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Manchmal, wenn ich traurig bin und nicht weiß, warum, gehe ich auch ohne Termin in die Gesellschaft für W. und setze mich in den Gang der Langzeitarbeitslosen, im Volksmund Gangway to hell genannt. Der Flur der Wartenden ist mein Fluchtpunkt, hier raste ich, hier spürt mich keiner auf. Ein Ort, an dem die Zeit so langsam vergeht, dass es absurd wäre, eine Uhr aufzuhängen.

Die meisten Langzeitarbeitslosen lungern herum, selten wird einer aufgerufen. Einige bewegen sich kaum noch, sie atmen ganz flach. Bei manchen bin ich mir nicht sicher, ob sie überhaupt noch atmen.

Ich betrachte die Langzeitarbeitslosen gerne und ausführlich. Ihre Augen sind unbewohnte Kammern, für die man kein Einrichtungsgeld beantragen kann. Ihre Haut ist wurmstichig, sie leiden wahlweise an Jugendakne oder Altersakne. Es ist ein Merkmal der Langzeitarbeitslosen, dass ihre Haut aktiver ist als sie selbst.

Ich ziehe mein Notizbuch aus der Hosentasche.

Charly heute auffällig blass. Verschleppte Grippe?

Der Lange mit Glatze hat ein Kind mitgebracht, Tochter oder Enkelin. Hält andauernd ihre Hand. Vielleicht doch seine Freundin.

Viktors Jeans werden immer enger. ZZ-Top-Shirt, das die letzte Mahlzeit dokumentiert. Irgendwas mit Ei.

Frau Hiltrud, Sekretärin in der Gesellschaft, bemüht sich, den Gang der Langzeitarbeitslosen ansprechend zu gestalten. Sie sieht aus wie eine freundliche Version von Margaret Thatcher und lebt ganz für die Gangway. In Frau Hiltruds Gegenwart fühle ich mich aufgehoben und beschützt, eine Leihomi mit der Extraportion Menschenwärme. Im Gegensatz zu Herrn Othmar betrachtet sie ihre arbeitslosen Schäfchen als erweiterte Familie. Wenn einer plötzlich fort ist, hinweggerafft durch Arbeit, trauert sie ihm richtiggehend nach.

Frau Hiltrud fühlt sich vor allem für die Dekoration verantwortlich: Frühlingsblumen, Ostereier, Adventskranz, Weihnachtskugeln, künstlicher Schnee. Den Sterbetag von Siegfried Pospischil, Gründer der Gesellschaft für Wiedereingliederung, zelebriert sie alljährlich mit einem selbstverfassten Gedicht. An jedem 15. September werden alle Kurz- und Langzeitarbeitslosen, und sogar die Prekären, in die Gesellschaft zitiert, um Blumen niederzulegen vor dem Bildnis von Siegfried Pospischil. Die Langzeitarbeitslosen bringen Chrysanthemen und Gerbera mit, die sie auf dem Friedhof geklaut haben. Die Prekären hingegen bündeln ihre finanziellen Kräfte und treten gemeinsam mit einem schönen Strauß weißer Lilien auf.

Während sie die Farne gießt, die auf den Fensterbrettern ihre grünen Finger zum Licht strecken, erzählt sie viel und gern. Jede Grünpflanze, die für die Gangway bestimmt sei, müsse erst eine chemische Analyse überstehen, sagt sie zum Beispiel. Da werde geprüft, ob die Pflanze geraucht werden könne – und falls ja, ob sie psychotrope Wirkung zeitige. Da müsse man natürlich aufpassen, sagt Frau Hiltrud. Sie kenne ihre Pappenheimer. Die meisten litten bereits am Steinzungensyndrom, weil sie alles rauchten, was sie zwischen die Finger bekämen.

Für die Raucher wurde ein Glaskabuff in der Mitte des Ganges geschaffen. Auf diese Weise ist immer für Abwechslung gesorgt: Die Raucher im Glaskubus betrachten während des Rauchens die Wartenden davor, die Nichtraucher wiederum sehen in das Glaskabuff hinein. Wenn notwendig, verständigen sich Raucher und Nichtraucher mittels Zeichensprache. Manche hier rauchen so viel, dass es beinahe als Arbeit durchgehen könnte.

Auf den Tischchen in der Gangway legt Frau Hiltrud regelmäßig Regenbogenmagazine aus. Um den Klassenkampf nicht unnötig anzuheizen, achtet sie darauf, Glücksmeldungen über royale Schwangerschaften und herrschaftliche Segelturns herauszureißen und nur jene Berichte freizugeben, die von magersüchtigen Prinzessinnen, tumorverseuchten Fürsten und polygamen Thronfolgern berichten. Dabei können die Langzeitarbeitslosen gut ohne Königshäuser leben. In den Händen meiner Sitznachbarn befinden sich Selbsthilfebücher, deren Titel mit einem Ausrufezeichen enden: Alles wird gut! Verändere Dein Schicksal! Du bist der Schlüssel! Kenne das Geheimnis! Die Kraft wohnt in Dir!

Sobald ein Langzeitarbeitsloser aufgerufen wird oder mangels Gesprächspartner die Gangway verlässt, setze ich mich rasch auf seinen Stuhl. Meine These lautet: Wo auch immer der Mensch verweilt, lässt er einen Gutteil seiner Gefühle zurück. Gerade in puncto Hoffnung und Angst läuft es im Menschen permanent über, weil einfach zu viel davon da ist. Im besten Fall dockt nun meine Trauer an die übriggebliebenen Gefühle des Langzeitarbeitslosen an und bleibt, wenn ich behutsam aufstehe, an dem klebrigen Trauerstuhl haften. Ich erkläre mir das mit dem Prinzip der Homöopathie: Gleiches mit Gleichem heilen.

Einmal saß mir eine Frau gegenüber, etwas älter als ich. Alle paar Minuten warf sie einen Blick auf eine digitale Anzeige oberhalb der Tür, auf der die Namen der aufgerufenen Langzeitarbeitslosen erscheinen. Sie schluckte häufig, ihr Kehlkopf bewegte sich wie ein Miniaturaufzug auf und ab. Sie war sehr schlank, viel schlanker als ich, und trug ihre langen braunen Haare offen. Eine schöne Frau. Eine schöne Frau, die beinahe platzte vor lauter Sorgen. Ich weiß nicht, woher dieser Satz kam, und ich verabscheute mich auch ein wenig dafür, aber ich dachte: Deine Schönheit nützt dir hier nichts mehr.

Als die Frau aufgerufen wurde, wartete ich kurz. Dann setzte ich mich auf ihren Stuhl. Er war noch warm. Ich lehnte mich zurück und schloss die Augen. Rund um mich waberten die zurückgelassenen Ängste. Zunächst war es unangenehm, ich atmete flach, bis ich erleichtert registrierte, dass sich meine Verzweiflung an der ihren festzukleben begann. Doch da war die Frau schon wieder da und pflanzte sich vor mir auf. Sie wollte ihren Sitzplatz zurück.

»Sofort. Ich bin noch nicht fertig«, sagte ich.

Sie sah mich erstaunt an. »Fertig womit?«

»Ich meditiere.«

Sie verzog den Mund.

»Können Sie das nicht woanders?«

Ich hatte Bedenken, dass sie mich verpfeifen würde. Dann würde alles ans Licht kommen: dass ich doch bloß eine Kurzzeitarbeitslose war. Dass ich kein Recht hatte, mich hier aufzuhalten.

Die anderen sahen von ihren Ratgebern auf. Kein Laut drang aus dem Glaskabuff. Alle Augen auf uns gerichtet. Ich erhob mich schwankend.

Ritus interruptus, ein Unglück.

»Hopp, hopp«, sagte die Frau. Im Gegensatz zu ihrer äußeren Erscheinung war ihre Stimme unangenehm kratzig.

Um mich in der Gangway zu etablieren, helfe ich Frau Hiltrud bei der Farnpflege oder unterstütze sie bei der Zensurierung der Frau im Glück. Mein Ziel ist es, mich unentbehrlich zu machen.

»Fräulein Ruth, was reimt sich auf ›eingliedern‹?«

Seit Wochen arbeitet Frau Hiltrud an ihrem Siegfried-Pospischil-Gedenkgedicht. Dass sich auf »Pospischil« nichts reimt, hat sie bereits zur Kenntnis genommen.

»Anbiedern?«

Sie lacht. »Also, Fräulein Ruth, auf welche Gedanken Sie kommen! Was halten Sie davon? Von morgens bis abends ein einziges Ziel: Wiedereingliedern bedeutet dir viel.«

Sie duzt ihn, jetzt ist es amtlich. Jeder weiß, dass Frau Hiltrud den Chef persönlich gekannt hatte, und jeder rätselt, wie weit diese persönliche Nähe gediehen war, ob sie eventuell auch mit ihm unter einer Decke gesteckt habe, also wortwörtlich. Das ist insofern interessant, als Herr Pospischil seine zig Millionen in mehreren Stiftungen und Gesellschaften geparkt hatte, bevor er das Zeitliche segnete, und wohl auch Frau Hiltrud großzügig für ihren Einsatz an der Arbeitslosenfront belohnt hatte.

»Sehr schön«, sage ich. »Sie sind eine Dichterin. Herr Pospischil wäre stolz auf Sie.«

»Ach, Fräulein Ruth«, sagt Frau Hiltrud. »Eigentlich sollte es heißen: Wiedereingliedern bedeutet dir alles. Aber darauf will mir einfach kein Reim einfallen.«

»Nicht schlimm«, sage ich und tätschle ihre Hand. Eine winzige, weiche Babyhand mit zahllosen Altersflecken, jung und alt zugleich. Ich versuche, mir Frau Hiltrud und Herrn Pospischil im Bett vorzustellen. Hatten sie jemals Sex? Oder hieß es »sich zurückziehen«? »Komm, Trudi, ziehen wir uns auf mein Zimmer zurück.«

»Ich muss weitermachen, Kind«, sagt Frau Hiltrud und seufzt. Sie säubert die leeren Schalensessel mit Desinfektionsmittel. Es riecht nach Krankenhaus.

Eine nachlässig gekleidete Frau nimmt neben mir Platz. Wanda. Sie stellt zwei bis an den Rand gefüllte Einkaufskörbe vor sich ab. Sie keucht. Kaum, dass sich ihre Atmung beruhigt hat, kramt sie in den Körben, holt eine Salatgurke und einen Gemüseschäler heraus. Sie beginnt, die Gurke zu schälen. Die Schalen lässt sie in den Korb fallen.

»Wie oft hab ich ihm gesagt: Ich möchte nicht zurück ins Büro«, sagt sie, ohne von ihrer Arbeit aufzusehen. »Ich wollte bei mir daheim als Hausmeisterin arbeiten, der Posten war ja frei. Und wissen Sie, was mir gefehlt hat? Das richtige Parteibuch. Die Eixelsbergerin ist es geworden. Glauben Sie, dass die eine Ahnung hat von Hausreinigung? Keinen Tau. Und genauso schaut’s aus. Dass es einer Sau graust.«

In der Rubrik Reaktionen auf missglückte Wiedereingliederung notiere ich: Gurke schälen. Der erste Eintrag, in dem Gemüse vorkommt. Die meisten Leute drohen damit, sich per Einschreiben an die Leitung zu wenden, um die »inakzeptablen Vermittlungsversuche, die nur ins Unglück führen« anzuprangern.

Wanda redet sich in Rage. Ich habe sie noch nie so aufgebracht gesehen. Eine gescheiterte Wiedereingliederung mobilisiert verborgene Kräfte.

»Wasser auf die Stiegen schütten, das kann sie. Letzte Woche hätte das dem Hrdlicka fast das Genick gebrochen.« Wanda sticht mit der nackten Gurke in die Luft wie mit einem Säbel.

Plötzlich baut sich Herr Othmar vor uns auf, keine Ahnung, was er hier zu suchen hat, das ist doch gar nicht sein Revier. Ich vermute, dass er Wanda zur Raison rufen will, doch er nimmt eindeutig mich ins Visier.

»Na, wenn das nicht das Fräulein Ruth Barbara ist«, sagt er und grinst.

»Sie ist es«, sage ich.

»Gehören Sie denn hierher?«

»Natürlich nicht«, flüstere ich. »Ich hole nur jemanden ab.«

»Soso«, sagt er. »Wenn Sie mich für einen Moment in mein Zimmer begleiten?«

Schrecksekunde. Habe ich gegen den Ordnungskatalog der Gesellschaft verstoßen? Ich folge ihm mit gesenktem Kopf wie eine unartige Schülerin. Alle sehen mir nach, selbst Wanda unterbricht ihre Brandrede.

Wir betreten sein Zimmer, er schließt die Tür, sagt: »Bitte!«, und deutet auf den Stuhl. Ich setze mich an den Rand der Sitzfläche, bereit, jederzeit aufzustehen. Herr Othmar wiederum begibt sich nicht auf die Kommandobrücke (vor seinen Computer), sondern lehnt sich nur lässig an den Schreibtisch.

»Wir unterstützen Sie«, sagt er.

»Genau«, sage ich.

»Ich war noch nicht fertig. Wir – also die Gesellschaft – unterstützen Sie, falls Sie planen, sich selbständig zu machen.«

»Aha.«

Panik.

Ob ich denn schon einmal mit dem Gedanken gespielt hätte, fragt er.

»Nicht so richtig«, sage ich und traue mich nicht, ihm in die Augen zu sehen.

»Wir unterstützen die Initiative aktiver junger Frauen«, sagt Herr Othmar ein drittes Mal und meint damit offensichtlich mich. In der Selbständigkeit könne ich mich ausleben, sagt er und breitet die Arme aus.

»Aha«, sage ich. Ich wüsste nicht, dass in mir etwas verborgen ist, das hinauswollte.

»Der Markt wartet auf Sie«, ruft er aus. »Die Welt steht Ihnen offen! Und wir geben Ihnen Rückhalt. Für Fälle wie Sie wurde unser Unternehmensgründungs-Programm entwickelt.«

Das ist kein Vorschlag, das ist ein Ultimatum.

»Ich glaube nicht, dass der Markt auf mich wartet«, sage ich.

Herr Othmar überreicht mir eine Broschüre. Hochglanz, 270 Seiten. Hurra, ich gründe! Eine Frau im kleinen Schwarzen wirft jubilierend die Arme in die Luft, ihre Haare tanzen, alles an ihr ist Freude.

»Da finden Sie jede Menge Tipps und Ideen«, sagt er und klopft auf die Titelseite. »Sie können selbständige Beraterin für Silikonhaushaltswaren werden, ein spannender Job mit Zukunft! Oder selbständige Versicherungsmaklerin. Oder selbständige Beraterin für ein berühmtes Schweizer Reinigungssystem.«

»NUBA«, sage ich.

»Genau«, sagt er. »NUBA.«