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Ich will weg, einfach nur fort, Sachen packen, Rucksack auf die zerschlissene Rückbank des alten Mercedes werfen. Das habe ich in einem Film gesehen, auf der Leinwand war das ganz simpel. Im richtigen Leben aber ist es unmöglich, zumindest in meinem, denn ich habe keinen Mercedes mit zerschlissener Rückbank, wir fahren einen alten Toyota, an dem alles zerschlissen ist bis auf die Rückbank, und wenn ich wir sage, meine ich Raoul.

Ich wüsste auch gar nicht, wohin mit mir, im Kino fahren sie durch die Wüste oder zumindest durch eine Steppe. Wo Wien ausfranst, gibt es nur das Marchfeld mit seinem Spargel oder hässliche Wassertürme in einer Mondlandschaft. Landstriche, in denen ich weder leben noch sterben möchte.

Was ich jetzt brauche, ist eine Überdosis fremdes Unglück. Weshalb gibt es das nicht auf Rezept? Herr Doktor, bitte schreiben Sie auf: ein Nervenzusammenbruch wegen Insolvenz, ein Ehefiasko auf offener Straße, vererbte Adipositas; dicke Mutter mit zwei dicken Töchtern, Beine wie antike Säulen, keiner, der freiwillig dazwischen fasst, nicht einmal sie selbst.

Das Rigoletto ist ein guter Ort für Beobachtungen. Ich trete ein, zwänge mich zwischen zwei Miniaturtischen hindurch. Ein Café für Hobbits, man sitzt quasi aufeinander, auf Sesselchen und Bänken, die mit einer quietschrosa Couverture bezogen sind.

Ich studiere die rosa Karte, es gibt Malakofftorte und Sachertorte, ich brauche etwas stark Gezuckertes, um den Geschmack der Enttäuschung zu übertünchen. In der Schule mussten wir einen Aufsatz schreiben über Wiener Mehlspeisen, Frau Professor Pollak war ein Feinspitz, sie hielt viel auf Tradition, und ich löschte mit dem Tintentod alle »r« heraus, bis nur noch Malakofftote und Topfentote übrig blieben. Der Aufsatz war gepflastert mit Mehlspeiseleichen.

Eine Rigoletto-Stewardess im rosa Outfit putzt die Tischchen mit Clin streifenfrei. Ich sehe ihr dabei zu, für ein Tischchen benötigt sie keine zwei Sekunden, der scharfe Putzmittelgeruch steigt mir in die Nase. Ich bestelle Apfelstrudel mit Vanillesauce. Für einen Kaffee reicht das Geld nicht, ein Glas Leitungswasser muss genügen, die Kellnerin schreibt es gelassen auf ihren Block.

Das Café ist mit Spiegeln ausstaffiert, überall begegnet man seinem eigenen Antlitz. Alle Frauen hier tragen Hüte, die mit ihren bläulichen Dauerwellen verwachsen zu sein scheinen. Sie nehmen die Hüte nie ab, wahrscheinlich nicht einmal im Bett, aus Angst, ihre Frisur könnte zerstört werden. Wenn man sich unbedacht umdreht, stechen einem die Hutspitzen ins Auge. Ich verstehe jedes einzelne Wort, das sie sprechen, so nah ist man sich hier. Sie berichten über die neuen Methoden der Varizen-Operation. Mit Hitze funktioniert das, die Krampfadern werden gewissermaßen verschmolzen, eingeschmolzen, man braucht sie nicht herauszuziehen, sie verkümmern im Körper, wie praktisch.

Nach der Gefäß-Konferenz beschwert sich jene mit der Taubenfeder an ihrem Hut über ihren Schwiegersohn. »Der Markus«, sagt sie immer. Der Markus wolle Malerei studieren, jetzt, mit 35, was für eine Schnapsidee, und die anderen Gefiederten schütteln den Kopf, was für eine Schnapsidee! Was er denn male, fragt eine, und die Taubenfederfrau sagt: Berge, der Markus male Berge, nur Berge, Felsen, Bergspitzen. Dabei gebe es doch in Österreich schon einen Bergmaler, den Brandl, da würde der Markus doch immer am Brandl gemessen werden und hätte zwangsläufig keine Chance, weil der Brandl sich doch bereits international einen Namen gemacht habe, der Markus aber bis jetzt lediglich als Installateur bekannt sei, und das nur in Simmering. Auch kenne der Markus die wenigsten Berge persönlich, die meisten habe er im GEO gesehen. Die Luise rede ihm ohnehin Tag und Nacht zu, er solle den Betrieb ja nicht aufgeben, die Kinder seien doch noch klein, der Markus aber sagte, sie solle sich nicht anstellen, mit der Malerei sei eine Menge zu verdienen, er tue gerade so, als hänge er bereits im Kunsthistorischen Museum.

Die Kellnerin bringt den Strudel, der in einem Vanillesaucen-See schwimmt, so muss es sein. Alles ist brennend heiß, der Fluch der Mikrowelle, aber gut so, ich mag es heiß. Die süße Sauce läuft mir übers Kinn, die Federfrauen beäugen mich misstrauisch. Das macht mir nichts aus, schließlich hab ich ihnen einiges voraus: Ich habe soeben einen Pfleger an der Hand berührt, der sie demnächst ins Bett hieven und ihnen die Leibschüssel unterschieben wird. Er wird versuchen, sie von ihrem Hut zu trennen, ganz vorsichtig, aber sie werden es bemerken und aufschreien, so wie Fanny aufgeschrien hat, als ich ihr die Wollmütze vom Kopf streifte. Dieser Pfleger hat mich berührt, wie er euch niemals berühren wird, denke ich, und das ist mir eine Genugtuung. Ich sehe der Federführenden frech in die Augen, und selbst als sie die Braue hebt, sehe ich nicht weg.

Die Vanillesauce legt eine süße Schicht über die letzte Stunde, die harten Konturen verschwimmen, wie schnell ändert sich der Blick auf das, was war. Wäre die Verkäuferin nicht plötzlich in den Raum getreten, hätten wir uns geküsst, zweifellos. Die beiden Finger im Mokkalöffelbett waren der Anfang, und das Ende ist offen. Vielleicht werden wir uns wieder am Krankenhausgang treffen, eine Reminiszenz an unser Kennenlernen, vielleicht werden wir uns lieben, dort auf dem Gang, und unser Stöhnen wird sich mit dem Stöhnen der Patienten in ihren Zimmern vermischen, und keiner wird unterscheiden können, was Lust ist und was Schmerz.

Der Markus sei doch sonst so ein Braver, sagt die Taubenfeder. Nie habe er die Luise betrogen, das sei ihm auch nicht anzuraten. Drohender ausgestreckter Zeigefinger. Nie! Die anderen pflichten ihr bei, so als lägen sie regelmäßig bei Markus unterm Bett.

Ich blicke auf mein Handy, und genau in diesem Augenblick wird es lebendig. Eine Nachricht von Raoul: »Ich vermisse Dich.«

Die Vanillesauce schmeckt plötzlich bitter. Ich lege den Löffel zur Seite. Habe ich mir etwas vorzuwerfen? Ich betrachte meine Hände. Sie sehen aus wie immer, aber vielleicht hat Pawel unsichtbare Fingerabdrücke hinterlassen, die unter Raouls genauem Blick wieder zum Vorschein kommen wie Zaubertinte.

Ich beschließe, zur Sicherheit meine Hände zu waschen, und dränge mich durch zwei Tischreihen auf die Miniaturtoilette. Die Vanillesauce liegt mir schwer im Magen. Ich streife eine der Gefiederten, ein Wasserglas schwappt über. Böse Blicke. Sie sehen mich an, als hätten sie mich durchschaut. Sie erkennen auf einen Blick, dass ich ein Fremdkörper bin, nicht nur hier im Rigoletto, sondern ein Fremdkörper in meinem eigenen Leben. Ein anderer hätte bestimmt etwas daraus gemacht, das wissen alle hier, ein anderer als ich hätte etwas Ordentliches aus diesem Leben gemacht, das ist so sicher wie das Amen im Gebet.

Ein winziger Vorraum empfängt mich, ein Puppenwaschbecken und eine Toilette, die besetzt ist. Ich drehe am Wasserhahn, um meine Hände von den verräterischen Spuren zu säubern. Sofort spritzt eine Fontäne über das viel zu kleine Waschbecken hinaus, und ich springe zurück, um meine Kleidung zu schützen. In diesem Moment spüre ich auch schon den Schlag, gefolgt von einem scharfen Schmerz in der Lendengegend. Die Frau aus der Toilette hat ruckartig die Toilettentür geöffnet und mir die Klinke in den Rücken gerammt. Der Schreck ist größer als der Schmerz, dennoch krümme ich mich zusammen, und die Frau weicht bestürzt zurück.

»Entschuldigen Sie, ich wusste nicht …«, flüstert sie, dabei ist sie doch unschuldig, wenn einer schuld ist, dann der Baumeister dieser Zwergenlokalität. »Hab ich Sie verletzt?«, fragt sie. »Haben Sie Schmerzen?« Sie trägt keinen Hut, und auch sonst ähnelt sie in keiner Weise dem Publikum auf der anderen Seite der Tür. Sie trägt hochhackige Pumps und ein Sommerkleid mit einem dünnen schwarzen Cardigan, viel zu elegant für das Rigoletto.

Ich winke ab.

»Es geht schon«, sage ich, »alles in Ordnung.« Ein verräterischer Satz, denn in Wirklichkeit ist nichts in Ordnung.

»Ich mache mir Vorwürfe«, sagt die Frau und berührt mich am Arm. »Ich sehe doch, dass Sie Schmerzen haben.«

Ja, ich habe Schmerzen, will ich sagen, aber die Ursache liegt nicht in diesem lächerlichen Unfall. Es sind meine Gefühls-Gefäße, die schmerzen, und kein Arzt in Griffweite, der sie verschmelzen kann, von mir aus darf er sie auch aus dem Körper ziehen, ich brauche sie nicht mehr. Ist es das, was das Leben bieten kann, ein ständiges Pendeln zwischen Überdruss und Unterversorgung?

»Viel Platz ist hier nicht«, seufzt die Frau und geht an mir vorbei zum Waschbecken.

»Passen Sie auf mit dem Wasser«, sage ich.

Sie lacht. »Ich kenne mich hier aus.«

Für einen Moment tauchen unsere beiden Gesichter in dem kleinen Spiegel über dem Waschbecken auf: ihre gepflegte Erscheinung, ein kleines, geschminktes Gesicht. Als sie den Blick senkt, sehe ich den farblich passenden Lidschatten auf ihren Lidern. Ich erkenne sie an der Narbe, die sich von der Schläfe über die Wange zieht. Corinna Neubusch.

Ich erinnere mich deshalb so gut, weil Neubusch der letzte Name war, den ich während meines Langzeitpraktikums in den Computer tippte.

Die Tote hieß Sylvie Neubusch. Eine Jugendliche, sechzehn Jahre alt. Sie wurde auf dem Meer vom Blitz getroffen. Das ist lange her. Corinna wurde drei Jahre später geboren, und die Eltern sorgten auf ihre Weise dafür, dass Sylvie nicht in Vergessenheit geriet. Egal, was Corinna tat: Sylvie hatte in den Augen der Eltern alles besser tun können, sie war hübscher, talentierter und vielversprechender gewesen als Corinna, die nur ein müder Abklatsch war, ein Schatten der toten Schwester, eine Nachgeburt.

Corinna Neubusch erzählte mit großer Offenheit von dem verzweifelten Hass auf ihre Schwester. Bis sie begriff – zu diesem Zeitpunkt hatte sie schon eigene Kinder –, dass es der Hass war, der sie für immer an ihre Schwester ketten würde. An diesem Tag beschloss sie, ihre Schwester zu lieben.

Nun war sie es, die Sylvies Andenken hochhielt – auf ihre ganz spezielle Weise: Jedes Jahr an Sylvies Todestag gab sie eine Anzeige in der Zeitung auf. Sie überlegte genau, was ihrer Schwester gefallen hätte. Sie forschte nach, welche Musik Sylvie gerne gehört, was sie gelesen hatte, welche Kinofilme sie mochte, wie sie sich in der Schule gemacht hatte, kurz: Sie lernte ihre Schwester kennen, die auf diese Weise vom Himmel herabstieg und zu einem Menschen aus Fleisch und Blut wurde.

»Diese Todesanzeigen«, sagte Corinna Neubusch damals, »erlösten mich.« So kam es, dass ich mein Praktikum als Retterin beendete, nicht als Todesbotin.

Corinna Neubusch trocknet ihre Hände ab, lächelt mir zu. Sie hat mich nicht erkannt. Ich lächle ebenfalls. Als sie geht, hält sie mir die Tür auf, ich gehe ihr automatisch nach, und als ich mich durch die Tischreihen zwänge, bemerke ich, dass ich mit ungewaschenen Händen an meinen Tisch zurückkehre.