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Die Gesellschaft für Wiedereingliederung liegt in der Lisztstraße, Ecke Palffygasse. Sie unterstützt arbeitslose Frauen, die älter sind als fünfunddreißig und kinderlos – die ihren gesellschaftlichen Auftrag also in dreifacher Hinsicht verfehlt haben. Finanziert wird die Anstalt, wie Raoul sie nennt, nicht vom Staat, sondern von Industriellen mit sozialem Reflux. Mir ist alles recht, solange sie zahlen.

Ich mag das Wort »Wiedereingliederung«, weil es suggeriert, dass man in der Vergangenheit bereits einmal eingegliedert war. Was mich betrifft, bin ich mir da nicht so sicher. Ein abgebrochenes Medizinstudium und ein Langzeitpraktikum in einer Todesanzeigenredaktion – das ist alles, was ich an Eingliederungsbemühungen vorweisen kann.

Das Langzeitpraktikum bestand darin, an einem Schalter zu sitzen und die Daten aufzunehmen: geboren, Beruf, Familienstand, gestorben, plötzlich, unerwartet, aus dem Leben gerissen, nach langer Krankheit, nach langer schwerer Krankheit, nach kurzer schwerer Krankheit, nach tapfer ertragener langer Krankheit, nach tapfer ertragener schwerer Krankheit, nach schwerer Krankheit und voller Zuversicht, die Augen für immer geschlossen, die fleißigen Hände ruh’n. Heimgekehrt zum Schöpfer, heimgekehrt zum Vater, heimgekehrt zum Herrn, ins Licht gegangen, den irdischen Weg abgeschlossen, beendet, finito. In unseren Herzen lebst du weiter und weiter und weiter. Die paar Semester Medizin nützten nichts, um zu verstehen, woran all diese Menschen zugrunde gegangen waren.

Seit acht Monaten muss ich mich zweimal die Woche in der Gesellschaft für W. melden, wie ich sie nenne, weil ich, immer wenn ich sie betrete, mich frage, wieso, weshalb, warum ich überhaupt hier bin, und alles, was mir einfällt, ist, dass mir andernfalls die Unterstützung gestrichen würde.

Ich gehe die Przewalskistraße entlang bis zur Bertagasse. Rechter Hand der Schuster, daneben der Secondhandladen. In der Makler-Sprache: 1B-Lage. Randbezirk, passable Verkehrsanbindung. Abgewohnte Gründerzeithäuser mit zerknitterten Fassaden, dazwischen sozialistischer Gemeindebau, Wohnfestungen mit Badezimmer-Luken wie Schießscharten. Mittendrin die grellbunte Auslage des Eine-Welt-Shops, der Dritte-Welt-Shop hieß, als es noch die Dritte Welt gab. Heute wird dort der übliche Schwellenland-Ramsch angeboten, Panflöten und Makramee-Häkeltaschen, Schokolade aus einer Fabrik, die einarmige Inderinnen unterstützt. Eine Welt. Eine große Lüge, denke ich jedes Mal, wenn ich daran vorbeigehe, eine widerliche Lüge, schließlich gibt es doch alleine in unserem Wohnhaus mindestens drei Welten.

Die Gehsteige sind mit Radfahrern und Müttern verstopft, ich komme kaum vorwärts. Die Kinder sind unerträglich fröhlich. Ein Mädchen mit geflochtenem Zopf balanciert auf einer Mauer, die den Garten eines Hauses zum Gehsteig begrenzt. Sie hält die Hand ihrer Mutter krampfhaft fest und stößt von Zeit zu Zeit spitze Schreie aus. Die Mutter beobachtet sie mit einem gespannten Lächeln. Ich habe plötzlich Lust, ebenfalls auf der Mauer zu balancieren. Ich könnte einen Passanten bitten, mir die Hand zu reichen, und im selben Augenblick weiß ich, dass ich mich lächerlich machen würde, vollkommen lächerlich, lächerlich, lächerlich.

Wie jeden Montag wähle ich den Weg, der an der Magenbuch-Klinik vorbeiführt. Ich biege in die Bertagasse ein und durchquere den Kaminsky-Park. Auf Höhe des Café Kurbel kann man durch den Blättervorhang der Kastanienbäume den langgezogenen HNO-Trakt erkennen, dahinter die Kinderstation. Das Krankenhaus liegt da wie eine schlafende Schildkröte. Das erstaunt mich immer wieder: weshalb man es einem Gebäude nicht ansieht, wenn darin ausführlich gelitten wird. Ich erwarte eine flammende Hitze, die von den Mauern abstrahlt, zumindest einen rötlichen Wandausschlag.

Ich beziehe meinen Aussichtsplatz, und das ist ohne Zweifel der schönste Montagsmoment: Wenn ich mich hinter der Büste des Operettenfabrikanten Franz von Suppé verberge, denn dann bin ich nicht Ruth Amsel, dann bin ich nur noch Auge und Ohr, ein einziger Resonanzkörper des Elends, der schwingt und klingt.

Elf Minuten nach zehn. Ich zücke mein Notizbüchlein, das kaum größer ist als eine Kreditkarte, und luge über die Schulter des Komponisten in den Garten der Magenbuch-Klinik. Der Komponist wurde günstig aufgestellt, sein enormer Glatzkopf und die breiten Schultern bilden meinen Schutzwall.

Der Krankenhausgarten tut so, als sei er ein richtiger Garten, dabei ist er eine einzige Beschwichtigung und nur angelegt, um auf den Tod vorzubereiten. Buchsbaum, Immergrün, Ringelblume, Buschwindröschen: Alles, was hier wächst, ist Friedhofsgestrüpp.

In einen Krankenhausgarten hineinschauen ist wie Zukunftsfernsehen, mit den Kanälen Demenz, Arthrose, Zirrhose. Ein Greis führt seinen Infusionsständer spazieren. Er macht einen Schritt, dann zieht er das Gestell nach wie einen störrischen Hund. Dazwischen keucht er. Schritt. Keuch. Zieh. Keuch. Einige Patienten wandeln im Morgenmantel die Kieswege entlang und könnten genauso gut Kurgäste darstellen, wenn sie nicht so blass und zerzaust wären und schon nach wenigen Schritten stehen blieben.

Die Frau mit der Turmfrisur ist wieder da. Sie sitzt auf der Bank vor dem Zaun und sieht aus dem Krankenhausareal hinaus. Eine gealterte Marge Simpson, frisurentechnisch der größtmögliche Gegensatz zu Franz von Suppé. In ihrer rechten Ellenbeuge steckt ein rosafarbener Venenkatheter, mit Pflastern fixiert. Sie hält den Arm weit weg von sich, so als gehöre er schon nicht mehr zu ihr. Mit der anderen Hand kramt sie in der Tasche ihres Morgenmantels und fördert eine gelbe Zigarettenpackung zutage. Sie raucht hastig und sichtlich ohne Genuss. Nach wenigen Zügen streift sie die Asche an der untersten Holzsprosse der Bank ab, dafür beugt sie sich nach vorn. In diesem Moment löst sich der Gürtel des Mantels, und zum Vorschein kommt eine dünne fahle Brust, die auf den Bauchfalten liegt wie rohes Putenfleisch. Hinter der Frau patrouillieren zwei Krankenschwestern im hellblauen Kasack.

Die Frau bemerkt ihr Missgeschick. Sie schnippt die Zigarette durch den Zaun auf den Weg, der das Krankenhausareal vom Kaminsky-Park trennt. Sie versucht, mit der unversehrten Hand den Morgenmantel zu schließen, was nicht gelingt. Sie ruft »Schwester, Schwester!«, ohne den Kopf zu wenden. Sie ruft es aus dem Krankenhausgarten hinaus in den Kaminsky-Park hinein, und ich kauere mich rasch unter der Büste zusammen, weil ich für einen Augenblick fürchte, dass sie mich meinen könnte.

Mit den Händen stütze ich mich am Boden ab, das Gras ist feucht. Auf dem Sockel ist Franz von Suppés vollständiger Name eingraviert: Francesco Ezechiele Ermenegildo Cavaliere Suppé-Demelli, Komponist (1819 bis 1895). Ich rechne nach: Er wäre 192 Jahre alt.

Unter dem Stichwort »Turmfrisur« notiere ich: raucht Parisiennes. Ich habe lange geübt, um im Gehen, Knien und Kauern leserlich schreiben zu können. Ich verwende dazu die blauen Fineliner aus dem Cento-Markt und meine Handinnenfläche als Unterlage. Mit dem Fineliner schreibe ich Morgenmantel: altrosa und Venenkatheter: rosa. Ich stelle mir vor, dass es eine Boutique gibt im Souterrain der Klinik, die Accessoires wie Katheter, Magensonden, Kanülen, Stents und Verbände in allen RAL-Farben anbietet. Medizin-Mode, ein Hoffnungsmarkt.

Als ich mich wieder aufrichte, ist die Frau verschwunden. Der alte Mann mit dem Infusionsständer lehnt an einem Baum, die Augen geschlossen, ein Bein in der Luft, wie eingefroren in der Bewegung. Was hat er vor? Ich habe Lust, ihn zu stützen, seine Haut zu berühren unter dem Morgenmantel. Im Alter trocknet der Mensch aus, er verdorrt und verwelkt, bis schließlich alle Flüssigkeit entwichen ist. Ich stelle mir vor, dass seine Papierhaut knistert. Ein verhaltenes Knistern, wie wenn eine Katze über Seidenpapier läuft.

Ich notiere: Infusion, gelbtrübe Flüssigkeit. Und: womöglich kataleptisch. In der Katalepsie wird eine Körperhaltung unnatürlich lange beibehalten. Ich schreibe: mit Sicherheit bresthaft. Je älter die Patienten, desto altertümlicher die Eigenschaftswörter. Gerne verwende ich auch die Bezeichnung multimorbid. Bei einem Multimorbiden gehen die Leiden nahtlos ineinander über, bis man nicht mehr unterscheiden kann, was Originalsymptom ist und was Nebenwirkung der Therapie.

Mit seinem heiteren Operettenfabrikantenblick arbeitet Franz von Suppé beständig gegen die Melodie des Verfalls, die vom Krankenhausgarten in den Kaminsky-Park herüberschwappt. Eine erschöpfende Tätigkeit, die er mit unerschütterlicher Eleganz meistert: Herr Franz trägt einen Frack mit Frackweste, darunter ein Hemd mit Vatermörderkragen. Ich tätschle ihm zum Abschied den Torso dort, wo bei lebendigen Menschen der Arm befestigt ist. Er fühlt sich warm an. Und ich fühle mich deutlich besser – wie immer, wenn mein Leidenskonto mit fremder Währung aufgefüllt ist.

Der Kaminsky-Park mündet in der Lisztstraße. Die Lisztstraße wollte einmal Allee sein, doch die Bäume sind einer nach dem anderen eingegangen, eine Baumepidemie hatte sie hinweggerafft. Eine Zeitlang standen faulende Stümpfe rechts und links der Straße, bis die Stadtgärtnerei Erbarmen hatte und auch die Stümpfe entfernte. Jetzt erinnern nur noch Erdquadrate daran, dass in der Lisztstraße einmal Bäume wuchsen. Es scheint, als ob alle Hunde des Viertels gern in der Lisztstraße spazieren gingen. Sie können hier ganz elegant ihr Geschäft erledigen, ohne dass sich ihre Besitzer genötigt fühlen, die Exkremente aufzusammeln.

Seit der Baumepidemie riecht es streng in der Lisztstraße, ein Gestank, der so gar nicht zum feinsinnigen Komponisten passt. Zum Glück liegt die Straße in der Nähe des Kaminsky-Parks und damit nicht weit von der Büste des Komponistenkollegen Franz von Suppé entfernt. Beide waren nicht nur Zeitgenossen, sie sind heute auch Leidensgenossen und tragen eine Bürde, die ihrer nicht würdig ist: der eine Franz den Krankenhausgarten, der andere Franz den Hundekot.

Ich setze mich auf eine Bank zwischen den Erdquadraten, um über die posthumen Wendungen des Schicksals nachzudenken. Höchstwahrscheinlich ist es einem toten Komponisten zuzutrauen, mit profanen Zumutungen wie Hundewurst und menschlichem Verfall zurechtzukommen, doch ich bin davon überzeugt, dass ein wenig mehr Respekt keinesfalls schaden könnte.

Ein Junge und ein Mädchen führen einen Mops an der Leine spazieren. Der Hund bildet die Vorhut, in angemessener Entfernung schreiten die Kinder hinterher, denen so gar nichts Kindliches anhaftet. Geschrumpfte Erwachsene, die den Spaziergang mit dem Hund über Gebühr ernst nehmen. Ich hatte vor, mit ihnen zu schimpfen, falls der Mops sich erdreistet, sein Geschäft in der Lisztstraße zu erledigen, doch nun lässt mich ihr arroganter Blick zusammenzucken. Als der Hund an der Bank vorbeitrottet, schnuppert er an meiner Wade.

»Renzo, pfui«, ruft das Mädchen und zieht kräftig an der Leine. Durch den Rückprall öffnet sich sein Maul und entblößt zwei Reihen perfekt zugespitzter Zähnchen. Renzo sieht mich ebenso erstaunt an wie ich ihn. Dabei hätte er mich gern beschnuppern können, von mir aus auch von Kopf bis Fuß. Aber vielleicht hat das Mädchen recht, und ich bin wirklich pfui. Womöglich stelle ich die größere Beleidigung für Franz Liszt dar, und nicht die Hundewurst.

An der Lisztstraße, Ecke Weberstraße, bleibe ich vor der Auslage der Boutique Monique stehen. Ich habe Stoffhunger, möchte Seide, Kaschmir, Viskose zwischen den Fingern fühlen. Zwei Schaufensterpuppen mit spitzem Busen und ultraschlanker Taille präsentieren die neue Herbstmode in Grau- und Beigetönen. Die Puppen sind so dünn, dass die Kleider am Rücken mit Sicherheitsnadeln enger geheftet werden müssen. Sie sehen ebenso arrogant drein wie die Lisztstraßen-Kinder.

Ich habe schon lange keine neue Kleidung mehr gekauft. Wenn ich vom Geld der Gesellschaft für W. etwas abzweige, dann nur, um im Textildiscounter einen Polyester-Fetzen aus der Wühlkiste zu fischen. Dass er aller Wahrscheinlichkeit nach von ausgebeuteten Frauen genäht wurde, irritiert mich, aber nur kurz. Das schlechte Gewissen wäscht sich bei dreißig Grad heraus.

Als ich das Geschäft betrete, würdigt mich die Verkäuferin keines Blickes. »Kann ich Ihnen helfen«, sagt sie irgendwann, und es klingt so, als glaube sie nicht daran. Sie kaut Kaugummi.

Die Boutique Monique hat die Form ein Schlauchs. Die Kleidungsstücke sind nach Farben und Schnitt geordnet. Ich blättere eine Stange mit T-Shirts durch, die mir seltsam eng und klein erscheinen. Die Verkäuferin beobachtet mich mit einem spöttischen Lächeln. Ein Blick auf das Etikett offenbart, dass ich mich in die Kinderabteilung verirrt habe.

Ich schlendere unauffällig ans hintere Ende des Ladens. Dort bin ich nicht allein. Eine Frau betrachtet sich im Spiegel, während sie ein weißes Shirt nach dem anderen vor ihren Oberkörper hält. Nach dem dritten Shirt erkenne ich sie. Es ist Linda Wegrostek. Befriedigt nehme ich zur Kenntnis, dass sie gute fünfzehn Kilo zugelegt hat, die sich ausschließlich in der unteren Körperhälfte angesammelt haben. Ab dem Nabel abwärts wirkt sie grotesk unförmig, ihr Oberkörper mit den kleinen Brüsten hingegen ist zart wie eh und je. Ein Zwitterwesen, an dem jeder Bauch-Beine-Po-Instruktor verzweifeln muss.

Sie tut so, als freute sie sich, und ich tue ebenso. Wir umarmen uns, ihre Wangen sind kühl. Sie erzählt von zwei Kindern, acht und zehn, die beide die Waldorfschule besuchen und später »irgendwas mit Kunst« machen werden. Ihr Mann sei im internationalen Management, er berate Multis, sagt sie, und sie spricht es mit einem lächerlichen französischen Akzent aus. Mülti, sagt sie.

»Und du?«, fragt sie. »Was ist mit dir?«

Sie legt ihren Arm um meine Schulter. »Ich freu mich wirklich ganz unglaublich, dich zu sehen«, sagt sie. Betonung auf ganz.

Diese Zutraulichkeiten kenne ich von Linda nicht, die haben sich offenbar erst im Laufe ihres Erwachsenenlebens ausgebildet. Linda gehörte zur Selma-Bande. Sie war die erste in der Klasse, die einen Freund hatte, und trug täglich frische Designerkleidung. Ich bat den lieben Gott, er möge mich endlich meinen wahren Eltern zuführen, damit ich es mit Linda aufnehmen könne. Bestimmt war ich bei der Geburt vertauscht worden, und meine richtige Familie, stinkreiche Industrielle, hatte in all den Jahren nicht aufgehört, nach mir zu suchen.

»Ich arbeite auch für einen Multi«, sage ich.

»Ah ja?« Interessiert legt Linda den Kopf schief.

»Darf ich wissen …«

Ich erinnere mich an Raouls Einkaufsliste, an Toilettenpapier, Spülmaschinentabs, Löskaffee und antworte spontan: »Nestlé. Marketing. Also: Marketingberatung. International.«

»International, klar.« Sie weicht ein wenig zurück. Damit sie nicht weiter in mich dringen kann, muss ich dem Gespräch eine dramatische Wendung geben.

»Die Pollak ist gestorben, wusstest du das«, sage ich.

Frau Professor Pollak war die einzige Lehrerin, die wir alle vorbehaltlos liebten, ein Ausbund an Geduld und Mitgefühl. Dass sie tot sein soll, ist reine Erfindung. Ich habe nie wieder etwas von Frau Professor Pollak gehört, wahrscheinlich genießt sie ihre Rente auf den Cayman Islands mit jeder Menge Eingeborenensex und Mango-Limetten-Cocktails.

Linda aber glaubt mir. Sie verzieht ihr Gesicht, tritt einen Schritt zurück und hält sich erschrocken ein weißes Longshirt vor den Mund.

»Was. Wie –«

»Ein Bergunfall«, sage ich düster. »In der Schweiz.«

»Wie schrecklich«, flüstert Linda. Sie sieht tatsächlich entsetzt aus, ihre Traurigkeit steckt mich an, und ich spüre, wie sich meine Augen mit Tränen füllen, beinahe glaube ich bereits meine eigenen Lügen.

»Sie hat das Gipfelkreuz noch erreicht, beim Abstieg ist sie in eine Felsspalte gefallen«, sage ich. »Angeblich hat sie dabei noch die Namen einiger Schüler gerufen«, sage ich und weiß gleichzeitig, dass ich den Bogen überspanne.

Lindas Stimme zittert. »Welche Namen?«, flüstert sie.

Ich rufe im Geist die Namen unserer Mitschüler auf. Kloiber, Magomeschnig, Sammer, Weihs, Perlinger. Wenn, dann müssen es kurze Namen sein, denn so tief kann eine Gletscherspalte nicht sein, nicht einmal in der Schweiz.

»Weihs und Sammer«, sage ich. »Der Bergkamerad will aber noch einen weiteren Namen gehört haben. ›Wegro-‹, soll sie gerufen haben. ›Wegro-‹, und dann nichts mehr.«

»Oh mein Gott, sie hat nach mir gerufen«, flüstert Linda. »Nach mir.«

Ihr Gesicht ist verzerrt. Ich nicke und seufze. Plötzlich steht die Verkäuferin neben uns und nimmt Linda das Shirt aus der Hand.

»Sehen Sie, was Sie gemacht haben«, schimpft sie. »Überall Lippenstift! Das müssen Sie jetzt bezahlen.«

Linda starrt die Verkäuferin mit offenem Mund an.

»Das wird schon«, sage ich und tätschle Lindas Arm. »Nestlé ruft, ich muss weiter.«

Ich verlasse die Boutique, ohne zu grüßen.