21

Obwohl er noch leer ist, fühlt sich der Einkaufskorb schwer an, ich trage ihn alle paar Schritte in der einen, dann in der anderen Hand, und es kommt mir so vor, als säßen sie alle drin: Raoul, der mir seine Arme entgegenstreckt und »Mein Symptombündel, mein Symptombündel!« ruft; Maja, die »Hattet ihr Sex?« quäkt; Herr Walter im Raiffeisenbankdirektorsanzug, der »Ich wohne ab jetzt in deinem Zimmer!« skandiert. Drei Kobolde, die mir das Leben schwermachen und irgendwann nur noch »Ruth!« rufen, und das »u« ist wie ein Schlag mit einem nassen Handtuch.

Alles Gelb, gelbes Blech rund um mich, und eine ältere Frau mit Kurzhaarschnitt und runder Brille hält mich am Arm und sagt zu jemandem, der außerhalb des Bildes steht: »Ihr ist schlecht geworden, schlecht ist ihr geworden.« Ich lehne an einem alten Postkasten, blicke auf einen Briefschlitz, der mit Tesafilm zugeklebt ist. Ich erkenne ihn wieder, es ist der Postkasten an der Ecke Palffygasse und Przewalskistraße.

»Es geht schon wieder«, sage ich und greife zum Einkaufskorb, den die Frau an sich genommen hat, alles noch drin, die abgewetzte Geldbörse, die Schlüssel am schweren silbernen Hotel-Schlüsselanhänger, den Raoul auf einer Reise hatte mitgehen lassen.

»Trinken Sie etwas, Fräulein«, sagt die Frau und klopft mir auf die Schulter. »Trinken hilft immer. Die jungen Leute trinken zu wenig heutzutage. Wasser ist Treibstoff für den Kreislauf.« Sie führt ein imaginäres Glas zum Mund.

Ja, ich habe verstanden.

»Aber keinen Alkohol, hören Sie? Haben Sie etwa Alkohol getrunken?« Durchdringender Blick. Jetzt erst bemerke ich, dass ich eingekreist bin von Passanten, die mich anglotzen.

»Natürlich nicht«, sage ich. »Ich trinke nie Alkohol.«

Die Frau nähert sich mir, als ob sie meinen Atem schnuppern wollte, die Neugier und das Entsetzen sind ihr ins Gesicht geschrieben. Ich beeile mich, an ihr vorbei auf die Fahrbahn zu schlüpfen und die Palffygasse zu überqueren. Weg, nur weg hier. Ich spüre die Blicke der Menschen, sie stechen mir in den Rücken, als ich über die Straße gehe, bestimmt tuscheln sie noch über meine Trinkgewohnheiten und meinen unzuverlässigen Kreislauf zu Lasten der Allgemeinheit.

Ich fühle mich erst besser, als ich den Cento-Markt betrete. Kühle Luft aus der Klimaanlage empfängt mich und eine Synthesizer-Version von Berry Manilows »Mandy«. Ich steuere auf den Gang mit den Dosen zu, da ist auch schon das Obst: Ananas, Sauerkirschen, Marillen, Apfelmus mit und ohne Zucker, haltbar bis ins Jahr 2019. Ich werde mich verändert haben, mein Passbild wird ein anderes sein, Falten werden sich um meinen Mund gegraben haben, rund um meine Augen werden sich Schatten und Polster gebildet haben, und die Ananas in der Dose wird unverändert sein in Farbe, Konsistenz und Geschmack. Ich lege zwei Ananaskonserven in meinen Korb, dazu noch eine Dose Kirschen und ein Birnenkompott.

Ich sehe sie im gegenüberliegenden Gang auftauchen, es ist der Gang der Süßigkeiten und Kekse, den ich tunlichst zu umgehen versuche. Wie aus dem Ei gepellt steht sie vor dem Schokoladenregal, Sekretärinnenkostüm und High Heels: Judith Wessely, ohne Kind, dafür mit Einkaufswagen, in dessen Kindersitz sie ihre Tasche verstaut hat, als ob sie den Anblick eines leeren Kindersitzes nicht ertragen könnte.

In einem ersten Impuls will ich auf sie zustürzen, doch in meinem Aufzug kann ich mich unmöglich sehen lassen, schon gar nicht von ihr. Und vielleicht stinke ich zu allem Überfluss tatsächlich nach Alkohol, ich hauche in meine Hand, aber es riecht nur nach Handcreme und nach Staub. Als ich wieder aufblicke, steuert Judith mit schnellen Schritten ihren Wagen auf den Ausgang zu. Ich sprinte von einem Gang zum nächsten und wundere mich. Ihr Einkaufswagen ist leer, weshalb stellt sie sich an der Kasse an? Jetzt legt sie etwas aufs Förderband, etwas Schmales, Kleines.

Ich warte, bis sie den Cento-Markt verlassen hat, dann zahle auch ich. Auf der Straße bläst mir der Spätsommerwind entgegen, kein Barry Manilow mehr, sondern ein vielstimmiges Motorenorchester der Autos, die sich durch die Palffygasse quetschen. Ich könnte bei Raoul vorbeischauen, jetzt, da er von Sehnsucht geplagt ist, und ich schon den halben Weg zum Krankenhaus zurückgelegt habe. Ein unverfänglicher Angehörigenbesuch.

Der Korb mit den Obstkonserven ist schwerer, als ich dachte. Im Kaminsky-Park raste ich kurz hinter der Büste von Franz von Suppé. Es kommt mir vor, als hätte der alte Herr Moos angesetzt, an seinem Hals ziehen sich grüne Flechten hinauf zu den Ohren. Automatisch nehme ich meine eingelernte Pose ein, Kopf einziehen, Arme nah an den Körper, hinter der Schulter der Büste vorbeilugen.

Eine Frau, die Judith Wessely ähnlich sieht, trippelt den Zaun des Krankenhausparks entlang. Sie hält ihre Handtasche am Schulterriemen fest und den Kopf gesenkt. Ihre Absätze machen kraschkrasch auf dem Kiesweg. Als sie auf ihre Uhr sieht, kann ich sie im Profil betrachten. Es ist Judith. Was hat sie hier zu suchen? Schon steigt sie die Stufen zum Eingang des Krankenhauses hinauf, und ich eile hinterher, den Korb mit den Obstkonserven in der Armbeuge wie ein fehlgeleitetes Rotkäppchen.

Als ich keuchend die Magenbuch-Klinik betrete, sind Stunden- und Minutenzeiger auf der Bahnhofsuhr am Ende des Flurs stramm auf einer Linie. Sechs Uhr.

Judith ist bereits im Labyrinth der Gänge verschwunden. Ich beschließe, einen anderen Weg zu nehmen. Durch das Erdgeschoss, denn auf diese Weise komme ich an Pawels Kammer vorbei.

Die Vorfreude lässt mein Herz erzittern. Doch die Tür zu seinem Arbeitsraum, die das letzte Mal offenstand und den Blick freigab auf Pawels Arbeitsplatz, ist geschlossen. Ich klopfe zaghaft. Keine Reaktion. Ich drücke die Türklinke hinunter. Versperrt. Weiter zum Lift. Die Luft hängt schwer zwischen den grauen Wänden. Eine Krankenschwester begleitet eine Frau, die sich in Trippelschritten an der Wand entlangtastet, als sei sie blind. »Sehr gut, Frau Rochen«, sagt die Krankenschwester nach jedem ihrer Schritte. Frau Rochen. Ein beeindruckender Name für eine Person, die bereits in den Schrumpfungsprozess eingetreten ist.

Dann kommen mir zwei entgegen, eine Frau und ein Mann im Papageienmorgenmantel, und es dauert nur den Bruchteil einer Sekunde, bis ich verstehe. Raoul. Und Judith. Obwohl sie einen halben Kopf kleiner ist als er, bemüht er sich in einer grotesken Verrenkung, seinen Schädel auf ihre Schulter zu legen, im Gesicht ein debiles Lächeln. Judiths Gesichtsausdruck sagt: Ich tröste dich und schenke dir Hoffnung. Sie flüstert ihm etwas ins Ohr, ihre Köpfe stecken zusammen, viel zu nah. Wenn sie nur einmal geradeaus sehen, müssen sie mich entdecken. Ich will mich auflösen, verschwinden, doch ich kann mich nicht rühren. Panik. Rechts eine Tür. Ich schlüpfe in eine vollkommene Dunkelheit und schließe die Tür hinter mir, dann lausche ich meinem Atem und dem Herzschlag und den gedämpften Schritten, die langsam verklingen.

Das ist sie also, die Frau, von der die Kranke mit der Turmfrisur berichtet hat. Alles fügt sich zu einem Bild, das mir ganz und gar nicht gefällt. Unter diesen Vorzeichen verstehe ich Judiths plötzlichen Freundschaftsabbruch, ihren Rückzug, ihre ständigen Konflikte mit Phil. Und der Junge? Vielleicht ist ja das Kind auch von Raoul, nicht auszudenken.

Mit ist übel. Wenn die Wand durchlässig wäre, dann könnte ich meinen Arm ausstrecken und Raoul an der Schulter fassen und ihn schütteln. Oder ich könnte mich auf seiner anderen Seite einhängen, um ein Gleichgewicht des Schreckens herzustellen, und ihn fragen, was er sich dabei denkt. Was denkst du dir dabei, Raoul? Was hast du dir die letzten Jahre gedacht? Wer bin ich für dich? Was bin ich für dich? Und Judith, warst du nicht meine Freundin? Die zweifache Enttäuschung wiegt schwer, und ich weiß nicht, wessen Verrat mich mehr verletzt.

Ich taste nach der Türklinke, doch da ist nur ein Knauf, und zu meinem Erschrecken lässt er sich nicht drehen. Was bedeutet das, frage ich mich wie eine Schwachsinnige. Ich brauche einen Moment, um die Tragweite meiner Lage zu erfassen. Das bedeutet, dass du eingeschlossen bist, du Esel. Eingeschlossen in ein stockfinsteres Loch im Bauch der Magenbuch-Klinik, während draußen auf dem Gang jener Mann, mit dem du zusammenlebst, seinen Kopf auf die Schulter deiner Freundin legt. Hast du dir seinen Gesichtsausdruck eingeprägt? Er hat friedlich ausgesehen, so friedlich, wie du ihn lange nicht mehr erlebt hast, ganz entspannt wirkte er, obwohl er sich verbiegen musste, um Judiths Schulter zu erreichen. Wann hat er sich je so verbogen, um dir nahe zu sein? Vielleicht ist es ja auch der Ort, der alle verbiegt, dieses Krankenhaus mit seiner scheinheiligen Aura, die krank macht, nicht gesund.

Ich ertaste einen Lichtschalter. Neonröhren flackern auf. Ich sehe mich um. Ein kahler fensterloser Raum mit Etageren bis an die Decke. Auf den Regalen sind Arztkittel gestapelt. Die Neonröhren summen. Ich schreite die Reihen ab, es sind Mäntel in allen Konfektionsgrößen, in militärischer Strenge angeordnet, rechts für Damen, links für Herren, Kante auf Kante, gebügelt und gestärkt, dahinter Kasacks für die Krankenschwestern in Hellblau und Grün. Auf Schildern sind die Details der Ausstattung vermerkt: halbarm / kurzarm / Labormantel / mit Brusttasche / ohne Brusttasche. Im fahlen Neonlicht wirken die Mäntel leblos und kalt. Kleiderleichen, vorbereitet für die Prosektur.

Im Fond der Kammer kauere ich mich in ein Eck. Die Mantelmauer beschützt mich. Endlich weinen, denn da ist niemand, der mich hören kann. Ich lege meinen Kopf auf die Knie und warte auf die Tränen, doch sie kommen nicht, sogar sie haben mich verlassen. Ich bemühe mich, eine melancholische Stimmung aufzurufen. Damals, als es noch hieß: Wir beide gegen den Rest der Welt, trug Raoul die Haare halblang und sein Herz auf der Zunge. Wir benannten Sternbilder nach unseren Kosenamen: die große Schneckenhexe, die kleine Kaulquappe, der große Stieglitz. In seinen Armen war ich zu Hause, und wenn er einmal nicht da war, öffnete ich seinen Schrank, um an seinen Shirts zu riechen. Ich war das Fräulein Amsel, das Amselchen. Es war die Zeit, in der uns die Przewalskistraßenwohnung unendlich groß erschien. Wir wandelten zwischen den spärlichen Möbeln umher wie Vögel auf der Suche nach einem Nistplatz.

Hätte ich eine Nabeltasche, wäre dies der ideale Moment, um Raouls Briefe hervorzuholen und ein letztes Mal zu lesen, bevor sie im Krematorium verbrannt würden. »Ich vermisste Dich schon, bevor ich Dich kannte«, hatte er geschrieben. Und dass er diese Beziehung »auf Wahrheit und Wahrhaftigkeit« gründen wolle. Das waren seine Worte.

Nicht einmal diese Erinnerung wirkt, nicht die kleinste Träne, ich reibe mir die Augen, bis die Lider brennen. Vielleicht gibt es gar nichts zu betrauern, eine Möglichkeit, die ich bloß noch nicht berücksichtigt hatte. Vielleicht ist es so, wie Maja sagt, und irgendwann ist alle Liebe aufgebraucht, nichts mehr da, was sich verschenken lässt. Wenn das Clin streifenfrei verbraucht ist, dann weint man ja auch nicht, sondern geht in den Laden und kauft eine neue Flasche.

Ich greife in die Textilmauer, pflücke einen Mantel vom Stapel, schlüpfe hinein. Ein Männermantel, in dem ich beinahe verschwinde, ein weißes Zelt, das nach Blütenwaschmittel duftet. Ich probiere ein paar Ärztinnenschritte. Der Mantel verleiht mir eine Instant-Autorität, ich trage den Kopf hoch und halte mich aufrecht. Frau Doktor Amsel, das wäre wenigstens ein ordentlicher Beruf gewesen, dann ginge ich jetzt mit der größten Selbstverständlichkeit in diesem Gebäude ein und aus.

Plötzlich öffnet jemand die Tür, ich höre ein Wispern und möchte hinausstürzen, möchte »Hilfe« rufen und »Hier bin ich«, doch als ich die Arme ausstrecke, fällt mir auf, dass ich immer noch diesen Mantel trage, widerrechtlich, und bevor ich ihn ausziehen kann, ist da das Kichern einer Frau, ganz nahe, und das verhaltene Lachen eines Mannes, und dann stürzt etwas um, und als ich zwischen den Kitteln hindurchluge wie durch die Ritzen eines Rollladens, sehe ich zwei, die sich auf dem Boden wälzen, im schmalen Durchgang zwischen der Männermantelabteilung und der Frauenmantelabteilung.

Der Moment, um auf mich aufmerksam zu machen, ist verstrichen. Ich drücke mich in mein Eck, um das Ende der Veranstaltung abzuwarten. Ich hoffe, dass es sich nur um einen spontanen Kuss handelt, um eine intensive Freundschaftsbekundung in der Arbeitspause.

Das Lachen der Frau klingt wie das Rattern einer Nähmaschine, bloß drei Oktaven höher.

»Iredran«, kichert sie, »Iredran«, immer wieder, und ich frage mich, ob es sich um den Namen eines Medikaments handelt oder um den Namen des Mannes. Der Mann hingegen spricht nicht, er atmet nur laut, und als ich einen Blick riskiere, sehe ich ihn über der Frau knien und ihre Bluse aufknöpfen – ganz sorgfältig und mit beiden Händen, so als bereite er sie für eine schwierige Untersuchung vor.

Ich hoffe inständig, dass es nicht zum Äußersten kommt. Lieber sehe ich einem Chirurgen zu, der in einem offenen Brustkorb hantiert, als fremden Menschen, die ohne erkennbare Notwendigkeit ineinander stochern. Ein peinigender Vorgang, der nur erträglich ist, wenn man selbst daran teilhat. Nacktheit irritiert mich, die eigene noch mehr als fremde. Raoul hatte den binären Code auf unser Liebesleben umgelegt, jeder Tag war entweder 1 oder 0, selbstverständlich sind die 0-Tage mit der Zeit häufiger geworden, sie haben sich unkontrolliert vermehrt, daran hat auch das siebte Flittchen nichts ändern können.

Um mich nicht vollständig preiszugeben, bemühe ich mich stets, ein Stückchen Fremdheit zu bewahren. Niemals habe ich mich vollständig vor Raoul ausgezogen, etwas habe ich immer anbehalten: die Schuhe, ein Haarband, ein Strumpfband, und wenn es nicht anders ging, klebte ich mir rasch ein Pflaster auf. Raoul sollte niemals das Ganze zur Bearbeitung vorfinden. Einen Teil des Körpers, und sei er noch so klein, habe ich ihm immer vorenthalten, denn wer sich nicht ganz gibt, dem bleibt immer die Möglichkeit, sich zurückzuziehen an einen Ort, der nur einem selbst gehört.

Iredran und seine Geliebte teilen diese Bedenken nicht, sie ist vollkommen nackt, wie ich mit einem Blick durch die Stapel erkennen kann, weiße, kleine Brüste, knochige Hüften, ein flacher, beinahe nach innen eingesunkener Bauch. Der Mann ist das perfekte Gegenstück, dunkel und behaart, mit Hängebrüsten und respektablem Hüftspeck.

»Wunderbare Titten«, ächzt der Mann, und die Frau sagt wieder »Iredran«. Vielleicht ist auch das nur ein Spiel, denke ich, das siebte Krankenschwester-Flittchen, heute zwei aus der Internen, morgen drei aus der Chirurgie, ein Spiel ohne Verlierer und ohne Folgen. Der Herr Oberarzt hat eine Niere erfolgreich transplantiert, er darf zwei Felder vorrücken. Ich presse die Hände auf die Ohren, um das Flüstern und Kichern nicht mitanhören zu müssen.

Mit einem Mal erzittert die Etagere vor mir. Der Mann, vollkommen entfesselt, stößt den Kopf der Frau gegen das Regal. Ich flüchte in mein weißes Zelt. Auch die Frau hat ihre Hemmungen abgelegt. Ihr Stöhnen klingt frisch und überrascht, so als kenne sie den Mann noch nicht lange. So stöhnt man, wenn man mehr bekommt, als man erwartet.

Als ich aus meinem Versteck hervorluge, sehe ich, dass Iredran ein Bein der Frau am Knöchel festhält und in einem abenteuerlichen Winkel von ihrem Körper abspreizt. Diese Frau ist sehr biegsam, wahrscheinlich eine ehemalige Kunstturnerin. Raoul würde das gefallen. Er hatte sich immer eine biegsame Frau gewünscht und mich bekommen.

Immer wieder drängt sich Judith in meine Gedanken. Judith, die sich aus dem Fenster beugte und in ihren Haaren wühlte. Bestimmt wollte sie, dass Raoul es sah, nicht ich. Raoul war der Adressat, nicht ich, und ich glaubte noch, dass sie mich um Hilfe rief, dabei rief sie nur nach ihrem Liebhaber. Jetzt verstehe ich ihr Seufzen, ihr Mitgefühl, als ich von Raouls Krankenhausaufenthalt berichtete.

Ich muss mich beruhigen, denke ich, doch vor mir liegt der Irrsinn, und hinter mir liegt der Irrsinn, da fällt mein Blick auf den Korb mit den Obstkonserven aus dem Cento-Markt. Essen ist immer ein Ausweg, wenn nicht sogar der zuverlässigste von allen. Ich entscheide mich für Ananas, denn meine Mutter gab mir Ananas, wenn ich Alpträume hatte. Ananas radiere die bösen Bilder aus, hatte sie gesagt.

Ich ziehe an der Metalllasche, der Deckel hebt sich von der Dose. Die Ananasringe liegen übereinander im Ananassaftbad. Ich greife hinein und ziehe einen Ring heraus. Lecke den Saft ab, er schmeckt köstlich, warm und süß. Ich darf nicht zu schmatzen beginnen oder müsste zumindest dieselbe Tonart wie die beiden Liebenden treffen. Ob sie sich tatsächlich lieben, kann ich nicht wissen, doch wenn Liebe laut und stark ist, dann sind sie zumindest nahe dran.

Vorsichtig knabbere ich den Ring an, die Ananas zergeht auf der Zunge, im Nu habe ich sie aufgegessen und angle schon nach der nächsten.

Je mehr ich davon esse, umso größer wird meine Gier. Ich stecke die beiden letzten zugleich in den Mund. Die Frau und der Mann praktizieren währenddessen einen Stellungswechsel. Die Frau dreht sich um, kniet auf dem Laminat, während sich Iredran an sie dranhängt wie ein Waggon an die Lokomotive, seine Anhängerkupplung ist vorschriftsmäßig eingerastet. Nicht den Kopf heben, nur nicht den Kopf heben, denke ich, wie ein Mantra.

Und dann legt der Mann seine Hand auf das Hinterteil der Frau, und ich kann meinen Blick nicht abwenden. Diese gespreizten Finger, die besitzergreifende Geste, das ist die Hand von Herrn Walter, seine manikürten Fingernägel, die Adern auf seinem Handrücken, die unerträgliche Selbstverständlichkeit, mit der er diese Hand auf den Hintern meiner Mutter legte, nachdem er ihre Grießnockerl verschlungen hatte.

Ich möchte »Stopp!« rufen und »Aufhören!« und verschlucke mich an der Ananas, die mir mit einem Mal faserig und ungenießbar erscheint. Ich muss sie ausspucken, muss sie loswerden, ich huste, und obwohl ich den Mantel auf den Mund presse, hebt die Frau ihren Kopf, und ich sehe in ihre aufgerissenen Augen, und sie schreit: »Stopp!« und »Hilfe!«

Das Kokette ist aus ihrer Stimme verschwunden, übrig ist ein schmerzhaftes Kreischen, schrill und hysterisch. Der Mann, offenbar davon überzeugt, dass es sich um Schreie des Entzückens handelt, verstärkt seine Bemühungen. Die Frau aber schüttelt ihn mit aller Kraft ab, bis er aus ihr herausrutscht und sich aufrappelt, verwirrt. Die Frau sammelt hektisch ihre Kleidungsstücke ein und hält sie sich über Brust und Bauch.

»Da hinten sitzt einer!«, keucht sie. Ihre ausgestreckte Hand zittert.

Dass sie mich mit einem Mann verwechselt, befremdet mich. Sollte ich aufstehen und mich vorstellen? Absurd. Also bleibe ich sitzen und spucke die Ananas in meine hohle Hand.

Die Frau zischt Iredran einen Befehl zu, er schlurft um die Ecke, nackt, und sagt tonlos: »Was machen Sie hier. Spionieren Sie uns nach. Hat Ida Sie geschickt.«

Ich sage, dass ich keine Ida kenne. Dass niemand mich geschickt hätte, nicht einmal ich selbst, schließlich hätte ich mich nur versehentlich eingeschlossen.

Der Mann schleicht zurück in den Mittelgang.

Ich höre, wie er sagt: »Es ist eine Frau. Sie hat sich versehentlich eingeschlossen.«

»Warum hat sie nichts gesagt?«, kreischt die Frau. »Frag sie das! Frag sie, warum sie sich nicht bemerkbar gemacht hat!«

Wieder kommt er um die Ecke getrottet, runder Rücken, scharfe Falten um den Mund.

»Warum haben Sie nichts gesagt?«

»Ich wollte ja«, sage ich. »Aber dann war es plötzlich zu spät.« Ich lasse den Ananasbissen in die Brusttasche des Arztkittels gleiten und halte ihm die Konserve mit dem Ananassaft hin.

Er winkt ab.

»Da ist ein Summer, neben der Tür«, sagt er. »Sie arbeiten nicht hier?«

Ich schüttle den Kopf.

»Karl!«, ruft die Frau.

Als er zum letzten Mal um die Ecke der Etagere biegt, trägt er bereits eine weiße Hose.

»Kommen Sie mit raus?«

»Danke«, sage ich. »Ich bleibe.«

Sie schließen die Tür, ganz behutsam.

Das Paar hat Unruhe hinterlassen und etwas Kleines, Glänzendes zwischen der Frauen- und der Männermantelabteilung.