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Das Päckchen liegt auf dem Fußabstreifer. Ich hebe es auf und suche nach einem Kärtchen, nach einem Beweis, dass es nicht für mich ist, denn ich erwarte nichts, am wenigsten ein Geschenk. Doch da ist kein Kärtchen, keine Aufschrift, nichts, was auf den Absender hindeutet, unter der Bastschnur leuchtet Weihnachtspapier hervor, rote Glocken, silberne Engel mit Trompeten.

Ich streife die Schnur herunter und reiße das Papier auf. Ein Taschenbuch. Der Königsweg zum Lebensglück von Anton Pschill. Auf einem runden Aufkleber steht BESTSELLER in goldenen Lettern. Eine Frau in einem gebatikten Kleid wirft gelbe Blütenblätter über ihren Kopf. Sie reißt dabei den Mund auf und entblößt zwei Reihen schneeweißer Zähne. Ich bin noch nie im Blütenregen gestanden und bezweifle, dass ich mich danach glücklicher fühlen würde.

Auf der ersten Seite finde ich die Widmung, schräg über die Seite geschrieben und mit Blümchen verziert wie das Poesiealbum eines Volksschülers.

Liebe Küchenfee,

ich wünsche mir, dass Du das liest.

Du bist eine bemerkenswerte Frau.

Pawel

Die Küchenfee stört mich, aber der Rest versöhnt mich wieder, und eine warme Hoffnungswelle trägt mich mit sich fort. Wie schön, wie schön, das Buch wirkt bereits, dabei habe ich doch noch keine einzige Seite gelesen.

Die Welle zerschellt an einem Felsen. Bemerkenswert – ist das jetzt gut oder schlecht? Ich kann jemanden für bemerkenswert erachten und ihn trotzdem nicht mögen. Oder nur so, wie man einen guten Freund schätzt. Und wieso geht Pawel automatisch davon aus, dass mir geholfen werden muss? Dass ich eine Suchende bin, noch dazu nach so etwas wie Lebensglück? Schon die schiefe Wortverbindung verursacht mir Übelkeit, ein großes Wort, mit eisernen Scharnieren befestigt an ein noch größeres Wort, ich möchte nicht wissen, wie viel Unglück diese Koppelung schon erzeugt hat.

Ich blättere weiter zum Inhaltsverzeichnis.

Kapitel 1: Hofieren Sie Ihre Unzufriedenheit!

Kapitel 2: Fragen Sie Ihren Schutzengel, was er mit Ihnen vorhat.

Kapitel 3: Füttern Sie den Tiger in Ihnen.

Ich betrachte die Haut an meinen Armen, die Brust, die immer tiefer sinkt, den Ring um die Mitte. Wenn da ein Tiger wohnt, dann hat er sich gut versteckt. Ich erinnere mich an eine Dokumentation über den Tigertempel in Thailand, die ich gemeinsam mit Johannes angesehen hatte. Wir lagen auf der Babydecke ineinander verkeilt, über unseren Köpfen flimmerte der Fernseher. Tiger, Tempel, Thailand – eine Kombination, die mich von der ersten Minute an fesselte. Man sah den Mönchen zu, die gemeinsam mit ihren Tigern spazieren gingen. Tiere und Mönche sahen einander verdammt ähnlich, so wie sich Hunde und Herrchen mit der Zeit einander angleichen. Johannes versuchte, mich zu küssen, und nahm meinen Kopf in die Hände, und ich wehrte mich, jetzt durfte er mich nicht stören.

Die Mönche spazierten mit ihren Tigern durch das Unterholz, die Tiere blieben immer in ihrer Nähe. Jeden Nachmittag wurden die Tiger in eine Schlucht gebracht, wo sie auf Touristen trafen. Jeder Tourist durfte einmal einen Tiger streicheln, davon wurde ein Foto gemacht.

Johannes schimpfte. Das sei unnatürlich, sagte er, Tiger seien Raub- und keine Schoßtiere.

Damit sich die Tiger, die auf ihren Auftritt warteten, nicht langweilten, durften sie an den Fingern der Mönche knabbern. Die Tiger waren nicht angebunden, kein einziger Mönch trug eine Waffe. Dennoch hatte es noch keinen einzigen Zwischenfall gegeben, sagte der Sprecher. Nicht einen. Waren die Tiger besonders gut gelaunt, konnten die Touristen – sofern sie bereit waren, den Obolus an den Orden zu erhöhen – um eine Extrawurst ansuchen: Die Mönche legten einem dann den Kopf des Tigers in den Schoß.

»Gib mir deinen Finger, ich möchte auch knabbern«, sagte Johannes, und wieder stieß ich ihn weg. Ich spürte, dass diese Dokumentation eine Botschaft für mich bereithielt, und überlegte fieberhaft, was die Mönche mit meinem Leben zu tun hatten. Ich bekam Gänsehaut vor Aufregung, ich schlüpfte aus Johannes’ Umarmung und setzte mich kerzengerade vor den Fernsehschirm. Als der Abt des Tigertempels sagte: »Wer mit Tigern umgehen kann, der meistert auch sein Leben«, verstand ich, weshalb ich so weit davon entfernt war, mein Leben zu meistern. Dass irgendwo da draußen das echte Leben auf mich lauerte. Und dass ich weitergehen müsste, da ich sonst die Tiger bis zum Ende meiner Tage nur durch eine Glasscheibe betrachten würde.

Ich lege mich auf das Bettsofa und blättere durch das Buch, das mir so viel kostbarer erscheint als jedes andere Buch, jetzt, da es Vergangenheit und Gegenwart mit einem unsichtbaren Band verknüpft, und wer weiß, vielleicht führt es auch in die Zukunft.

Nicht gleich entmutigen lassen, schreibt Anton Pschill. Ein Tiger verbringt viel Zeit auf der Jagd, da nur zehn Prozent seiner Beutefänge von Erfolg gekrönt sind. Derart niedrige Erfolgsquoten wären, umgelegt auf die menschliche Existenz, nichts anderes als Beweise des Scheiterns. Deshalb: Nicht entmutigen lassen, auch nicht durch lange Durststrecken. Einfach raus aus der Komfortzone, rein in die Wildnis.

Pawel hat mit seinem Geschenk ins Schwarze getroffen. Ich muss hier weg, bevor Raoul zurückkehrt. Rein in die Wildnis. Ich hole den Trolley aus seinem Versteck, ein graues fleckiges Monstrum, das sein Maul bereitwillig öffnet. Plötzlich habe ich es eilig, zu verschwinden, ich öffne den Schrank und werfe wahllos Kleidungsstücke in den Koffer, ohne sie zusammenzufalten, ein Kleiderknödel aus Slips, Shirts, Strumpfhosen, einer Pluderhose und meinem Traueranzeigenkostüm. Währenddessen laufen mir Tränen die Wangen herunter, und weil ich keine Hand freihabe, um sie wegzuwischen, tropfen sie auf den Boden. Ich stelle mir vor, dass ich den Boden wischen werde mit meinen Tränen, je mehr ich schrubbe, umso mehr wird es aus den Augen fließen, bis ich ganz ausgetrocknet bin, eine Vorstellung, die mich noch trauriger macht.

Den Paillettenrock lasse ich im Schrank hängen, denn das siebte Flittchen darf nicht mit, es muss in der Przewalskistraßenwohnung versauern, dort, wo es geboren wurde, wird es sterben. Ein Glück für die anderen Flittchen, endlich kommen sie zum Zug. »Viel Spaß!«, rufe ich und denke gleichzeitig: So, jetzt ist es soweit. Jetzt wirst du verrückt. Ich knie vor dem Koffer und stopfe meine Turnschuhe in den Kleiderhaufen, die Winterstiefel müssen auch noch hinein, bald ist es Winter, ich friere bereits.

Als es klingelt, schließe ich gerade den Zippverschluss. Dem Trolley ist ein Bauch gewachsen, er ist dick und fett, ein Stoffballon kurz vorm Platzen. Ich stolpere zur Tür, davor steht Maja im Businesskostüm, und ich weiß im ersten Augenblick nicht, ob ich ihr die Tür vor der Nase zuwerfen oder sie hereinbitten und mich bei ihr ausweinen soll.

Maja nimmt mir die Entscheidung ab, sie sagt: »Was ist los mit dir, ich habe versucht, dich zu erreichen«, und die tiefen Falten zwischen ihren Augenbrauen beweisen mir, dass sie es ehrlich meint. »Wie siehst du überhaupt aus!« Sie nimmt mich am Arm, führt mich zum Spiegel, und ich schließe schnell die Augen. Diese zerknitterte Frau mit roter Nase und schmalen Lippen will ich nicht sehen.

»So schlimm?«, sagt sie und will mich in den Arm nehmen, aber ich kann jetzt keine Nähe ertragen, ich brauche Luft zum Atmen.

Ein Blick auf den Koffer. »Du verreist?«

Ich zucke mit den Schultern. »Was machst du hier?«

»Wir haben einen Termin, Schätzchen«, sagt Maja und klopft auf ihren Laptop, der aus ihrer Handtasche hervorlugt. »Keine Hausaufgaben gemacht?«

»Ich überlege mir das noch einmal«, murmle ich.

»Wie bitte?«

»Mit der Selbständigkeit.«

Da packt sie mich am Arm und schleift mich ins Wohnzimmer. »Jetzt setzen wir uns mal, verehrtes Fräulein«, sagt sie. »Was geht denn in unserem Kopf vor?«

Sie redet bereits wie eine Krankenschwester mit einer Patientin, sagt wir, wenn sie mich meint, hält mich am Ellenbogen fest, als würde ich jeden Moment aufspringen und davonlaufen.

»Du bist mein Hoffnungsschimmer«, flüstert sie. »Du wirst einmal erfolgreich sein, das spüre ich.« Ein billiger Trost, der dennoch sofort in die Blutbahn übergeht und in den Kopf steigt.

»Ich werde Raoul verlassen«, sage ich.

Sie nickt nur still und verstärkt ihren Griff um meinen Ellenbogen.

»Du hast recht«, sagt sie. »Ganz recht hast du. Raoul checkt es nicht. Ich möchte ehrlich mit dir sein.«

Ich habe Angst vor dem, was jetzt kommt. Vielleicht war Maja die ganze Zeit eingeweiht und wusste von Raouls Verrat. Das war immer meine größte Sorge: Als Einzige nicht zu wissen, was läuft, während sich alle bereits das Maul zerreißen.

»Sein Projekt wird nicht funktionieren«, sagt Maja.

Ich hatte alles erwartet. Das nicht.

»Wie – nicht funktionieren.«

»Raoul träumt mit offenen Augen. Sein Projekt geht schief. Wobei, um ganz ehrlich zu sein: Es ist bereits schiefgegangen. Ich habe ihn im Krankenhaus besucht, weil ich ein schlechtes Gewissen hatte. Er wurde eingeliefert, nachdem ich ihm den Schlussbericht gesendet habe. Nicht förderungswürdig. Abgelehnt von allen Stellen. Ich dachte, seine Krankheit könnte mit dem Brief zu tun haben. Ein Schock gewissermaßen.«

So war das also. Raoul hatte den Schlussbericht mit keinem Wort erwähnt. »Wir finden für dich eine Geschäftsidee, die funktioniert«, sagt Maja.

Sie kramt in ihrer zotteligen Handtasche, die sie zu ihren Füßen abgestellt hatte wie einen Hund, und fördert ein blaues Mikrofasertuch zutage.

»Hier, fühl mal«, sagt sie. »Frisst den Staub und versiegelt die Oberfläche des Möbelstücks durch einen innovativen Mechanismus. Aus der Weltraumforschung.«

»Das ist die Geschäftsidee?«, krächze ich.

Nicht nur das, sagt Maja. Ein ganzes System warte auf mich, ein System aus Putzfetzen, revolutionären Putztüchern und Mops, und gerade als ich: »Das ist doch nicht etwa NUBA«, sagen will, sagt Maja: »NUBA«, und ich stehe auf und sage: »Ich brauche jetzt was zu trinken.«

Ich hole den Brandy aus der Küche, gieße zwei Gläser ein und will nur noch vergessen.