
»Ich will nicht mehr zurück ins Dorf«, sagte Maya. Da, sie hatte es gesagt. Nur ein Satz. So einfach war das. Maya merkte, wie ihr vor Erleichterung innerlich ganz warm wurde. Sie würde nicht aufhören, Briefe nach Rajshahi zu schicken, und vielleicht würde sie sogar mal wieder hinfahren, wenn das Wetter besser und die Erinnerung an den schwarzen Tag verblaßt war. Nur auf Besuch, bei der Tochter des Postbeamten vorbeischauen, ein paar Antibiotika austeilen. Aber sie würde die Vorstellung aufgeben, sie könnte zurückkehren. Sie würde hier bleiben und ein Leben mit dem anfangen, was übrig war. Nazia würde sie nicht vergessen; Nazias Geschichte, wie sie gewagt hatte, im Teich zu baden, und die Peitschenhiebe, mit denen sie diesen Wagemut bezahlt hatte, würden unvergessen bleiben. Schwarz auf weiß würde es aufgeschrieben werden; die Leser würden wissen, daß ihre Freiheit so leicht zu zerstören war wie die Haut an Nazias Beinen. Aber sie würde hier bleiben, bei ihrer Mutter, den Diktator vor der Tür, den kleinen Jungen unter ihren Fittichen.
Ammu hatte Tränen in den Augen. »Es ist dein Haus«, sagte sie. »Bleib, solange du willst.« Sie umarmten sich noch einmal, und dann waren die Nachrichten vorbei, und Dallas fing an. Maya erklärte sich bereit, es mit Ammu zusammen anzuschauen, wenn sie ihr die Handlung erklärte. »Na gut«, erwiderte sie, »aber du mußt ein bißchen Geduld haben, es ist nämlich ziemlich verwickelt.«
Als Ammu die Füße auf den Couchtisch hochlegte, bemerkte Maya, daß ihr Bauch seltsam aufgebläht wirkte. »Was ist das denn?« fragte sie und klopfte ihrer Mutter auf den Bauch.
»Ach, nichts«, sagte Rehana und schob Mayas Hand weg.
»Laß mal sehen.«
»Ach, laß doch, Beta. Ich werde halt ein bißchen dick, na und?« Und sie beugte sich wieder zum Fernsehgerät vor und drehte es lauter.
In dieser Nacht lag Maya wach und dachte an Sohail. Als sie sechs war, und Sohail acht, wurden sie weggeschickt, um bei einer Tante und einem Onkel in Lahore zu wohnen. Ihr Vater war kurz zuvor gestorben, und alle hielten es für besser, wenn sie eine Weile weg wären, um ihrer Mutter Gelegenheit zu geben, sich vom Schock zu erholen und ein neues Leben aufzubauen. Es wurde von einer zweiten Ehe gesprochen, weiteren Kindern. Sie wären nur im Weg.
Ammu teilte diese Ansicht nicht. Es gab einen Richter und die verlorene Gerichtsverhandlung.
Zwei Jahre lang wohnten sie in Lahore beim Bruder ihres Vaters, Faiz, und seiner Frau Parveen. In einem riesigen Haus. Sohail und sie hatten eine Ayah, die auf der Veranda vor ihrem Zimmer schlief. Wenn sie etwas wollten, brauchten sie nur auf die Klingel neben dem Lichtschalter zu drücken.
In manchen Nächten schlüpfte Parveen zu Maya ins Bett und legte ihr sanft die Hand auf die Stirn, weil sie glaubte, daß die Kleine schlief. Maya hörte sie tief seufzen und roch ihren nach Hustensaft riechenden Atem, dann schlief sie zum Klang von Parveens leisem Schnarchen ein.
Ihre Erinnerungen an diese zwei Jahre bestanden vor allem aus Sohail. Sohail, der im Flugzeug ihre Hand hielt. Sohail, der sich bückte und ihr die Schnürsenkel band. Sohails Taschentuch an ihren Augen. Sohail, der sie ermahnte, in der Schule den Mund zu halten, bis sie genug Urdu sprechen konnte. Sohail, der ihr die Rotis in kleine Stückchen riß und auftürmte, so wie sie das gerne hatte.
Er war Vater und Mutter und Bruder für sie. Ihr nächster Angehöriger. Ihr einziger Freund.
Als sie nach Dhaka zurückkehrten, stand ein sehr großes, zweistöckiges Haus dort, wo früher die Hälfte ihres Gartens gewesen war. Ammu machte eine Führung mit ihnen, und ihre Chappals klapperten über den nackten Betonboden. Von dem Balkon oben, der sich wie eine Schlingpflanze einmal rund um das ganze Haus wand, konnte man das Flachdach ihres schäbigen kleinen Bungalows sehen, das Regenwasser, das sich in vermoosten Pfützen sammelte, der grau gewordene Putz.
Sie konnten nicht in dem großen Haus wohnen. Ammu würde es vermieten und ihnen von dem Geld schöne Sachen kaufen. Es war ihre zweistöckige Lebensversicherung, dieses Haus. Jedesmal wenn Ammu es betrat, flüsterte sie ein Gebet; ständig wischte sie mit einem Staubwedel über das Treppengeländer. Sie streckte die Hand aus und berührte den Türrahmen an der Haustür. Sie sollten es Shona nennen: Shona, als ob es aus reinem Gold wäre.