6
»Wer ist in der Leitung?«
»Helmut.«
»Aus?«
»Wörgl.«
»Helmut wie noch?«
»Ruppacher.«
»Franz Ruppacher aus Wörgl. Ihre Antwort?«
»Zwanzig Meter.«
Eine Sirene macht ojojoj.
»So ein Idiot!« Raoul schlägt auf das Lenkrad.
Wir fahren die Südosttangente entlang. Dort, wo die Stadt ausfranst, hat sich Industrie breitgemacht. Auf beiden Seiten der Stadtautobahn blasen Fabrikschlöte ihren stinkenden Atem in den Himmel.
»Helga, das ist Ihre Chance«, frohlockt der Moderator.
»Hundert Meter«, sagt Helga. Fanfare.
»Hättest du’s gewusst?«, fragt Raoul und wirft mir einen Seitenblick zu. Er grinst.
Wir wissen beide, dass meine Eltern in diesem Moment ebenfalls Radio Eins hören. Sie werden uns begrüßen und die Fragen aus dem Quiz wiederholen, und wir werden so tun, als ob wir angestrengt nachdächten, bevor wir schließlich die richtige Antwort aufsagen. Mein Vater wird Raoul auf die Schulter klopfen und sagen: »Darauf trinken wir einen.« Sie wissen, dass wir die Antworten bereits kennen, und wir wissen, dass sie’s wissen, und dennoch spielen wir dieses Spiel wieder und wieder. Ich sage mir, dass ich nicht alles verstehen muss, was in dieser Familie vor sich geht, dass es verschlossene Türen und geheime Kammern geben muss. Dass sich ein Leben womöglich nicht an der Anzahl der gelösten Rätsel misst, sondern an der Anzahl der Geheimnisse, die man hinterlässt.
Mein Vater, der als Buchhalter in der ROSENSTOLZ-Porzellan-Manufaktur arbeitete, pflegte etwa eine Leidenschaft, deren Reiz mir bis heute verborgen geblieben ist. Als wir noch in der Stadt lebten, legte er in seinem »Bastelzimmer«, wie er es nannte, Fundstücke aus, die er auf dem Heimweg von der Arbeit in der Straßenbahn gefunden hatte: bunte Steine, eine zerbeulte Getränkedose, ein Kinderschuh, ein Zettel mit einer Telefonnummer, die man nicht mehr entziffern konnte. Ein Museum der verwaisten Dinge. »Dreck«, nannte es meine Mutter. Sie weigerte sich, im Bastelzimmer Staub zu saugen. Der Gemeindebau, in dem wir wohnten, bestand aus mehreren Höfen, wir wohnten im Hof D, dritte Stiege, Parterre.
Raoul kannte diese Wohnung nicht, natürlich nicht, wir zogen aufs Land, als ich zehn war, und wenn ich ihm davon erzähle, erwachen immer dieselben Erinnerungen: an die Gänsehaut auf meinen Armen, wenn ich in der Speisekammer hinter dem Mehl eine fette Spinne entdeckte. An das Geräusch, das entstand, wenn sich das Schnurren von Kater Orly mit dem sonoren Brummen des Kühlschranks vermischte. An den Geschmack des Vanillepuddings, den ich mit dem Puppenlöffel aß, um länger etwas davon zu haben. An Hausmeister Hribil, dessen hervorstechendstes Merkmal seine Habsburger-Unterlippe war, der in seinem Verhalten jedoch wenig adelige Zurückhaltung an den Tag legte: Er verfolgte uns Kinder mit dem Besen drohend und trank abends Spiritus aus der Flasche.
Der Bastelraum, ein fensterloses Kabinett neben der Eingangstür, war zuvor mein Kinderzimmer gewesen. Als ich älter wurde und dennoch klein blieb, beschloss meine Mutter, dass ich ins sogenannte Elternschlafzimmer umziehen sollte, weil es dort ein Fenster gab und Tageslicht, zumindest einige Stunden am Tag. Meine Mutter war der festen Überzeugung, dass ich Licht benötigte, um zu wachsen – wie ihr Gummibaum, der in einem Eimer vor dem Schlafzimmerfenster stand und dessen speckige Blätter einmal in der Woche mit Bier gereinigt wurden, damit sie glänzten.
Als ich in die Schule kam, musste ich den Gummibaum versorgen. Meine Mutter kontrollierte jede Woche, wer besser gewachsen war: der Baum oder ich. Um den ungleichen Wettkampf zu gewinnen, bog ich den Stamm des Gummibaums täglich ein wenig zur Seite, so dass er bald ebenso gebeugt dastand wie Hausmeister Hribil am Ende eines Arbeitstages.
Die Finte nützte nichts: Der Gummibaum war nun zwar keine Bedrohung mehr, was die Größe anbelangte, die Blätter aber schrumpelten wie achtzigjährige Haut, dagegen half kein Bier der Welt. Schließlich wurden sie gelbbraun und fielen ab. Panisch versuchte ich, die Blätter mit Superkleber am Stamm zu befestigen, doch die Natur ließ sich damit ebenso wenig täuschen wie meine Mutter. Das war meine erste Lektion in Ausweglosigkeit.
Als wir dann auf dem Land wohnten, brachte mein Vater anfangs noch mehr »Dreck« von seinen Fahrten heim, denn nun fuhr er täglich zwei Stunden mit der Bahn. Er hatte es sich angewöhnt, einen Rucksack zu tragen. Abends war der Rucksack prall gefüllt. Er hatte sich im neuen Haus ein riesiges »Bastelzimmer« unter dem Dach reserviert, doch in den unendlichen Weiten des neuen Raums war die Freude verpufft. Wir spürten alle, dass er den beengten Verhältnissen in der Gemeindewohnung nachtrauerte.
Seit kurzem war er einer neuen Leidenschaft verfallen: Monopoly. Da konnte er alles tun, was ihm bisher versagt geblieben war: Straßen, Häuser, Hotels und Energieanlagen nach Belieben kaufen, sich hoch verschulden, spekulieren und – mit einer gewissen Lust – ins Gefängnis wandern. Als ich ihn fragte, wie es dazu kam, dass er vom Sammler zum Spieler wurde, sagte er nur: »Ich probe den Ernstfall.« Er nickte, und ich nickte, und wir wussten beide, dass dieser Ernstfall niemals eintreten würde.
Von mir, dem einzigen Kind, hatten sich die Eltern eine strahlende Karriere erhofft. Ich hätte die Melancholie lindern sollen, die sich langsam in ihrer Beziehung einzunisten schien. Dass aus meiner Medizinerlaufbahn nichts geworden ist, hat meinen Stand innerhalb der Familie nicht unbedingt verbessert. Mittlerweile haben sie sich damit abgefunden, so wie man sich mit kreisrundem Haarausfall abfindet.
Raoul ist ein ungeduldiger Autofahrer, wir fahren beinahe die gesamte Strecke auf der Überholspur. Um Punkt zwölf biegen wir in einen zersiedelten Landstrich ein. Alle dreihundert Meter steht ein einsames Schlumpf-Haus inmitten eines verwilderten Gartens. Hin und wieder leuchtet ein blaues Quadrat hinter den Büschen hervor – ein Swimmingpool, kaum größer als eine Badewanne.
»Hier möchte ich weder leben noch sterben«, sage ich.
»Das sagst du jedes Mal«, sagt Raoul. »Also gilt es nicht.«
»Unfair«, sage ich.
»Fairer geht’s nicht, Ruth.« Ganz ernst sagt er das.
Als wir am Ortsschild von Unterbruchstetten vorüberfahren, läuft uns um ein Haar ein Köter vors Auto. Raoul bremst und flucht gleichzeitig. Der einzige Grund, weshalb er gemeinsam mit mir den Elternbesuch absolviert, ist der Umstand, dass er auf diese Weise einmal im Monat zu einem Dreigängemenü kommt.
Wir parken vor dem fleischfarbenen Haus am Ende der Beethovenstraße. Der Asphalt schwitzt. Sogar den Vögeln ist es heute zu heiß. Totenstille. Nur Frau Obernosterer ist auf ihrem Posten. Hauskleid mit Rhombenmuster und große Tränensäcke, die von der Mühsal des Landlebens erzählen. Sie schichtet Holzscheite unter ein Vordach.
»Ah, da wird sich die Frau Mamá aber freuen«, sagt sie und wischt sich die Hände an der Schürze ab. Sie betont Mamá auf der zweiten Silbe, so als besäßen wir ein Schloss in der Provence.
»Ich glaub, Sie kriegen Grießnockerlsuppe und Rindfleisch heute. Und einen Apfelstrudel. In der Früh hab ich durch das Fenster geschaut, da hat sie den Teig ausgezogen.«
»Ausgezogen?« Raoul grinst mich an. »Du hast noch nie einen Teig ausgezogen.«
»Das Wichtigste, junger Mann: Man muss den Ehering vorher abnehmen, sonst bleibt der Teig daran kleben«, sagt Frau Obernosterer.
»Wir sind nicht verheiratet«, sagt Raoul.
Täusche ich mich, oder schwang da Erleichterung mit?
»Ich glaube, wir sollten«, sage ich zu Raoul und deute auf das Amsel-Haus. Die Glocke macht Klingklong, auf dem Fußabtreter steht: »Bring Glück herein.« Ich weiß bis heute nicht, wie das geht, das mit dem Glück hereinbringen.
»Hast du Maja in letzter Zeit mal getroffen?«, frage ich Raoul und bemühe mich um einen unbeschwerten Tonfall.
In diesem Moment öffnet meine Mutter die Tür. Sie hat sich hübsch gemacht: Rüschenbluse, Pullunder, Perlenkette. Sogar Parfum hat sie aufgelegt. Brodel- und Zischgeräusche aus der Küche. Meine Mutter reicht uns zwei Paar Hausschuhe, groß wie Babybadewannen, einmal mit Bären-, einmal mit Katzengesichtern. Wir stehen direkt unter dem grotesk feierlichen Kristalllüster.
»Wo ist Papa«, frage ich.
»Monopoly-Bezirksmeisterschaft«, sagt meine Mutter. Und dann, ohne Überleitung: »Wir haben einen Gast.«
Wir schlurfen in die Küche. Raoul ist still wie immer, wenn er auf meine Familie trifft. Der Ecktisch in der Wohnküche ist heute festlich gedeckt, weißes Tischtuch, Stoffservietten, Silberbesteck, die besten Stücke aus unserer ROSENSTOLZ-Geschirrsammlung. Und dann sehe ich ihn: eine Art Clark Gable für Arme. Schwarzes, pomadisiertes Haar, leicht glänzender, dunkler Anzug, aufregend gemusterte Krawatte.
»Das ist der Herr Walter«, sagt meine Mutter.
Herr Walter steht auf und deutet eine Verbeugung an.
»Bitte einfach Walter«, sagt er.
Ich hoffe, ich muss keinen Knicks machen, aber er sitzt ohnehin bereits wieder, und zwar am Kopfende, auf dem Platz meines Vaters. Irritation. Noch ist kein Bissen gegessen, und der Gast bringt bereits das Familiengefüge durcheinander. Ich setze mich an Herrn Walters linke Seite, Raoul sitzt neben mir, gegenüber hat meine Mutter Platz genommen, auf dem »Schleudersitz«, der dem Herd am nächsten ist.
»Ja«, flüstert Raoul.
»Was: ja?«
»Ich habe Maja getroffen. Das wolltest du doch wissen.«
Ein Fausthieb, irgendwo zwischen Magen und Nabel.
»Warum nicht? Du bist auch herzlich eingeladen, meine Freunde zu treffen.« Er setzt sein freundlichstes Lächeln auf. Dann tätschelt er meine Hand. »Keine Szene, Amselchen, ich bitte dich. Sie ist ein Profi für Fragen der Projektförderung auf europäischer Ebene. Ganz ehrlich: Ich freu mich über jedes Hirn, das mitdenkt.«
»Europäisches Projekt? Welches europäische Projekt?«, frage ich, obwohl ich fragen will: Hirn? Welches Hirn? Geht es nicht eher um ihren Körper?
»Später, Ruth, später«, zischt Raoul.
Drama, denke ich. Drama, Drama, Drama. Jetzt ist es da. Und ich habe nicht mal daran mitgewirkt. Ich beschließe, Raoul zu bestrafen, indem ich Herrn Walter meine ganze Aufmerksamkeit schenke. Ich betrachte ihn genauer: Er wird um die fünfzig sein, lange, schmale Finger, markantes Kinn, kleine Ohren. Die akkurate Frisur wie mit der Nagelschere getrimmt, da fällt kein Haar aus der Rolle. Nicht jung genug, um als Toyboy durchzugehen, nicht alt genug für einen Vaterersatz.
»Und was machen Sie so?«, frage ich Herrn Walter, und er antwortet: »Ich arbeite in der Raiffeisenbank Stoldering.«
»Sei nicht so bescheiden, Walter!«, ruft meine Mutter. Zu uns gewandt: »Er ist Direktor der Bank.«
Direktor, denke ich. So ist das also. Ein Direktor hat Anrecht auf die Stirnseite, den Vorsitz, der ist ja sozusagen der König des Landstrichs. Vielleicht wollen meine Eltern einen Kredit aufnehmen und es sich deshalb mit der Bank nicht verscherzen.
Meine Mutter serviert die Suppe und legt Herrn Walter vorsorglich drei Grießnockerl in den Suppenteller, jedes einzelne so groß wie ein vier Monate alter Embryo. Die Arbeit als Bankdirektor schlaucht offensichtlich, da bedarf es einer ordentlichen Stärkung. Wir anderen bekommen nur je ein Nockerl, was Raoul erstaunt, aber stumm zur Kenntnis nimmt. Herr Walter ist der Ehrengast, nicht Raoul, welche Genugtuung, denn sonst wird er von meiner Mutter gehätschelt wie ein Wunschkind: »Raoul, schmeckt es dir? Kann ich dir noch etwas bringen? Möchtest du noch Salat? Salz? Ketchup?« Heute nichts dergleichen, alle Aufmerksamkeit gilt dem Bankdirektor.
Ich überlege, ob ich es gern gehabt hätte, wenn mein Vater Bankdirektor gewesen wäre, und meine Antwort lautet: Eindeutig, ich hätte es geliebt. Das wäre die Eintrittskarte in die Selma-Clique gewesen. Linda Wegrostek hätte es nicht gewagt, mich ihre Verachtung spüren zu lassen. Die Lehrer wären vorsichtiger mit mir umgesprungen, schließlich hätte ihnen mein Vater die Autoleasingverträge, ihre Eigentumswohnungskredite und Bausparverträge vermasseln können. Sogar der Herr Schuldirektor hätte über meine Fehlstunden großzügig hinweggesehen.
So schlecht sieht er gar nicht aus, der Herr Walter, denke ich, als ich meinen Grießembryo zerteile. Stoldering liegt immerhin zehn Autominuten entfernt, da hat der Herr Direktor schon eine rechte Strecke auf sich genommen, um zu speisen. Vielleicht hat meine Mutter ihm ja von mir erzählt, von mir und meinem Freund, der in ihren Augen nichts auf die Reihe bekommt, vielleicht versucht sie so etwas wie eine sanfte Verkuppelung.
Ich lächle Herrn Walter zu. Er hat in Windeseile seine Grießnockerl aufgegessen. Er lächelt zurück.
»Das war vorzüglich«, sagt er zu meiner Mutter und reicht ihr den Teller mit einer angedeuteten Verbeugung. Ich konstatiere: Ein Gentleman der alten Schule, bestimmt kann er auch Linkswalzer und öffnet den Damen die Autotür. Raoul konstatiert gar nichts. Er inhaliert die Suppe, als hätte er drei Wochen nichts zu essen bekommen, und scharrt mit dem Löffel im Teller, selbst als schon lange nichts mehr zu holen ist.
»Sie müssen doch wahnsinnig viel Arbeit haben als Bankdirektor«, sage ich und bemühe mich, gerade zu sitzen, um mein Dekolleté zur Geltung zu bringen. Blöderweise habe ich nicht daran gedacht, ein enges Shirt anzuziehen. Wie immer trage ich die Bluse vom Discounter, die einmal weiß war, eine Pluderhose, Turnschuhe.
»Es ist nicht ganz so schlimm«, antwortet Herr Walter. »Immerhin sind wir zu dritt. Also drei Direktoren.«
»Ach, drei Direktoren?« Ich bin erstaunt.
»Aber du bist der wichtigste«, sagt meine Mutter und stellt einen Topf mit Rindsschnitzeln auf den Tisch.
Herr Walter arrangiert die Stoffserviette auf seinem Schoß neu, eine Verlegenheitsgeste. »Elfriede, das ist zu viel der Ehre«, sagt er.
Raoul sitzt die ganze Zeit daneben wie ein Kind, dem man den Mund verboten hat.
Herr Walter lächelt. Das spornt mich an.
»Und wie ist das so, immer mit Zahlen zu hantieren?«, frage ich. Wie immer, wenn ich unter Druck stehe, fallen mir nur Gemeinplätze ein. »Ich bin ja kein Zahlenmensch, leider.«
Nun könnte er sagen: Kommen Sie doch vorbei und schauen Sie sich’s an. Nichts dergleichen. Herr Walter kaut still vor sich hin.
Dann sagt er: »Als Direktor ist man vor allem ein Manager. Da stehen nicht immer die Zahlen im Mittelpunkt. Das ist wie bei einem Zirkusdirektor. Der ist ja auch nicht derjenige, der auf dem Seil tanzt.«
Alle lachen.
»Zirkusdirektor, nein, so was!«, ruft meine Mutter. »Noch irgendwer Püree?«
Jetzt kommt mein Vorstoß.
»Sind Sie auch – ich meine: Sind Sie glücklich?«
Herr Walter legt Messer und Gabel zur Seite und sieht mich an. Man merkt ihm an, dass er um eine passende Antwort ringt.
»Mein liebes Fräulein«, sagt er schließlich. »Glück ist ein großes Wort.«
Damit bin ich nicht zufrieden. Trotzdem nicke ich und sage: »Aha.«
»Ruth, der Herr Direktor möchte in Ruhe essen«, sagt meine Mutter.
»Elfi, lass nur, deine Tochter hat Esprit«, sagt Herr Walter.
Ich fühle mich geschmeichelt. Womöglich ist Herr Walter jetzt jedes Mal beim Essen dabei, wenn wir nach Unterbruchstetten fahren, eine angenehme Vorstellung. Vielleicht kann man nach dem Essen regelmäßig spazieren gehen, auf dem Fitnesspfad etwa, der quer durch den Wald führt.
Endlich setzt sich meine Mutter zu uns, sie ist ein wenig rot im Gesicht von der Arbeit, der Küchendampf hat sich über ihre Frisur hergemacht.
»Es schmeckt sensationell«, sagt Herr Walter und lächelt sie an. »Du bist eine Großmeisterin des Verwöhnens. Mach doch ein Gasthaus auf!«
»Also, Walter, wirklich«, sagt sie, schüttelt den Kopf und lächelt, verschämt wie eine Sechzehnjährige.
»Ja, sehr gut«, stimmt nun auch Raoul in den Lobgesang ein. Der Raum ist erfüllt von positiven Menschen und positiver Energie. Wie zufällig berühre ich Herrn Walters Hand. Er zuckt zurück und sagt: »Oh, Entschuldigung«, so als sei es seine Ungeschicklichkeit gewesen.
Raoul sieht mich aufmerksam an.
»Und was machen Sie in Ihrer Freizeit so?«, frage ich Herrn Walter, ohne mich irritieren zu lassen, und er antwortet: »So unheimlich viel Freizeit habe ich leider nicht. Zum Glück sind meine Kinder schon groß.«
»Walter hat schon zwei Enkel!«, ruft meine Mutter. »Svenja und Ronja.«
»Aha«, mache ich.
Und dann geschieht es. Während sie frische Rindsschnitzel aufträgt. Herr Walter schlingt seinen rechten Arm um den Leib meiner Mutter und lässt ihn für einen Moment auf ihrer linken Pobacke ruhen. Mir fällt beinahe das Salatblatt aus dem Mund. Da läuft was. Ich kann’s nicht glauben. Raoul grinst.
»Danke, sehr gut«, sage ich und schiebe den Teller weg. Schnell aufstehen, ins Bad.
Ich höre meine Mutter hinter mir, sie keucht. »Ruth«, ruft sie. »Warte doch. Ich muss dir was erzählen.« Sie hält mich am Oberarm fest.
»Was ist da los?«, frage ich. »Was soll das? Wer ist dieser Kerl da in der Küche?«
»Nur ein Freund der Familie«, sagt sie. »Was hast du denn? Heinz spielt mit ihm Monopoly.« Sie hält mir ihre Stirn hin. »Schau doch bitte mal da drauf.« Ich sehe eine Mutterstirn. Fein ziselierte Fältchen.
»Ja, und?«
»Hier!« Sie deutet auf eine Falte zwischen den Augen. »Zornesfalte, siehst du nicht?«
»Und?«
»Der Doktor Wiesel bietet jetzt so eine Spritze an. Gegen diese Falte. Damit ist sie wie weggezaubert.«
»Eine Spritze? Das ist nicht dein Ernst.«
Sie sieht in den Spiegel und zieht ihre Stirnhaut straff.
»Man wird nicht jünger«, sagt sie. »Du auch nicht.«
Ich laufe aus dem Bad. »Raoul, wir gehen!«, rufe ich.
»Aber ihr habt noch keinen Strudel gegessen«, sagt meine Mutter.
»Wir haben einen Termin«, sage ich. »Jetzt sofort.«
Raoul kommt den Flur in seinen Bären-Hausschuhen heraufgeschlichen.
»Schade«, sagt meine Mutter.
Motorengeräusch, Bremsen auf Kies, und dann steht schon mein Vater im Flur, verschwitzt und glücklich.
Er hebt einen Teller mit einer altgriechischen Kampfszene über seinen Kopf. »Gewonnen, wir haben gewonnen! Vier Hotels auf der Kärntnerstraße.«
»Toll«, sagt Raoul. »Gratuliere.«
»Heinz, die beiden fahren schon wieder, was sagst du dazu.«
»Wirklich?« Mein Vater hatte von seinem Sieg berichten wollen, er platzt förmlich.
»Leider«, sage ich. »Wir müssen.«
»Wohin eigentlich?«, fragt Raoul.
Ich ziehe ihn am Ärmel zur Garderobe.
»Wartet«, sagt mein Vater. »Nicht so schnell, Kinder. Wie hoch werden Mammutbäume. Na, was glaubt ihr?«
»Hundert Meter«, sage ich, während ich in meine Schuhe schlüpfe.
»Bravo. Dafür sollt ihr den haben.« Er hält mir den Wandteller entgegen.
»Ganz toll, mit Neonfarbe bemalt, siehst du«, sagt er und fährt mit dem Zeigefinger über die Achilles-Figur. »Leuchtet im Dunkeln.«
»Wie wunderbar«, sage ich und bin stolz darauf, wie leicht mir eine Lüge über die Lippen geht. »Den können wir unmöglich annehmen.«
»Wollt ihr mich beleidigen?«, sagt mein Vater. Raoul nimmt den Teller aus seinen schwitzenden Händen in Empfang wie den Orden der Republik.
Auf der Rückfahrt sprechen wir kein Wort.