12
Ich muss wohl eingenickt sein, denn als sich etwas Spitzes in mein Schulterblatt bohrt, schrecke ich hoch. Eine Waffe? Ich drehe mich um und stelle mit Erleichterung fest, dass es sich um eine Tasche handelt. Eine Lacktasche mit scharfkantig abgenähten Rändern, und sie hängt in der Armbeuge einer alten Frau. Die Frau ist mindestens neunzig Jahre alt, in den Furchen ihres Gesichts hat sich der Staub aus mehreren Kriegen eingelagert. Gebeugt steht sie da und hält sich an der Lehne meines Sitzes fest. Rücken und Unterkörper bilden beinahe einen rechten Winkel, ihr Kopf ist an einem dürren Hals befestigt und ragt aus ihrem Blusenpanzer hervor wie der Schädel einer Schildkröte. Wann immer die Straßenbahn bremst, bohrt sich ihre Tasche in meine Schulter.
Die Alte erwidert meinen Blick mit einem missbilligenden Kopfschütteln, und ich frage mich, ob ich mir etwas habe zuschulden kommen lassen. Mit einem Mal weiß ich es: Sie fordert ihr Recht auf einen Sitzplatz ein. Du sitzt und sie steht – ein Skandal. Ich habe den Gedanken noch nicht zu Ende geführt, da springe ich schon auf und gebe meinen Platz frei. Als ich zufällig aus dem Fenster sehe, merke ich, dass ich ohnehin aussteigen muss, und dränge zur Tür. Aus dem Augenwinkel kann ich erkennen, dass die alte Frau immer noch steht. Weshalb setzt sie sich nicht?
Die Straßenbahn hält vor dem Anatomie-Institut der Medizinischen Universität mit seiner pathologischen Fassade: abblätternde Farbe, trauriger Stuck, blinde Fenster. Ich biege in die Wotangasse ein und erwarte einen modernen Bürokomplex mit Glasfassade, doch die Nummer 17 ist ein in die Jahre gekommenes Wohnhaus, das aussieht, als würde es von den Nachbarhäusern gestützt.
Ich lese die Namen an der Gegensprechanlage.
Maja Preblauer / Coaching ist eingezwängt zwischen Kallinger und Böck. Ich läute kurz, so wie man es macht, wenn man eigentlich nicht stören will. Es ist halb sechs. Vom Arbeitspensum einer Existenzberaterin habe ich keinen blassen Schimmer. Stille. Ich halte mein Ohr an die Gegensprechanlage, aber da ist nichts, kein Ton. Ich läute noch einmal, diesmal mit Nachdruck.
Mit einem Mal wird die Tür von innen geöffnet, ein Mann im leichten Sommermantel hält die Tür auf. »Möchten Sie hinein?«
Ich zögere, was habe ich im Haus verloren, wenn Maja nicht da ist? Doch ich beschließe, drinnen auf sie zu warten und mich gleich ein wenig umzusehen.
Der Hausflur ist eng und dunkel. Es riecht nach Hund. An den Türen hängen Kränze aus verwelkten Blüten, vor den Schwellen liegen verfilzte Matten. Alles wirkt nachlässig, an der Grenze zum Schäbigen. Dieses Haus sieht Maja nicht ähnlich.
Im zweiten Stock versperrt ein voluminöser Kinderwagen den Weg. Der Wagen steht vor einer sperrangelweit geöffneten Tür. Ich erahne den Schnitt der Wohnung: ein Flur, von dem alle Zimmer abgehen. Erste Tür rechts bestimmt die Toilette, dann das Bad, geradeaus das Wohnzimmer, ich sehe den Zipfel eines grauen Langflorteppichs, das Eck einer Wohnwand, den Rücken einer jungen Frau, die einen Einkaufskorb abstellt.
Ich versuche, den Kinderwagen ein wenig beiseite zu schieben, doch er lässt sich nicht bewegen, die Bremsen sind arretiert. Ich werfe einen Blick hinein und erwarte ein schlafendes Baby vorzufinden, so still ist es im Stiegenhaus, doch das Kind sitzt aufrecht im Wagen und mustert mich. Obwohl wir Ende August haben, ist es vermummt wie im Dezember. Es trägt eine Mütze, eine Daunenjacke und Fäustlinge. Seine Wangen sind dunkelrot und glänzen, bestimmt schwitzt es. Ein Anblick, der mir Unbehagen bereitet, am liebsten würde ich es sofort ausziehen, ihm die Mütze herunterstreifen, es von den Fäustlingen befreien. Weil das nicht geht, lächle ich das Baby an. Es lächelt zurück.
»Psst!«, mache ich und versuche, mich an der Wand entlang am Wagen vorbeizuschieben, doch der Zwischenraum ist lächerlich, viel zu schmal für eine Frau mit meiner Konfektionsgröße. Wir sind uns jetzt sehr nahe, das Kind und ich, es folgt aufmerksam jeder meiner Bewegungen. Ich fühle mich durchschaut.
Gerade, als ich merke, dass ich eingeklemmt bin, stürzt die Frau aus der Wohnung. »Einen Moment, ich befreie Sie!«, ruft sie und lacht, entriegelt die Bremse mit einem geübten Tritt auf ein verstecktes Pedal und rollt den Wagen zurück.
Ich sage: »Sie haben eine wunderbare Tochter«, und sie fühlt sich geschmeichelt, so als sei das Kind ein verlängerter Körperteil von ihr.
Sie ist bestimmt etliche Jahre jünger als ich, ihr Gesicht ist prall, ihre Haut makellos. Sie sieht aus wie eine französische Filmschauspielerin, deren Name mir stets entfällt. Francoise, Nicole, Marie – egal, ich bin wegen Maja hier, erinnere ich mich und gehe zu der Treppe, die hinaufführt.
»Bitte warten Sie einen Moment!«
Ich drehe mich um, sie winkt.
»Können Sie mir einen Gefallen tun?« Sie müsse Mineralwasserflaschen aus dem Auto herauftragen, sagt sie. Es dauere keine Minute, ob ich währenddessen auf Fanny aufpassen könne?
Fanny. Ich betrachte das Baby und denke: Ja. Sie sieht tatsächlich aus wie eine Fanny.
»Natürlich«, sage ich. »Gerne. Wir haben uns ja schon kennengelernt.«
Fanny lacht wie zur Bestätigung.
Schon läuft die Frau die Treppen hinunter, und ich bleibe unschlüssig neben dem Kinderwagen stehen.
»Na, du«, sage ich.
Das Baby lacht und zeigt mir zwei schneeweiße Schneidezähne. Das ermutigt mich, ich streichle über seine Backen. Heiße Haut, frisch aus der Produktion. Und dann überlege ich nicht lange, es ist wie ein Reflex, und ich streife Fanny die Strickmütze vom Kopf. Im selben Moment brüllt sie los, so als risse ich ihr die wenigen blonden Haare einzeln aus. Erschrocken stülpe ich ihr die Mütze wieder über den Kopf, doch es ist zu spät, der Schalter ist umgelegt. Ihre Ärmchen zittern, aus ihren Augen kullern Tränen, sie wendet ihr Gesicht von mir ab und der Wand zu, so als erhoffe sie sich von dort Rettung.
Ihre Mutter muss gleich zurückkommen, sie wird entsetzt sein über mein Unvermögen, ihr Kind einen Augenblick lang zu hüten. Ich versuche es mit einem alten Trick, verberge mein Gesicht hinter meinen Händen, ziehe sie dann ruckartig weg und rufe »Guckguck!«, Fanny verstummt tatsächlich für die Dauer eines Atemzugs, doch sie holt nur Luft, um sogleich mit größerer Vehemenz weiterzubrüllen.
Ich müsste abhauen, einfach auf dem Absatz kehrtmachen und die Treppen hinunterlaufen, hinaus aus diesem Haus, doch dann höre ich Schritte und nehme wieder Aufstellung neben dem Kinderwagen. Fanny ist glühend rot im Gesicht, aus ihr spricht das ganze Elend der Existenz. Ich lehne mich an die Wand, ratlos, und betrachte das Baby und das kahle Stiegenhaus, und dann macht es plopp, und ich sehe mich plötzlich mit einem Baby die Wotangasse entlangspazieren. Mit meinem Baby. Mein Baby, das gluckst, sobald ich mich über es beuge, und das mir die Ärmchen entgegenstreckt, das ich hochnehme, das sich in meine Halskuhle kuschelt, warm und weich, das nach Milch riecht und nach frischer Hoffnung. Schon füllen sich meine Augen mit Tränen. Alles in mir ist eine einzige ungestillte Sehnsucht, und ich zwinge mich, die Tränen hinunterzuschlucken und an etwas anderes zu denken, an die Wurststückchen im Jasminstrauch der Eberweins, an Samsons Rinderfilets, an Lindas dummes Gesicht in der Boutique Monique, aber es hat keinen Sinn, es ist, als stürze eine Mauer ein. Und dann weinen wir beide, ein gut aufeinander abgestimmtes Duo der Enttäuschungen, und im Stiegenhaus verlöscht das Licht, als schäme es sich für uns.
Ich weiß nicht, wie lange sie schon vor mir stand, jedenfalls spüre ich mit einem Mal eine Hand auf meiner Schulter, und eine warme Stimme sagt: »Es wird alles gut, alles wird gut.«
Ich öffne die Augen und blicke in das freundliche Gesicht der jungen Frau. Das Baby muss sich schon vor einiger Zeit beruhigt haben, von Tränen keine Spur.
»Jetzt kommen Sie erst einmal mit hinein«, sagt die junge Frau. Sie stellt die Mineralwasserflaschen ab, hebt ihr Baby aus dem Wagen und trägt es in die Wohnung. Ich folge ihr wie hypnotisiert und bin froh, dass sie mir sagt, was ich tun soll.
An den Wänden im Flur hängen Poster hinter Glas. Schwarze Katzen auf weißen Mauern, Meer, Himmel. Alles wirkt aufgeräumt und geordnet. Die Frau bittet mich in ihre Wohnküche. Sie setzt Fanny in den Hochstuhl und deutet auf die Sitzecke.
»Ich mache uns Kaffee«, sagt sie, und ich freue mich, dass sie nicht entsetzt ist über meinen Auftritt, sondern mich voller Fürsorge behandelt, fast wie ein zweites Kind.
»Zucker, Milch?«, fragt sie und lacht: »Ich bin übrigens Simone.«
»Ich heiße Ruth.«
Sie nickt und sagt: »Ruth, was für ein schöner Name.«
»Das höre ich nicht oft«, sage ich, und sie sagt: »Ruth bedeutet Freundschaft, kann es einen schöneren Vornamen geben?«
Sie setzt sich zu mir. »Das hast du übrigens gut gemacht mit Fanny, das muss man dir lassen«, und dann lachen wir alle drei, sogar Fanny gluckst und klopft mit ihren Händchen auf den Tisch.
Ich fühle mich aufgehoben und beschützt, sehe dieser jungen Frau zu, die mit größter Selbstverständlichkeit in ihrer Küche hantiert, und frage mich, ob sie mit derselben Selbstverständlichkeit ihr Leben ordnet, sogar den Kaffee rührt sie zugleich elegant und entschieden um.
»Wohnst du hier im Haus?«, fragt Simone.
»Ich bin nur auf Besuch«, antworte ich, und dann fällt mir wieder ein, weshalb ich überhaupt hier bin, und ich frage sie, ob sie eine Frau Preblauer kenne, die kürzlich im Haus ein Büro für Gründerberatung eröffnet habe.
Simone überlegt. »Die hübsche Dunkelhaarige aus dem dritten Stock mit diesem –?« Sie hält die Handflächen an ihre Ohren.
»Bob«, sage ich.
»Sie scheint nett zu sein«, sagt Simone.
Simone sieht nicht aus, als interessiere sie sich für Gründerberatung. Ich vermute, dass sie ein Studium abgebrochen hat, irgendwas Philanthropisches, Psychologie oder Pädagogik.
»Was machst du so im Leben?«, frage ich.
Simone zeigt auf Fanny: »Darf ich vorstellen? Mein Beruf.«
Sie lacht.
»Und davor?«
»Davor? Davor habe ich mich auf das Kind vorbereitet. Mein Leben lang habe ich mich auf dieses Kind vorbereitet. Klingt verrückt, ich weiß.«
»Klingt gar nicht verrückt«, höre ich mich sagen. Und dass ich mich doch auch selbst auf ein Kind vorbereite, lange schon, und dass irgendwas an meiner Vorbereitung falsch sein müsse, schließlich hätte ich bis heute kein Kind, auch wenn es fast einmal soweit gewesen wäre. Ich lache, doch es ist ein zerbrochenes Lachen. Simone nickt, fährt sich durch das Haar und mustert mich, als suche sie nach verborgenen oder verschleppten Krankheiten.
»Komm mit«, sagt sie plötzlich und hebt Fanny aus dem Kinderstuhl.
Ich folge den beiden ins Wohnzimmer, in einen Raum, der offensichtlich als Wohnhöhle dient. Überall sind Tagesdecken und Kuscheldecken ausgelegt, sogar auf dem Langflorteppich. Simone legt Fanny bäuchlings auf eine babyblaue Decke und setzt sich daneben auf den Boden.
Sie sieht zu mir hoch. »Das ist mein Geschenk an dich«, sagt sie. »Sieh genau hin.« Sie arrangiert ihre Beine zu einer Art Knoten und legt ihre Hände mit den Handflächen nach oben auf ihre Knie. So bleibt sie sitzen, unbeweglich, und auch Fanny ist still und betrachtet die Fäden des Teppichs.
Ich sehe genau hin, komme aber nicht dahinter, was sie meint. Simones Augen sind geschlossen, ihre Gesichtszüge entspannt. Ich taste unvermittelt nach dem Stofftaschentuch in meiner Hosentasche. Alles noch da. Vielleicht sollte ich mich rasch verabschieden, der Friede in dieser Wohnung ist kaum zu ertragen.
Simone aber öffnet bereits die Augen und klopft mit der Hand auf den Teppich.
»Setz dich«, sagt sie, »jetzt bist du dran.«
»Womit?«
Ich knie mich umständlich auf den Boden und Simone sagt: »Sehr gut.« Es will mir nicht gelingen, meine Beine so zu verknoten wie sie, also begnüge ich mich mit dem Schneidersitz.
»Ich zeige dir die Glücksatmung«, sagt Simone. Sie sitzt kerzengerade da, wie mit der Wasserwaage austariert. »Das geht so: Du atmest ein, ganz bewusst. Stell dir vor, dass du Schmerz einatmest.«
»Schmerz? Welchen Schmerz?«
»Den der anderen. Den Schmerz eines Freundes oder einer Bekannten, ganz gleich. Du kannst, wenn du willst, auch den Schmerz der ganzen Welt einatmen, aber das rate ich dir nicht. Als Anfängerin solltest du dich auf einfache Dinge konzentrieren. Alles klar?« Sie blickt auf meinen Bauch.
»Tief einatmen«, sagt sie. »So ist es gut. Entscheide nun, an wen du denken möchtest.«
Ich fühle dieselbe Schwere in der Herzgegend wie vorhin auf dem Gang, als ich auf Fanny aufpassen musste. So als läge eine Metallplatte auf meiner Brust, ich muss gegen diese Platte atmen, die alles niederdrückt, und als ich fast platze, sagt Simone: »Und beim Ausatmen atmen wir Glück in jene Person, deren Schmerz du vorhin eingeatmet hast – und gleichzeitig hin zu allen, die dasselbe Schicksal erleiden.«
Ich lasse die Welt außen vor, ich denke nur an mich, mich, mich, und Simone sagt, die Atmung heiße Tonglen, und Tonglen sei das Leben und weitere Dinge dieser Art. Das sei alles, was ich wisse müsse, sagt sie, und ich freue mich, dass es so einfach ist. Ein und aus. Wobei ich mir unter Glück nicht das Geringste vorstellen kann. Ich kenne das Nicht-Unglück, das vorsichtige Balancieren an der Kante, kurze Momente des Friedens. Als könne sie meine Gedanken lesen, sagt Simone, dass Glück nicht fassbar sei, ich solle mir vielmehr eine Situation in Erinnerung rufen, in der ich mich ohne Einschränkung wohl und eins mit mir selbst gefühlt hätte. Ich suche nach dieser Erinnerung, wie man einen abgelegenen Ort auf einer Landkarte sucht, und steuere bekannte Bezugspunkte an – einen Berg, eine größere Stadt, eine Autobahn.
Und mit einem Mal sitzt Raoul mir gegenüber, er lächelt mich an, ich sehe mich um, wir sind in einem chinesischen Restaurant, Lu Chang steht in gewundenen Lettern auf der Speisekarte, rote Lampions baumeln von der Decke, es ist Winter, draußen liegt Schnee, der Raum ist überheizt. Zwischen uns schwimmt eine Ente in süß-saurer Sauce, wir haben sie noch nicht angerührt, dafür legt Raoul meine Hand vorsichtig in seine. Obwohl ich erst hungrig war, fühle ich mich schon gesättigt und möchte meinen Kopf auf den Tisch legen, so müde bin ich plötzlich. Wäre die Ente nicht gewesen, hätte ich es auch getan.
Ich solle mich nicht anstellen, hatte der Arzt am Vortag gesagt, als das Urteil feststand: Die Schwangerschaft ist beendet. Keine Katastrophe, hatte er gesagt, die Natur sortiere eben manchmal Unbrauchbares aus, die Guten ins Töpfchen, die Schlechten – na, Sie wissen schon, Frau Amsel. Froh solle ich sein. Froh und glücklich, dass alles so glimpflich verlaufen sei. Er hatte tatsächlich »Unbrauchbares« gesagt, so als hätte ich versucht, ein Kernkraftwerk aus Seidenpapier zu basteln, als hätte ich mir etwas vollkommen Absurdes angemaßt, von dem von vornherein feststand, dass es schief gehen musste.
Die Diplome an den Wänden verliehen ihm die Autorität, über meinen Körper zu urteilen, ihm ein Nichtgenügend zu verpassen, nicht zufriedenstellend, kein Aufstieg in die nächsthöhere Klasse.
Hinter dem Vorhang zog ich meinen unfähigen Körper wieder an, ich bedeckte ihn mit jenen Textilien, die ich zuvor dort zurückgelassen hatte, und wischte meine Tränen in den Vorhangstoff, in den dünnen, beinahe transparenten Volant mit seinen verlogenen Blümchen, ich fragte mich, wie viele Frauen schon in den Stoff geweint hatten, er musste doch mittlerweile tränengesättigt sein.
Im Chinarestaurant ist es klebrig warm, eine Höhle, ausgekleidet mit schweren Stoffen, selbst die Kellner tragen Uniformen, die an Tapisserien erinnern. Wir sprechen kaum, aber Raoul besetzt meine gesamte Wahrnehmung, als hätte er sich ausgedehnt in alle Richtungen, wie ein Marshmallow, das man ins Wasser tunkt.
Es ist ein kein Glück, das ich fühle, doch es ist auch kein Unglück, es ist etwas anderes, Schwereloses. Wir trinken Reiswein, bis die Tapisserien an der Wand vor meinen Augen zu einem blutroten See zerfließen. Raoul umfasst mit seiner Hand meinen Ellenbogen, ein fester, dennoch sanfter Griff, und ich schließe die Augen. Wieso muss dem Glück immer ein Schmerz vorangehen, denke ich, und als Raoul fragt: »Wie geht es dir, Ruth«, bin ich irritiert, mit seiner Stimme ist etwas nicht in Ordnung, vielleicht ist es der Reiswein, vielleicht hat er sich vorhin erkältet, als wir durch den Schnee zum Restaurant gestapft sind.
Und dann öffne ich die Augen, und da sitzt diese Frau neben mir, die aussieht wie eine französische Schauspielerin, und blickt mich aus grauen Augen an, und es ist ihr Arm, der meinen Arm umfasst. Ich brauche einen Moment, um zu mir zu kommen: Da liegt dieses Baby auf der Decke und tut es seiner Mutter gleich, vier Augen, die auf mich gerichtet sind, und dann ist alles wieder da. Maja, die Kontaktlinse, die Wotangasse.
»Ich muss gehen«, sage ich und beeile mich aufzustehen, und Simone sagt: »Alles in Ordnung?«
»Danke für die Übung«, sage ich.
»Das ist immer schon in dir gewesen«, sagt Simone. »Alles Wissen war immer schon in dir.«
Simone begleitet mich zur Tür und hält mich dabei am Arm fest, als sei ich gebrechlich, und ich habe tatsächlich Lust, mich mit meinem ganzen Gewicht auf sie zu stützen und dorthin zu gehen, wohin sie geht.
»Wir freuen uns über deinen Besuch«, sagt sie, »du bist jederzeit willkommen.«
Ich nicke.
Sie sagt: »Ich meine das ernst, Ruth«, und ich will sagen, dass auch mein Nicken ernstgemeint war, aber etwas hindert mich am Sprechen, ich winke nur unbeholfen.
Das Ganglicht schmerzt in den Augen. Mit Leichtigkeit könnte ich nun am ordnungsgemäß geparkten Kinderwagen vorbei in den dritten Stock steigen und bei Preblauer / Coaching läuten, doch es ist, als zöge mich jemand an einer unsichtbaren Schnur die Treppen hinunter.
Die Wotangasse ist voller hoffnungsfroher Studenten, die ihre Skripte unterm Arm tragen, und ich reihe mich ein in den Strom, als sei ich eine von ihnen.