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Der Raum D1010 liegt hinter dem Gang der Langzeitarbeitslosen. Ein stickiger Raum mit niedrigen Decken und abblätternder Rosentapete. Wir stehen im Kreis und halten uns an den Händen wie Kindergartenkinder. Neben mir Maggie, ihre kleine Hand ist klebrig, nur mit Mühe kann ich meinen Ekel unterdrücken. An meiner rechten Hand hängt Olaf, der eine massive Essstörung überwunden zu haben scheint. Er ist dünn und langgliedrig wie ein Weberknecht. Sobald der Trainer sich abwendet, beißt er in ein gigantisches Salami-Baguette, das er in seinem Rucksack versteckt. Der Kurs nennt sich »Existenzgründer I«, und in der Tat sieht kaum einer in der Runde aus, als hätte er zuvor eine Existenz geführt, über die zu sprechen es sich lohnen würde.

Drei Schritte in die Mitte, alle Hände hoch und ein lautes: »Wir schaffen es!« Ich schreie nicht mit, ich bewege nur die Lippen, die anderen sind meine Synchronsprecher. Das gefällt mir. Ich möchte ein Synchron-Leben beantragen, das muss doch möglich sein. Ich darf nicht vergessen, Herrn Othmar nach dem Formular zu fragen. Jetzt, wo ich nichts mehr zu verlieren habe, kümmert mich nicht, was er von mir hält. Ich fühle mich abgetrennt von allem. Nicht der kleinste Faden, der mich mit den anderen im Raum verbindet.

In der Mitte des Kreises hat eine massige Endvierzigerin mit Hornbrille und Palästinensertuch Aufstellung genommen. Der Typ Frau, der sich immer freiwillig meldet. Der Trainer, sichtlich gelangweilt, fordert sie auf, ihre Geschäftsidee in einem Satz zu formulieren.

»Ich will –«, sagt die Frau.

»Nicht: Ich will. Ich werde«, unterbricht sie der Trainer. »Mit unseren Worten schaffen wir Wirklichkeit. Etwas zu wollen, ist nicht schwierig. Etwas zu tun, darum geht es hier. Das ist die Herausforderung.«

»Ich werde –«

»Ja?« Der Trainer krault seinen Fünftagebart.

»Ich werde anderen dabei helfen, erfolgreich zu sein.«

Die Frau nestelt an ihrem Tuch. Ihre Hose ist sehr eng. Alles an ihr platzt aus den Nähten.

Der Trainer klatscht in die Hände und sieht in die Runde.

»Nun, was halten wir davon?«

Betretenes Schweigen.

»Wie wollen Sie das erreichen, Frau –«

»Winter«, sagt sie.

»Frau Winter«, wiederholt er und blättert in seinen Unterlagen. »Ah, da haben wir Sie schon.«

Ich beobachte die Szene, unbeteiligt und nicht ohne Schadenfreude, während Olaf verschämt in sein Baguette beißt.

Seit zwei Tagen habe ich kaum etwas gegessen, einen Toast im Café Kurbel auf dem Weg ins Krankenhaus, ein Croissant auf dem Weg zur Gesellschaft für Wiedereingliederung, einen einsamen Joghurt, den ich im Kühlschrank gefunden hatte, das Ablaufdatum kaum überschritten.

Frau Winter erklärt, sie werde sich als eine Art Hebamme für Diplomanden nützlich machen, sie werde Studenten dabei helfen, ihr Studium abzuschließen. Es gebe da eine Krankheit, die mit der Unfähigkeit zusammenhänge, große Projekte abzuschließen, Atelophobie, und der Trainer fragt: »Davon wollen Sie leben? Wie stellen Sie sich das vor?«

Sie brauche nicht viel, sagt sie, außerdem entstünden durch die Unternehmensgründung keine Kosten, sie könne zu Hause arbeiten, im Wohnzimmer, sie habe ihr Büro auf den Knien, sagt sie, und alle lachen. Ein Büro auf den Knien!

Vorerst gehe es aber nicht um die Kosten, vorerst gehe es um den USP, sagt der Trainer und ritzt mit dem Finger die Buchstaben in die Luft. Unique Selling Proposition. Das Alleinstellungsmerkmal. Was sie denn von anderen Schreibkräften unterscheide, weshalb um alles in der Welt man sie buchen solle und nicht Lieschen Müller, was ihre Leistung einzigartig mache. Das alles will der Trainer wissen.

Frau Winter zuckt mit den Schultern, sie weiß nicht, was sie einzigartig macht oder warum man sie buchen soll. Die anderen wissen es auch nicht, also trottet sie zurück an ihren Platz.

Als der Trainer mich aufruft, bin ich zu meiner Überraschung ganz ruhig. Ich stelle mich in die Mitte des Kreises, ein Opferlamm, das der Meute den Hals darbietet, und als sich alle an mir festgestarrt haben, sage ich: »Ich weiß nicht, wie man erfolgreich wird, aber mit dem Gegenteil kenn ich mich aus. Ich werde ein Coach für Versager.«

Bleierne Stille. Bis eine herausprustet, es ist die Kleine mit den feuchten Händen. Dann lachen sie alle, bis auf den Trainer, der das Lachen mit einer radikalen Bewegung seiner Hand auslöscht.

»Wir sind nicht beim Kabarett, Frau Amsel«, sagt er. »Sie müssen uns nicht unterhalten.«

Ich mustere ihn, die dunklen Augen, die buschigen Augenbrauen, die randlose Brille. Ich fühle mich nicht gut, etwas stimmt nicht mit mir, ich lege meine rechte Hand auf den Bauch und kann meinen Herzschlag spüren, der einen ganz fremden Takt anschlägt, so als verschwöre sich mein Innerstes gegen mich.

Selma, Linda, Verena und die anderen stehen um mich herum, und obwohl sie kleiner sind als ich, sehen sie auf mich herab. Selma zupft an ihrem Seidenschal mit den Pferdehufen und sagt: Ich habe gesehen, wie dein Vater eine zerbeulte Getränkedose aufgehoben hat, die von einem Laster plattgewalzt worden ist, und Linda Wegrostek sagt, woher hast du diesen Pullover, aus der Altkleidersammlung? Die Münder der Mädchen sind geöffnet, ihre Lippen bewegen sich, doch es sind nicht sie, die sprechen. Es ist eine Synchronstimme, die den Ton liefert zu den Lippenbewegungen, und ich wundere mich, wie perfekt alles arrangiert wurde.

Selma sagt: Siehst du, das hast du davon, Raoul macht sich aus dem Staub, er interessiert sich nicht für dich, er hat dich schon längst vergessen, küsst eine andere, und das ist erst der Anfang. Eine Braunhaarige, hübsche, vielleicht auch mehrere, Blonde und Schwarze, denn er hat längst beschlossen, dich zu verlassen, eine neue Existenz zu gründen, eine richtige Existenz, mit allem Drum und Dran, während dein erbärmlicher Versuch gescheitert ist, noch ehe du in der Lage warst, das Wort »Existenzgründung« zu buchstabieren.

»Sie brauchen nicht zu weinen, alles ist gut«, sagt der Trainer und legt seinen Arm behutsam auf meinen. »So war das nicht gemeint.«

Ich greife an meine Wange, und tatsächlich: Sie ist nass. Woher kommen diese Tränen, wer produziert sie, wer pumpt sie vom Herz durch den Kopf und in die Augen? Der Trainer sieht bestürzt aus, seine Hände zittern. Bestimmt hatte er sich »Existenzgründung I« leichter vorgestellt, ohne Ausflug in die psychischen Randbezirke der Teilnehmer.

In den Augen hinter den Brillengläsern blitzt so etwas wie Mitgefühl auf, und er sagt – so leise, dass es die anderen nicht hören können: »Möchten Sie nach Hause gehen, Frau Amsel?«, und obwohl ich mich davor fürchte, in die leere Wohnung zurückzukehren, fürchte ich mich doch noch mehr davor, hierzubleiben. Ich frage den Trainer nach einer Seminarbesuchsbestätigung, für die Buchhaltung, für Herrn Othmar, in Hinblick auf meine künftige Existenz.

»Geht es Ihnen gut?«, fragt der Trainer noch einmal und hält mich am Ellenbogen fest. Ein Berührungsfanatiker. Ich weiß nicht, wo man so etwas lernt und wozu das gut sein soll.

»Ist nur ein wenig viel im Moment«, sage ich. »Mein Leben, wissen Sie.«

»Ja«, sagt er und nickt, »ich weiß.«

Olaf, der Weberknecht, trennt sich von seinem Baguette und krabbelt in die leere Mitte des Kreises. Er entfaltet umständlich einen Zettel, den er in der Hosentasche aufbewahrte. Ich warte, bis er salbungsvoll die ersten Worte spricht – »Für dieses Seminar habe ich mich lange vorbereitet« –, um auf Zehenspitzen den Raum D1010 zu verlassen. Ich laufe den Langzeitarbeitslosenflur entlang und durch das Wartezimmer, am Portier vorbei und hinaus auf die Straße, und halte die Seminarbestätigung mit beiden Händen fest wie ein Geschenk, das ich nicht verdiene und das man mir jederzeit wieder wegnehmen kann.