25

»Das war mein Bett«, sage ich und zeige auf das Bett wie eine Fremdenführerin auf ein historisch wertvolles Gebäude. Das war mein Schrank, hier mein Schreibtisch. Eine Kindheitskulisse, magisch aufgeladen durch tausendfach wiederholte Tätigkeiten. Hier habe ich gemalt, hier habe ich Mädchen gelesen, da hing ein Poster von James Dean, dieses Bild, auf dem er den Gekreuzigten nachstellt, die Zigarette im Mundwinkel.

Das ist mein Zimmer, Pawel, eine rechteckige Schachtel mit zwei Öffnungen, durch die eine fließt das Mondlicht herein, durch die andere das müde Licht des fünfarmigen Lüsters, der immer nur mit drei Glühbirnen bestückt ist. In diesem Haus schöpft nichts und niemand sein Potential aus.

Auf den Lüster hatte sich meine Mutter etwas eingebildet. Meine Mutter sagt niemals »Flur«, sie sagt »Entrée«, und dieses Entrée habe zu wirken wie die Feststiege der Wiener Staatsoper, mindestens. Das Entrée, sagt meine Mutter, sei das erste, was ein Gast sehe, das letzte sei es auch. Und da die ersten und letzten Eindrücke die stärksten seien, müsse das Entrée Eindruck schinden, mehr als jeder andere Raum in diesem Haus. Mein Vater ist anderer Meinung, und da er seine Großzügigkeit ausschließlich beim Monopoly ausspielt, rationiert er die Glühbirnen – mit dem Ergebnis, dass der Lüster nur noch einen Teil des Charmes versprüht, mit dem er seinerzeit im Lampengeschäft meine Mutter verführt hatte.

Als wir in der Beethovenstraße ankamen, war niemand zu Hause, und das war mir nur recht. Der Schlüssel lag wie früher unter der Fußmatte. Ich sagte zu Pawel, dass er vor der Tür warten könne, weil wir ohnehin gleich wieder fahren würden. Er blieb mir auf den Fersen. »Wenn ich draußen warte«, sagte er, »kann ich dich nicht kennenlernen.«

Mein Kinderzimmer ist beinahe zu klein für zwei Erwachsene, die aufrecht und nicht allzu nah beieinander stehen.

»Leg dich ins Bett«, sage ich. »Dann lernst du mich kennen.«

Es ist ein schmales Mädchenbett mit verschnörkelten Eisenteilen an Fuß- und Kopfende. Pawel schlüpft aus seinen Sneakers und legt sich vorsichtig auf die Tagesdecke, den Blick starr an die Decke gerichtet.

»Und jetzt?«

»Was siehst du?«

»Nichts?«

»Dreh den Kopf ein wenig zur Seite«, sage ich.

»Okay«, sagt er. »Setzt du dich zu mir?«

»Stell dir vor, es ist Abend und die Tür einen Spalt geöffnet«, sage ich. »Ich war fest davon überzeugt, dass meine Eltern ungeheuerliche Dinge sagten und machten, nachdem ich schlafen gegangen war.«

»Setz dich zu mir«, wiederholt Pawel.

Also setze ich mich neben ihn auf das Bett und erzähle. »Wenn ich nicht schlafen konnte, hockte ich mich zur Tür und lauschte ihren Gesprächen. Einmal hörte ich die Stimme einer fremden Frau. Sie war außer Atem und japste. Sie sprach über ihren Mann. Er war Arzt und jahrzehntelang morphiumsüchtig gewesen, nun hatte er sich in der Toilette eingeschlossen und sich mit seinem Jagdgewehr in den Kopf geschossen. Er wählte die Toilette aus Rücksicht auf seine Frau, schließlich ließen sich Kacheln besser reinigen als Stäbchenparkett, sagte die Frau und meine Mutter sagte, da habe Sie recht, aber sie hoffe für die Ehefrau, dass es sich um helle Fliesen gehandelt habe und nicht um dunkle, denn Blut sei auf dunklen Fliesen schlecht zu entfernen, da entstünden unschöne Schlieren. Sie redeten über Fliesen. Ich hörte, wie mein Vater die Kredenz öffnete, die Tür klemmte etwas und ächzte. Er öffnet sie nur selten, denn dort hortet er den teuren Alkohol für wichtige Gäste oder große Anlässe. Am nächsten Tag fragte ich sie, was das sei, Morphium. Sie beteuerten, das Wort nicht in den Mund genommen zu haben, außerdem wären sie den ganzen Abend alleine gewesen, ich hätte wohl schon geträumt. Ich traute mich in der Nacht nicht mehr aufs Klo, sah immer das Blut auf den Fliesen. Ich habe es in meiner Vorstellung gesehen, und das genügte.«

»Komm her«, sagt Pawel und angelt mit der Hand nach meinem Bein, aber ich entziehe mich, er ist mir fremd, dieser Mann auf meinem Jugendbett, wie ausgeschnitten aus einer anderen Kulisse und hierher verpflanzt. Raoul war oft hier, an seinen Anblick in meinem Bett hatte ich mich gewöhnt.

Ich öffne den Kleiderschrank und erstarre. Ich erwartete, meine Kleider vorzufinden, Herr Walter fragte nach der Erlaubnis, ausräumen zu dürfen, es war nie die Rede davon, dass er bereits alle meine Sachen verschwinden ließ. Offenbar konnte es ihm nicht schnell genug gehen mit seinem Einzug, denn da ist nichts mehr, was mir gehört. Herrn Walters Anzüge hängen sorgfältig und nach Farbe geordnet im Schrank, beige, aschgrau, schwarz. In den Regalen seine Hemden, seine Unterhemden, seine Socken, allesamt schwarz. Rasch öffne ich die Laden der Kommode, um mich zu vergewissern, ob er sich auch dort breitgemacht hat. Und tatsächlich: Unterhemden, Boxershorts, in jeder Lade wohnt bereits Herr Walter.

Ich setze mich auf mein Bett, erschöpft, und Pawel schlingt seinen Körper um mich. Ich rücke sofort ab.

»Was hast du?«

»Das ist nicht mehr mein Zimmer«, sage ich traurig. Ein lächerlicher Satz aus dem Mund einer Frau, die selbst längst ein Kind haben sollte, und als mir das bewusst wird, sinke ich noch ein wenig tiefer in die alte Matratze. Ich kann mir Herrn Walter nicht vorstellen, wie er daliegt in meinem Mädchenbett. Ob er ein langes Nachthemd trägt? Oder einen gestreiften Pyjama? Vielleicht ist er sogar nackt?

»Ist dir nicht gut?«, fragt Pawel besorgt.

»Kein Tiger hier drin«, sage ich und zeige auf meine Brust. »Und selbst wenn, weiß ich nicht, womit ich ihn füttern soll.«

Pawel nickt und sagt: »Das haben wir gleich. Die Patientin darf es sich bequem machen und entspannen.«

Noch bevor ich protestieren kann, ist er aus dem Zimmer gelaufen, und ich lehne mich zurück und schließe die Augen. Schon steht er wieder im Zimmer, und ich frage mich, wo er in dieser Geschwindigkeit all die Utensilien gefunden hat, die er auf dem Bett ausbreitet: ein Wollknäuel, eine leere Mineralwasserflasche, Stricknadeln, Heftpflaster.

Ich möchte ihn fragen, was er vorhat, aber er hantiert bereits zielgerichtet mit Wolle und Flasche und sagt auf einmal: »Gib mir deinen Arm«, und ich halte ihm meinen Arm hin wie eine folgsame Patientin. Pawel klebt eine dunkelrote Stricknadel mit Pflastern an der Innenseite meines Arms fest, die Nadelspitze rastet an der blauen Ader. Anschließend befestigt er ein Ende des Wollfadens an der Stricknadel und das andere Ende am Hals der Mineralwasserflasche. Ich sehe ihm bei dieser Verrichtung zu, er wirkt ernst und konzentriert, so als ob er tatsächlich ein medizinisches Ritual vornähme. Dann dreht er die Flasche um, hält sie an ihrem Bauch hoch in die Luft und sagt: »Die Infusion ist serviert, Madame«, und als ich lache, weist er mich zurecht: »Das ist nicht zum Lachen, du wolltest deinen Tiger füttern, also füttern wir ihn.«

»Und was ist in der Infusion drin?«

»Was du willst.«

Ich will sagen: Ich hätte gern ein Kind, aber dann sagt er bestimmt, dass man dafür andere Maßnahmen ergreifen müsse, für die ich gleich im Bett liegenbleiben könne, auch dafür hätte er die erforderlichen Therapiegeräte vorrätig. Vielleicht ist auch mein Kinderwunsch nur Einbildung, so wie der Beziehungswunsch Projektion ist. In Wahrheit wünsche ich mir, ewig unter den Fittichen der Gesellschaft für W. ruhen zu können und ein Sekundärleben zu führen, ganz ohne gröbere emotionale Ausschläge. Keine Fieberkurve, sondern eine Nulllinie wünscht sich der Tiger, der nicht über Krallen verfügt, sondern über abgebissene Nägel, weil er ohnehin nicht auf die Jagd geht. Ins Unterholz möchte er sich zurückziehen, unbeachtet vom Rudel, das ist der Ort, wo es sich gut leben und bestimmt auch gut sterben lässt.

Ich sehe sie zuerst. Sie tupft an die Tür, die sofort nachgibt, und dann stehen sie im Rahmen, unbewegt wie in einem Stillleben: Meine Mutter, flankiert von Herrn Walter auf der einen und meinem Vater auf der anderen Seite. Das Trio ist nach Hause zurückgekehrt.

»Was ist denn da los«, flüstert meine Mutter. »Ruth, bist du krank?«

Ihr Blick springt von mir zu Pawel, der immer noch die Mineralwasserflasche hochhält, so als müsse er garantieren, dass tatsächlich Flüssigkeit in meine Vene gelangt.

»Das ist nicht das, wonach es ausschaut«, sage ich, während ich mich aufsetze und die Pflaster mitsamt der Stricknadel vom Arm reiße. »Seht ihr? Ein Spiel.«

Es befremdet mich, dass dieses »ihr«, das bisher immer nur zwei Menschen umfasste, nämlich Mama und Papa, plötzlich eine dritte Person miteinschließt. Herr Walter hat sich bereits angepasst, er trägt Jeans wie mein Vater und ein gelbes Poloshirt.

»Aha«, sagt meine Mutter. Die Männer bleiben stumm.

»Das ist Pawel«, sage ich. »Pawel ist Krankenpfleger.«

»Na, da schau her«, sagt meine Mutter. Medizinische Berufe sind in der Familie stets willkommen.

»Ihr bleibt zum Essen«, sagt sie. Keine Frage, eine Feststellung. Dann verschwindet sie mit ihrer Entourage.

»Familie«, sage ich und zucke mit den Schultern.

»Schön«, sagt Pawel, »wenn man so etwas hat.«

Ich betrachte sein Gesicht, das Zeichen von Entbehrung zeigt, und sage: »Du kannst deine Eltern doch auch besuchen, in Sizilien«, und gleichzeitig zweifle ich an der Version der Geschichte, wer weiß, ob er mir die Wahrheit erzählt hat.

»Ich weiß nicht, ob sie mich sehen wollen«, sagt Pawel.

»Eltern wollen ihre Kinder immer sehen«, sage ich.

»Und deine Eltern? Wollen sie dich immer sehen?«

»Ich denke schon«, sage ich. »Zumindest habe ich mir darüber noch nicht den Kopf zerbrochen.«

»Sehr froh sahen sie nicht aus«, sagt Pawel.

»Bei uns freut man sich innerlich«, sage ich.

Pawel wickelt die Wolle auf und steckt die unbenutzten Pflaster zurück in die Schachtel.

»Und wie geht es dem Tiger?«, fragt er. »Trotz abgebrochener Behandlung auf dem Weg der Besserung?«

»Es gibt keinen Tiger«, sage ich.

Als ich in die Küche komme, spült meine Mutter eine große Pfanne. Mein Vater steht daneben, ein Geschirrtuch in der Hand. Ein schlechtes Schauspiel mit miserablen Darstellern.

»Ich bin gekommen, um meine Sachen zu holen«, sage ich.

»Deine Sachen?« Meine Mutter sieht mich an, als wüsste sie nicht, wovon ich spreche. Mein Vater poliert angestrengt ein Messer mit dem Geschirrtuch, dabei glänzt es ohnehin schon wie ein Skalpell.

»Meine Kleider«, sage ich. »Wo sind sie?«

»Deine Kleider?«

»Die Kleider aus meinem Schrank! Spreche ich undeutlich?«

Da tritt Herr Walter aus den Tiefen der Küche, wie kommt es, dass ich ihn vorher nicht gesehen habe?

»Wir sind davon ausgegangen, dass Sie die Kleider nicht mehr benötigen«, sagt Herr Walter. So ist das also. Er ist bereits zu ihrem Sprachrohr geworden.

»Wie kommen Sie darauf?«, fauche ich ihn an.

»Ruth, beruhige dich«, sagt meine Mutter.

»Rege ich mich auf? Ich rege mich nicht auf! Ich will nur wissen, wo meine Kleider geblieben sind!«

Herr Walter legt mir eine Hand auf die Schulter. Sofort knicke ich ein unter dieser Last. »Wir haben sie zur Caritas gebracht«, sagt er mit salbungsvoller Stimme. »Es gab eine Kleidersammlung. Für Rumänien.«

»Für Rumänien«, sage ich. »Gut zu wissen.«

Als Pawel die Küche betritt, zupfe ich ihn am Hemd.

»Komm, wir gehen«, sage ich.

»Kommt nicht in Frage, ihr bleibt«, sagt meine Mutter. »Ruth, bitte decke den Tisch.«

»Ich helfe Ihnen«, sagt Pawel und nimmt von meiner Mutter die Feiertags-Suppenteller entgegen, die mit dem grünen Blümchenmuster.

»Sie haben schöne Hände«, sagt Pawel.

Sie kichert wie ein Teenager.

»Charmant, dein Freund«, sagt sie.

Mein Vater poliert immer noch das Messer, ganz versunken ist er in seine Tätigkeit. Herr Walter faltet indessen die Stoffservietten. Er weicht meinen Blicken aus.

»Ich habe einen Job«, sage ich in die Stille hinein und wundere mich, wie heiser meine Stimme klingt.

»Ich werde arbeiten«, sage ich noch einmal, und bevor jemand eine Frage stellen kann: »Ich mache mich selbständig.« Mit einer Selbstverständlichkeit, als hätte ich monatelang auf diesen Moment hingearbeitet.

»Schön, Ruth«, sagt meine Mutter.

Das war’s. Keiner fragt, was ich zu tun gedenke. Ich könnte genauso gut sagen: Ich ziehe mit einem Elchzüchter in die Walachei. Ihr Interesse an mir ist mit den Jahren erschlafft. Pawel ist der einzige, der mich ansieht. »Du bist wunderbar, Ruth«, sagt er. Und richtet das Besteck aus, alles schön gerade und im rechten Winkel.

Auf einmal steht Raoul in der Tür. Wie auf Kommando drehen sich alle nach ihm um. Raoul plustert den Brustkorb auf wie ein Pavian auf Brautschau.

»Das ist aber schön, dass du auch kommst«, sagt meine Mutter. Sie scheint kein bisschen überrascht. »Pawel, bitte einen weiteren Teller für den Freund des Hauses.« Betonung auf Freund.

»Würdest du bitte einen Moment hinauskommen«, sagt Raoul. Er meint mich. Seine Stimme zittert. Was ist das? Eine Aufforderung zum Duell?

Kaum auf dem Flur, hagelt es Vorwürfe.

»Judith hat angerufen. Sie hat sich Sorgen gemacht, dass du – dass du dir etwas antust«, zischt er. »Du hättest gedroht, dich von einem Hochhaus zu stürzen. Kannst du dir vorstellen, wie groß meine Angst war? Kannst du dir das vorstellen?« Er wird laut. »Denkst du eigentlich auch einmal an andere?«

»Nein«, sage ich. »Dreimal nein.«

»Was ist denn hier los«, höre ich meine Mutter sagen. Ihre Entourage ist ihr dicht auf den Fersen, zwei in die Jahre gekommene Bodyguards, die hinter ihr Aufstellung nehmen.

»Der Grüne ist in Ordnung?«, fragt Pawel und hält einen Teller mit Blümchenmuster hoch. »Blaue sind keine mehr da.«

Und plötzlich stehen wir alle im Flur: meine Eltern und Herr Walter. Raoul. Pawel. Und ich. Unter dem traurigen Lüster, zwischen Neopren-Jacken und Schuhregal.

»Grün ist in Ordnung«, sagt meine Mutter, und zu Raoul gewandt: »Du kannst die Katzen-Hausschuhe anziehen.«

Ich sehe sie an, nach der Reihe. Behalte sie gut im Gedächtnis, denke ich.

Ich höre den Wasserhahn in der Küche tropfen, irgendein Magen grummelt.

Das ist mein Auftritt. Ohne ein weiteres Wort öffne ich die Tür und gehe hinaus. Im Film ist es so, dass einem immer wer folgt. Mir aber folgt niemand. Ich bin erleichtert und gleichzeitig ein wenig enttäuscht.

Der Garten macht einen erschöpften Eindruck, nur Salat und Kräuterspirale halten noch die Stellung. Und die Nachbarin.

»Ja, die junge Amsel«, frohlockt Frau Obernosterer. »Auch wieder einmal zu Besuch in der Heimat.« Sie wischt ihre Hände an der Schürze ab und hält ihre schwielige Hand über den Zaun.

»Grüß Gott«, sage ich.

»Die Frau Mamá hat viel Besuch in letzter Zeit«, sagt sie.

»Der Herr mit den dunklen Haaren kommt jeden Tag!«

»Ich verrate Ihnen ein Geheimnis«, sage ich und winke sie heran. Ihr Ohr ist riesengroß und gefältelt wie das Alterswerk eines Origami-Künstlers.

»Der Herr ist Direktor der Weltbank«, flüstere ich ihr ins Ohr.

»Nein«, ruft sie aus und bedeckt den Mund mit ihrer Hand.

»Doch«, sage ich. »Sie wissen schon: Dort wird das Geld der ganzen Welt gedruckt. Der ganzen Welt.«

Ich greife in die Hosentasche und drücke ihr das NUBA-Staubtuch in die Hand.

»Für Sie«, sage ich. »Aus der Weltraumforschung. Damit wird die Weltbank geputzt.«

»Das wäre aber nicht notwendig gewesen«, sagt Frau Obernosterer und greift erstaunlich flink nach dem Tuch.

»Haben Sie eine Ahnung«, sage ich.

Als ich das Tuch losgeworden bin, fühle ich mich unendlich müde. Ich habe Lust, mich auf dem Rasen auszustrecken, zwischen Rosen und Salatbeet, und in den Himmel zu schauen. Wolkenfernsehen. Stattdessen setze ich mich auf die Steinstufen, die zum Haus führen, und lege meine Stirn auf die Knie.

»Bald ist der Herbst da«, sagt mein Vater.

Ich habe ihn nicht kommen hören. Er wird immer leiser, dezenter, transparenter.

»Ganz schön kühl«, sage ich und richte mich auf.

Wir wechseln einen schnellen Blick.

»Letzte Woche habe ich die erste Fuhre Brennholz bestellt.« Er steht in Bärenhausschuhen auf dem Treppenabsatz, die Hände in den Taschen, und schaut hinüber zu den Rapsfeldern, die Unterbruchstetten von Siegendorf trennen.

»Erntezeit«, sagt er.

Und du?, will ich ihn fragen. Wann erntest du?

Noch bevor ich ein Wort sagen kann, zieht er die Voodoo-Puppe aus der Hosentasche. »Die lag am Boden. Gehört sie dir?«

Mit der Puppe ist was passiert. Ihre weiße Textilhaut ist übersät mit roten Pickeln.

»Ich denke schon«, sage ich und greife nach der Puppe.

Jetzt sehe ich es: Das sind keine Pickel. Jemand hat sämtliche Herz-Pins auf ihren weißen Brustkorb gepinnt. Hundertfache Herztransplantation.

»Kommst du rein?«, fragt mein Vater. »Es gibt Lasagne.«

»Ich bleib noch ein bisschen«, sage ich. »Durchatmen.«

Er nickt und schließt die Tür, ganz behutsam.

Die Puppe ist hosentaschenwarm. Ich presse ihren kahlen Stoffkopf gegen meine Wange. Und dann muss ich plötzlich lachen, einfach so.