1985

Februar

Der Vorschuß vom deutschen Mieter hieß, daß ein halbes Jahr lang keine Einnahmen mehr vom großen Haus kommen würden. Mayas Ersparnisse waren auch aufgebraucht. Sie beschloß, auf Dr. Sattars Angebot einer Stelle an der Uniklinik einzugehen. Er bat sie zu einem Vorstellungsgespräch. Die Kommission war beeindruckt von ihren guten Noten und der ausgezeichneten Abschlußprüfung, aber ihre Jahre auf dem Land verwirrten sie. Warum hatte sie die Chirurgie an den Nagel gehängt? Maya antwortete, so gut sie konnte, und stellte die Jahre als Landärztin wesentlich zielgerichteter dar, als sie es tatsächlich gewesen waren. Sie schaffte es, die Kommission zu überzeugen. Sie mußte zwar als Assistenzärztin anfangen, unter den anderen Ärzten ihres Jahrgangs, aber für den Anfang war es nicht schlecht. Als sie auf dem Weg nach draußen durch das Krankenhaus ging, war ihr leicht ums Herz. Hier würde es ein System geben, Krankenakten und Register und Verschreibungen. Studenten, denen man Befehle erteilen konnte. Sie wäre nicht allein dafür verantwortlich, wenn jemand starb, sie würde nicht mehr den Mann und die drei Kinder der Patientin kennen und wissen, was sie hatten verkaufen müssen, um sich den Krankenhausaufenthalt leisten zu können. Ihre Welt verkleinerte und vergrößerte sich: voller Vorfreude dachte sie an Kollegen, Krankenhauspolitik und Getratsche auf den Korridoren.

Daran dachte sie, als sie an diesem Tag nach Hause zurückkehrte. Als sie Joys Wagen in der Einfahrt stehen sah, machte ihr Magen einen kleinen Satz.

Im Wohnzimmer duftete es nach Parfüm. Eine kleine Frau mittleren Alters saß auf dem Sofa und trank Tee aus den guten Tassen. Neben ihr saß Joy und häufte sich Plätzchen und Shondesh auf den Teller. Ammu saß ihnen lächelnd gegenüber, die Hände im Schoß gefaltet.

Maya hatte das Gefühl, irgendwie zu stören, weswegen sie beim Hereinkommen an den Türrahmen klopfte.

»Oh!« sagte ihre Mutter. »Komm doch rein, Beta. Setz dich. Das ist Mrs. Bashir.«

Maya vermied es, in Joys Richtung zu sehen, sondern konzentrierte sich auf die Frau, die aufgestanden war und sie sehr fest umarmte. »Mein liebes Kind«, sagte sie, »ich freue mich, Sie kennenzulernen. Ihren Bruder kenne ich natürlich, aber wir haben uns scheinbar noch nie gesehen. Lassen Sie sich mal anschauen. Wie hübsch Sie sind, was für große Augen! Nicht so helle Haut wie Ihr Bruder, aber auf so etwas legen wir in unserer Familie keinen Wert.«

»Guten Tag«, sagte Maya und wich so weit vor ihr zurück, wie es nur ging.

»Berühr ihre Füße«, flüsterte ihre Mutter.

»Aber nein, solche Förmlichkeiten sind doch nicht notwendig«, entgegnete Mrs. Bashir und ließ Maya los. »Setzen Sie sich neben mich, Sie müssen ja müde sein. Joy hat mir gesagt, daß Sie Ärztin sind. Viel beschäftigt und sehr unabhängig«, sagte sie und wedelte mit den Armen.

Joy schlug die Beine übereinander, erst in die eine, dann in die andere Richtung. Maya versuchte, einen Blick mit ihm zu wechseln, aber er hatte den Kopf abgewandt. »Maya«, sagte Ammu mit einer Stimme wie warmer Milch, »warum erzählst du Mrs. Bashir nicht, was du heute gemacht hast? Trinken Sie noch eine Tasse Tee, Mrs. Bashir?«

»Ich muß mir die Hände waschen gehen«, sagte Maya. »Ich komme gerade aus dem Krankenhaus. Sie wollen sich ja keine Tuberkulose holen.«

Mrs. Bashir blinzelte überrascht und lächelte. »Ich bitte Sie, Beta, nur zu.«

Am Waschbecken bemerkte Maya, wie sie aussah. Ihre Augen waren klein und müde, und aus ihrem Zopf hingen die Strähnen heraus. Sie spritzte sich Wasser ins Gesicht und flocht ihr Haar neu.

Joy wartete vor dem Badezimmer auf sie. »Tuberkulose?«

»Na ja, es gibt eine Epidemie. Da wollte ich deine Mutter nur warnen.«

Im Wohnzimmer war Tee nachgeschenkt worden. Maya setzte sich so weit wie möglich von Mrs. Bashir weg und starrte an die Decke. Mrs. Bashir sah sich erwartungsvoll im Zimmer um. Ihr Blick fiel auf den Korb neben Mayas Stuhl.

»Stricken Sie, Maya?«

»Nein, nein, ich nicht.« Hatte Joy seiner Mutter denn gar nichts erzählt? »Ammu strickt.«

»Ach, ich habe gerade erst angefangen«, sagte Rehana. »Damit ich was zu tun habe. Ich habe mir gedacht, ich fange am besten mit einem Schal an.«

Mrs. Bashirs Stimme zitterte, als sie sagte: »Früher habe ich auch gestrickt. Für meinen Mann.«

Damit hatten die Damen ihr gemeinsames Thema gefunden. »Maya, warum setzt du dich nicht mit Joy in den Garten? Dann können wir Mütter ein bißchen plaudern.«

Draußen versuchte Joy, ihre Hand zu nehmen. Sie schüttelte ihn ab.

»Wollen wir irgendwohin fahren?«

»Nein, laß uns laufen. Wir müssen Kerzen kaufen; nachts fällt ständig der Strom aus.«

Sie gingen zur Küchentür hinaus. Sobald sie auf der anderen Straßenseite waren, stellte Maya Joy zur Rede. »Was soll das alles?«

»Ach, nichts.« Er klopfte seine Taschen nach Zigaretten ab. »Ich habe meiner Mutter gesagt, daß ich dich heiraten will, und sie meinte, dann würde es sich auch gehören, daß wir deiner Mutter einen Besuch abstatten. Sie hat darauf bestanden.«

Er wollte sie heiraten. Sie heiraten. Sie unterdrückte den kleinen Begeisterungsjubel, der ungebeten in ihr ausbrach. Die Ehe war eine Verurteilung zu lebenslänglicher Freiheitsstrafe. »Machst du alles, was deine Mutter will?«

»Nein.«

Warum hatte er ihr nichts davon gesagt? »Und hast du den Gedanken in Betracht gezogen, mich vielleicht vorher zu fragen?«

»Ja natürlich. Aber ich dachte mir, daß es besser wäre, wenn ich erst an das Herz von Tante Rehana appelliere.«

»Das ist wirklich armselig.«

Er seufzte laut. »Hör doch auf, es gibt keine Verschwörung.«

»Es ist armselig, und du versuchst nur, mir Schuldgefühle zu machen! Du weißt genau, wie gern sie möchte, daß ich heirate – und damit setzt du mich unter Druck. Sie wird sterben, wie du weißt.«

»Ich dachte, sie wäre geheilt.«

»Bei Krebs kann man nie von Heilung sprechen. Glaubst du nicht, daß ich etwas Schönes für sie tun will – Hochzeit, Kinder?«

»Ich dachte, du wolltest keine Kinder.«

»Darum geht’s doch gar nicht. Es geht darum, daß ich noch nie etwas für sie getan habe.« Würde sie für sich selbst oder für Ammu heiraten? Vielleicht würde sie es nie wissen.

»Na dann, um so mehr Grund, keine Zeit zu verlieren.«

»Es ist dir völlig egal, ob ich dich liebe, du willst nur meine Situation ausnutzen?« Sie waren jetzt am Park, wo die Straße eine Kurve beschrieb. Sie marschierte auf die Ansammlung kleiner Läden an der Biegung zu.

»Ich bitte dich, Maya. Ich weiß, daß du das nicht ernst meinst. Warum mußt du nur immer so reden?«

»Weil ich eine hartherzige Frau bin, deswegen. Du solltest noch nicht mal im Traum dran denken, mich zu heiraten.«

»Aber ich träume davon, ich kann nichts dagegen tun.«

»Tja, ich kann auch nichts gegen meine Gefühle tun. Du kannst mich nicht heiraten. Du kannst mich nicht heiraten und eine dieser Frauen aus mir machen, die mit kiloweise Schmuck behängt sind, perfekt runde Parathas backen können, alles machen, was die Schwiegermutter sagt, und nur noch nette Worte von sich geben.«

»Denk doch nur, wie viele nette Worte sich in dir angestaut haben müssen. Da du alle gemeinen schon aufgebraucht hast!«

»Sehr witzig.«

Er warf die Zigarette fort und stellte sich ihr in den Weg. Sie waren bereits am Laden, der von einer Sturmlaterne schwach erhellt wurde. Der Ladenbesitzer erkannte Maya und winkte. »Das ist kein Witz. Ich will dich heiraten.«

»Das geht nicht. Und jetzt verschwinde, ich muß Kerzen kaufen.« Sie ließ ihn stehen, trat an die Ladentheke und fragte nach Kerzen. Sie hörte, wie Joys Schritte sich entfernten, und ließ sich Zeit, kaufte auch noch Öl, Seife, Eier, schalt sich, daß sie lauschte, und hoffte, daß er zurückkommen und noch einmal um ihre Hand anhalten würde.

Als sie nach Hause kam, lehnte er an der Kühlerhaube seines Wagens.

»Fahr los«, sagte sie und ließ sich auf den Beifahrersitz fallen.

Langsam, fast lässig fuhr er rückwärts aus der Einfahrt. Sie drückte das Gesicht ans Fenster, und der Atem kam heiß und feurig aus ihrem Mund wie bei einem Drachen.

»Wohin fahren wir?« Eine Hand hatte er am Lenkrad, Ellbogen im offenen Fenster. Das Blut rauschte ihr in den Ohren.

»Mir egal. Fahr einfach.« Nicht weinen, ermahnte sie sich. Es wäre so dumm, wenn du jetzt weinst. »Du hättest mich ja wohl auch selbst fragen können!«

»Ich wollte als erstes deine Mutter auf meiner Seite haben.«

»Sie ist auf deiner Seite. Alle sind auf deiner Seite.«

»Es gibt keine Seiten.«

»Das hast du doch gerade selbst gesagt.«

»Keine Seiten.«

»Liebst du mich denn überhaupt?«

Er schaltete in den vierten Gang. Hand entspannt auf der Kupplung. Glatt wie Waldhonig.

»Du liebst mich also noch nicht mal?«

»Hast du was gegen die Ehe?«

Sie drehte sich ganz zu ihm hin. »Wie alt bin ich?«

»Keine Ahnung, sechsundzwanzig?«

»Ich bin verdammt noch mal zweiunddreißig. Meinst du, ich wäre verdammt noch mal zweiunddreißig und unverheiratet, wenn ich kein Problem mit der Ehe hätte?«

»Und ich hab gedacht, du hättest nur noch nicht den Richtigen gefunden.«

»So was gibt’s nicht.«

»Was, den richtigen Mann?«

»Am Anfang sind sie in Ordnung, aber irgendwann werden sie zerbrechlich wie Glas, und du mußt dein ganzes Leben damit zubringen, sie im Arm zu wiegen und zu trösten, damit sie sich gut fühlen, während dein eigenes Leben sich in einen Haufen Scheiße verwandelt.« Sie schlug mit der Faust auf das Armaturenbrett.

»Geht es um Shafaat?«

»Was – Shafaat? Ach, jetzt bist du also eifersüchtig. Genau das, was ich gemeint habe. Empfindlich wie eine Eierschale. Und jetzt hör auf zu grinsen, verdammt noch mal, das ist nicht lustig.«

»Sticht wie eine Biene«, sagte er leise und zärtlich.

Sie waren jetzt in der Nähe Paltans, und sie lehnte sich aus dem Fenster, um Paltan Maidan zu sehen, das riesige freie Feld, das sie so gut kannte. Als das Auto um die Kurve fuhr, sah sie ein hell erleuchtetes Zeichen. Sie hämmerte gegen die Scheibe. »Halt an – halt. Stopp.«

Erschreckt trat er auf die Bremse. »Was?«

Sie riß die Tür auf und sprang aus dem Auto. »Was ist das?« Es war dunkel und schwer zu erkennen, was hinter dem Eingangstor war, aber sie sah etwas, das wie ein Riesenrad aussah, und dahinter Kunststofftiere mit menschlichen Gesichtern. Es mußte ein Spielplatz sein, ein Rummelplatz für Kinder. SHISHU PARK stand auf dem Schild.

Maya schrie. »Shishu Park!« Sie rüttelte am Tor. »Wußtest du das?«

Sie sah, daß Joy ausstieg und auf sie zukam. Er mußte wissen, warum sie weinte und am Tor rüttelte. »Wer war das?« schluchzte sie. »Wer war das?«

»Ich weiß es nicht.« Er stand ein paar Schritte von ihr entfernt und rauchte eine Zigarette. Sie wollte sich da hinsetzen, direkt vor das Tor, bis jemand kam und ihr erklärte, warum Paltan Maidan in einen Rummelplatz verwandelt worden war. Sie fuhr mit den Händen über die Gitterstäbe. Als Joy zu Ende geraucht hatte, kam er und legte von hinten die Arme um sie. Dann führte er sie zum Auto und hielt ihr die Tür auf, bevor er selbst einstieg und den Motor wieder anließ. Als sie gewendet hatten, hatte sie sich das Gesicht schon wieder im Sari getrocknet.

»Es ist doch nichts als eine Wiese«, sagte sie, »nur ein freies Feld. Sie hätten alles mögliche damit machen können, sie hätten es auch einfach in Ruhe lassen können.« Sie stellte ihn sich vor, diesen Rummelplatz, ein Ort, der tagsüber mit Zeitungspapiertütchen von gerösteten Erdnüssen und kleinen Puffreisflocken, an denen das Senföl klebte, und mit den Bändern, die den kleinen Mädchen aus den Haaren wehten, wenn sie vom Autoskooter zum Riesenrad rannten und kreischten, ihre Eltern sollten ihre Hand halten, und mit Schnürsenkeln und Papierchen von Mimi-Schokolade und rosa Glukosekeksen übersät war. Ein Rummelplatz. Paltan Maidan, der heiligste Ort des ganzen Landes, der Ort, an dem Mujib seine Reden gehalten hatte, an dem die pakistanische Armee kapituliert hatte, der Ort, an den Mujib nach neun Monaten im Exil zurückgekehrt war und den Staat Bangladesch ausgerufen hatte, wo er sich mit einem Taschentuch die Tränen aus den Augen gewischt hatte, mit dem er dann den Menschen gewinkt hatte, den Tausenden und Abertausenden, als wollte er sagen: Ich bringe euch Frieden, ich bin euer Vater.

Es war der Ort, an dem sie, einen Augenblick lang, gewonnen hatten. Und jetzt wurde ihre Geschichte unter Erdnüssen und Zuckerwatte begraben und in den Boden getrampelt.

In einer schmalen Seitenstraße hielt Joy den Wagen wieder an. Er öffnete seinen Sicherheitsgurt und drehte sich zu ihr hin. Wenige Meter entfernt war ein Bidiverkauf am Straßenrand. Der Mann hinter dem Stand schlief, die Füße über Kreuz, den Arm über den Augen. Ihr kamen wieder die Tränen. Alle anderen gingen Tag für Tag an diesem Park vorbei, kauften sich Eintrittskarten, gingen hinein und amüsierten sich prächtig. Niemand außer ihr war zornig.

Joy zog ihr die Hände vom Gesicht weg. »Ist ja gut«, sagte er. »Als ich es das erste Mal gesehen habe, habe ich auch geheult.« Er lehnte sich zu ihr vor. Er duftete nach Zitronen. Sie spürte, wie ihre Sinne zum Leben erwachten. Sie legte eine Hand in seinen Nacken und zog ihn an sich. Lippen öffneten sich. Er sagte etwas, aber sie konnte nichts hören. Sie zog ihn näher – ihr Mund berührte seinen Hals. Glatt, mit einem Anflug kratziger Stoppeln. Rauhglatt. Zitronenrasierwasser. Sie atmete aus. Jetzt hörte sie ihn auch, seine Lippen an ihrem Ohr.

»Ich will dir etwas über Liebe erzählen«, sagte er. »Sie haben mir den Finger mit einem Schlachtermesser abgehackt, wußtest du das? Ich weiß nicht, wo sie das herhatten, so ein großes, schweres Messer. Aber weißt du, was ich gedacht habe, als sie mir das angetan haben? Ich habe gedacht, daß du von allen Menschen, die ich kannte, die einzige wärst, der das nichts ausmachen würde. Und als ich nach Hause kam und meine Mutter im weißen Sari gesehen habe, da wußte ich, daß du auch das verstehen würdest, weil dein Vater schon so lange tot ist. Ich habe dich immer geliebt«, sagte er. »Immer.« Er löste sich von ihr und sah sie sehr ernst an, die Hände auf ihren Schultern.

»Versprich’s mir«, flüsterte Maya.

»Alles, was du willst.«

»Daß du mich nicht zwingen wirst zu vergessen. Wer wir sind.«

»Ich verspreche es.«

Er machte eine Faust um ihre beiden Hände. Danke. Er hob sie an seine Stirn. Danke.

*

Maya spürte, wie jemand an ihr rüttelte. »Apa, Apa.« Eine Frau stand am Fußende des Betts und schwenkte ihre in Handschuhen steckenden Arme durch die Luft wie eine Pantomimin.

»Wer sind Sie?«

»Ich bin Rokeyas Schwester. Verzeihen Sie, daß ich Sie mitten in der Nacht aufwecke, aber Rokeya hat gesagt, ich soll Sie holen. Sie hat fürchterliche Schmerzen.«

»Gehen Sie vor, ich komme gleich nach oben.«

»Nein, sie ist nicht oben, sondern bei uns zu Hause. Beeilen Sie sich, die Rikscha wartet.«

Maya zog einen zerknitterten Salwar Kamiz über, fuhr schnell mit den Füßen in Chappals und rannte zur Hintertür hinaus, an Sufia vorbei, die jetzt neben dem Küchenherd schlief, seit die Nächte kälter wurden.

In der Rikscha sah Maya sich Rokeyas Schwester genauer an. »Haben wir uns schon einmal gesehen? Sind Sie oben bei der Jamaat dabei?« Sie fuhren in Richtung Nordseite der Stadt; der Rikschawallah strampelte mit einer Bidi im Mundwinkel schnell durch die leeren Straßen.

»Einmal war ich da, aber ich wollte nicht bleiben. Khadija war wütend darüber, daß Rokeya nicht unsere ganze Familie mitgebracht hat.«

Die junge Frau war von Kopf bis Fuß verschleiert; nur durch ein winziges Stückchen Chiffon konnte sie wie durch eine schmutzige Glasscheibe hinaus in die Welt blicken. Sie hob den Schleier hoch und zeigte ihr Gesicht. Es leuchtete blaß und perfekt in der Dunkelheit. »Khadija oder wie sie heißt – sie ist eine herzlose Frau.«

»Ihre Predigten sagen Ihnen nicht zu?« Maya dachte an die andächtigen Gesichter der anderen Mädchen und wie sie Khadija mit offenen Mündern atemlos umschwirrten.

»Immerhin ist sie von allem überzeugt, was sie sagt. Das ist wenigstens etwas. Aber ich kann nicht wie ein Esel hinter jemandem herrennen.«

»Und warum sind Sie dann so gekleidet?«

»Wie hätte ich Sie denn sonst mitten in der Nacht holen sollen?«

Maya ließ sich das durch den Kopf gehen. Eine junge Frau wie sie hätte sich ohne den Schutz der Verschleierung wahrscheinlich nie hinaus auf die Straße getraut. Die praktische Antwort beeindruckte sie. Sie drückte dem Mädchen die Hand. »Wann haben die Wehen eingesetzt?«

»Vor mehreren Stunden. Sie wollte nicht ins Krankenhaus. Als sie zu uns zurückgekehrt ist, war sie halb verhungert, wir dachten, sie würde nicht durchkommen.«

»Warum das denn?«

»Sie will es uns nicht sagen. Sie wurde für irgend etwas bestraft.«

Jetzt fiel Maya wieder ein, wie sie Rokeya zweimal draußen in der prallen Sonne hatte knien sehen. Warum hatte Maya nichts unternommen? Sie war einfach davon ausgegangen, Rokeya würde das aus eigenem Antrieb tun, und hatte es den bizarren Ritualen von oben zugeschrieben. Jetzt überkamen sie Schuldgefühle. »Das tut mir leid, das habe ich nicht geahnt.«

»Wir steigen hier aus«, sagte das Mädchen zum Rikschafahrer. »Den Rest des Weges müssen wir laufen.« Sie hatte eine Taschenlampe dabei, und sie bewegten sich vorsichtig durch die immer schmaler werdende Gasse voran, bis sie schließlich zu einem kleinen Haus kamen, an dessen Haustür nur ein Vorhang hing. Es gab ein vorderes Zimmer und ein hinteres Zimmer und dahinter wahrscheinlich eine Küche, die mit den Nachbarn geteilt wurde.

Rokeyas Vater erblickte Maya und senkte höflich den Blick. »Subhan allah«, sagte er mit belegter Stimme, »bitte kommen Sie, sie wartet.«

Rokeya atmete stockend. Als sie Maya sah, kniff sie erleichtert die Augen zu und sagte: »Ich wußte, daß du kommen würdest.«

Maya wusch sich die Hände in einer Waschschüssel und tastete Rokeya den Bauch ab. Dann sagte sie der jungen Frau, wie sie atmen sollte, während sie die Untersuchung durchführte. Rokeya zuckte zusammen, als Maya den Arm in sie steckte und den Muttermund ausmaß. »Jetzt mußt du dich entspannen«, sagte sie und verfiel schnell in den besänftigenden Tonfall, den sie nur bei Gebärenden verwendete. Mit leichten Fingern fühlte sie nach der weichen Wölbung des Köpfchens. Statt dessen spürte sie das Hinterteil des Babys. Beckenendlage. Sie hätte ins Krankenhaus gebracht werden müssen, aber jetzt war es zu spät und die Geburt schon zu weit fortgeschritten. Maya hatte schon Steißgeburten durchgeführt, aber sie waren immer riskant, und die Niederkunft dauerte. Und wo war Rokeyas Mann? Nirgendwo zu sehen. Man fragte besser nicht, nicht jetzt. »Hör mir gut zu, Rokeya. Mach die Augen auf.«

Rokeyas Augenlider gingen flatternd auf.

»Dein Kind liegt verkehrt herum. Hörst du mich? Nicke, wenn du mich verstanden hast. Es ist jetzt zu spät, um etwas zu unternehmen, du mußt gebären. Keine Angst, das geht alles. Es wird länger dauern, und es wird weh tun.« Der Po des Babys würde als erstes herauskommen, dann die Beine. Sie konnte keine Hilfestellung leisten; wenn sie das Ungeborene berührte, konnte es sein, daß es die Ärmchen ausstreckte und im Geburtskanal steckenblieb.

Rokeya nickte und kniff die Augen wieder fest zu.

Als die Preßwehen anfingen, zog Maya sie in eine hockende Haltung. »Wenn die nächste Wehe kommt, dann preßt du, ja? Preß, so stark du kannst.«

Bei jeder Wehe senkte Rokeya den Kopf und ächzte. Leise, leiser, als Maya je eine Frau stöhnen gehört hatte. Maya flüsterte einen Strom ermutigender Worte, aber das Mädchen schien nicht hinzuhören, atmete nur laut aus den Nasenlöchern aus und ballte die Hände zu harten, weißen Fäusten.

Ihre Schwester kam und ging, kochte Wasser für Rokeya ab, hielt ihr den Kopf. Die Wehen kamen jetzt in kürzeren Abständen, doch ohne Hilfe von außen konnte sich das Baby jedesmal nur wenige Millimeter nach unten bewegen. Eine Stunde verging. Und noch eine. Rokeya fiel auf den Rücken. »Ich schaff’s nicht«, sagte sie. »Ich kann nicht mehr.«

Maya spähte zwischen Rokeyas Beine. »Aber jetzt dauert es nicht mehr lange, nur noch ein paar Minuten. Es ist schon fast da.«

Rokeya schüttelte den Kopf. »Kann nicht mehr«, flüsterte sie.

»Du mußt. Es geht nicht anders.« Maya versuchte, sie wieder hoch in die Hocke zu ziehen, aber sie fiel zurück auf die Matratze und schüttelte den Kopf. Jetzt schrie Rokeya, als das Baby auf sie drückte, ein tiefer, schwarzer Schmerzensschrei. »Streng dich an«, sagte Maya, »das Baby will herauskommen, du spürst es doch selbst, ich weiß, daß du es schaffst.«

Rokeya war zu erschöpft, um sich zu rühren. Maya trat hinter sie, schob sie hoch in eine sitzende Haltung, ging in die Hocke und hielt sie unter den Armen fest. Mit dem Mund war sie ganz nah am Ohr der Frau. »Weißt du was? Es ist ein Mädchen. Ich habe es bei der Untersuchung ertastet. Das ist dein kleines Mädchen. Weißt du, wie schwer es ist, ein kleines Mädchen auf dieser Welt zu sein? Willst du ihr nicht zeigen, daß du sie liebst, jetzt schon, bevor sie auf der Welt ist? Sag’s ihr. Sag’s ihr jetzt. Wir pressen gemeinsam.« Maya packte Rokeya ganz fest, während sie preßte, und ihre Kraft schien zurückzukehren, als das Baby sich senkte. Maya sah die Beine des Säuglings. Mit der nächsten Preßwehe wurden auch Rumpf und Schultern sichtbar. Jetzt waren die Arme frei, und Maya konnte vorsichtig ziehen und den Babyhals stützen. »Eine noch«, sagte sie, aber Rokeya hatte die Situation jetzt völlig unter Kontrolle, ihr Körper diktierte jeden Atemzug. Das Kinn des Babys kam zum Vorschein, die Nase, die mit gelbem und grünem Schleim bedeckten Augen, Überbleibsel einer bereits vergangenen Welt. Maya hob das kleine Mädchen hoch, deren Arme und Beine kraftlos zur Seite fielen, massierte die winzige Brust und wartete auf den Schrei, und dann kam er, hoch und kräftig und majestätisch. Bevor Maya das Neugeborene der Mutter in den Arm legte, flüsterte sie, genau wie bei allen anderen Geburten: Hallo, du kleiner Lurch. Irgend jemand mußte die Fremdheit dieser Seele anerkennen und die Strecke, die sie zurückgelegt hatte, die Millionen und Abermillionen Jahre, um hier anzukommen.

Sie hatte die Geburt von so vielen dieser Wesen miterlebt, hatte ihre Händchen gehalten, wenn sie das unterirdische Meer verließen und ans Ufer kamen, aber den Gedanken, daß dieses Geschenk des Lebens irgendwann einmal ihr selbst gehören könnte, hatte sie sich nie erlaubt. In der kurzen Ruhepause, die folgte, gestattete Maya sich diese kurze Phantasievorstellung. Etwas Eigenes. Sie dachte an Joy, das Kind, das sie mit ihm zusammen haben könnte, ein wundersames kleines Wesen, das ihr gehören würde, ihr allein.

Das warm in eine Katha verpackte Neugeborene wurde der Familie überreicht, während Maya Rokeya versorgte. Sie hielt eine Nadel vor die Flamme der Petroleumlampe und fädelte einen Faden ein. »Jetzt tut es noch mal weh«, sagte sie. »Es tut mir schrecklich leid.«

Rokeya biß sich auf die Lippen. »Ich muß dir etwas sagen«, keuchte sie, die Finger um die Matratze gekrallt.

»Jetzt?«

»Ja«, antwortete sie, »ich muß es dir jetzt sagen. Es geht um den Jungen.«

Maya wollte gerade einen weiteren Stich machen, erstarrte aber. »Zaid?«

»Wußtest du, daß er aus der Madrasa weggelaufen ist?«

Maya konzentrierte sich auf die Nadel, hinunter, wieder hinauf, das Verschließen der Wunde. »Er ist weggerannt?«

»Als deine Mutter im Krankenhaus war.«

Er hatte gelogen. Wie albern von ihr, daß sie es nicht gleich gewußt hatte. »Hast du mit ihm gesprochen?« fragte sie.

»Nur ein paar Minuten, dann hat Schwester Khadija ihn gefunden. Ich habe ihn gefragt, warum er weggerannt ist. Er hat gesagt, der Huzur würde ihn immer zwingen, sich hinzulegen. Was meint er damit, Maya Apa? Ich denke die ganze Zeit darüber nach, und im Grunde kann es nur eins heißen.«

Maya hatte auf einmal das Gefühl, als hätte Rokeya alle Luft im Zimmer weggeatmet. »Du bist dir sicher, daß er das gesagt hat?«

»Ich weiß, daß der Junge oft lügt. Aber das habe ich ihm geglaubt.«

Im Grunde kann es nur eins heißen. Maya mußte das letzte bißchen ihrer Willenskraft aufbringen, um Rokeyas Dammriß fertig zu nähen und ihr Anleitungen zur Versorgung der Wunde zu geben. Dann schlüpfte sie schnell aus dem Zimmer, entschuldigte sich bei der Familie und sprang in die erste Rikscha, die sie finden konnte. Der Morgen dämmerte am Horizont, während der Himmel noch schwarz und voller Sterne war.