24

Aus der Nähe wirken die Wohntürme noch bedrohlicher. Ich lege meinen Kopf in den Nacken und schaue hinauf zu den Balkonen. Schlaffe Kletterpflanzen, die sich am Sichtbeton entlangranken, gelbweiß gestreifte Markisen. Dazwischen ein Eckchen Himmel, eingeklemmt zwischen der Pyramide und dem Docht des Fernheizkraftwerkes.

»Ich hatte recht, siehst du. Können wir weiterfahren?«

»Ich denke nicht«, sagt Pawel. Er überquert einen Grünstreifen, der den Weg zwischen zwei Türmen zerteilt. Ich trotte ihm nach.

Er visiert geradewegs Block D an, so als hätte er ein konkretes Ziel. Wir steigen die Stufen zum Eingangstor hinauf. Verwitterte Namensschilder unterhalb der Gegensprechanlage. Eine Graffitikatze sieht uns an

»Und jetzt?«

»Lass mich nur machen«, sagt er.

Er klingelt links oben. Bei Kronberger.

»Ja?« Eine Frauenstimme, atemlos.

»Guten Tag«, sagt Pawel. »Pini vom Dekanat für Hochhauspsychologie. Wir möchten Sie befragen, es geht um eine wissenschaftliche Arbeit. Öffnen Sie bitte die Tür.«

Keine Frage, eine Aufforderung. Das darf alles nicht wahr sein. Ich zupfe ihn am Hemd, er verscheucht meine Hand wie ein Insekt.

»Neunundzwanzigster Stock«, sagt die Frau. Ein Summen, Pawel öffnet die Tür.

»Was hast du vor«, zische ich, als wir durch den schmucklosen Flur gehen, aber Pawel sagt nur: »Du hast etwas behauptet, und das will ich nachprüfen. Das ist alles.«

Wir besteigen den Aufzug, eine schmale Kabine mit einem verschmierten Spiegel. Es riecht nach Hund. Der Aufzug setzt sich schwerfällig in Bewegung.

Ich lehne mich an die Rückwand der Kabine. Vielleicht wollte er mich hierherlocken, um mir näherzukommen, denke ich, aber Pawel macht keinerlei Anstalten, sich mir zu nähern. Im Gegenteil: Er lehnt an der gegenüberliegenden Wand der Kabine, so weit weg von mir wie nur möglich, und mustert kritisch den Lift.

»Ich habe eine Patientin betreut«, sagt er, »die an Platzangst litt. Sie hat eine Strategie entwickelt, um dennoch mit dem Aufzug fahren zu können. Du wirst es nicht glauben, aber sie legte sich flach auf den Boden und betete den Rosenkranz:

Gegrüßt seist du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir. Du bist gebenedeit unter den Frauen, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes Jesus, der für uns Blut geschwitzt hat.«

Ich kichere. Der Wahnsinn, der andere trifft, hat immer etwas Befreiendes. Geht das überhaupt? Blut schwitzen? Und wie sieht das aus? Wasser zu schwitzen ist schon unappetitlich genug.

»Blut schwitzt man nur in Todesangst«, sagt Pawel. »Unter extremer Anspannung. Dann platzen die Hautäderchen, und das Blut fließt zusammen mit dem Angstschweiß ab. Über die Poren.«

Kaum hat er den Satz beendet, kniet er bereits auf dem Boden und versucht, sich auszustrecken, doch die Liftkabine ist zu eng, wie ein verkrümmter Frosch hockt er da, als der Lift abrupt stehenbleibt, sich die Türen öffnen und wir geradewegs in die schreckensgeweiteten Augen einer alten Frau blicken. Sie ist klein und schrumpelig, wie ein Kleidungsstück, das mit zu hoher Drehzahl geschleudert wurde.

»Nichts passiert«, sagt Pawel und greift nach meinem Arm, um sich aufzurichten. Umständlich klopft er sich die Hose ab.

»Ein Versuch«, sagt er zur Frau gewandt. »Ein wissenschaftlicher Versuch.«

Sie nickt, stumm. In ihren Augen spiegelt sich die Ehrfurcht vor dem Akademischen.

Sie bittet uns in einen dunklen Flur, dann weiter in ein dunkles Wohnzimmer. Kassettendecken, Biedermeier-Mobiliar, eine Pendeluhr. Es riecht nach nasser Wolle. Diese Frau gehört in eine Altbauwohnung im Zentrum, denke ich, mit Flügeltüren und hohen Decken, damit die Erinnerungen zirkulieren können.

Sie bietet uns etwas zu trinken an, und ich sage: »Bitte keine Umstände«, aber sie scheint sich tatsächlich über den Besuch zu freuen. Sie mustert Pawel unverhohlen.

»Von welchem Dekanat, sagten Sie, sind Sie?«

»Wir untersuchen die Auswirkungen der Wohnhöhe auf die psychische Verfassung«, sagt er. »Ob Nestbewohner, wie Sie einer sind, glücklicher sind als Höhlenbewohner. Für eine Wohnstatt in dieser Höhe war ja der Mensch ursprünglich nicht gebaut.«

»Glück«, sagt die Frau und schüttelt den Kopf. »Da haben Sie sich aber ein großes Thema vorgenommen.«

»Alle Themen werden groß, wenn man sich nur lang genug mit ihnen beschäftigt«, sagt Pawel.

Die Frau füllt eine dunkle Flüssigkeit in zwei Schnapsgläser.

»Zirbenschnaps«, sagt sie. »Gut für die Seele.« Sie lacht. Ein raumfüllendes Lachen, viel größer als sie selbst.

Ich nippe am Glas. Der Schnaps schmeckt nach Wald. Ich sehe mich um in diesem Zimmer, das hoch über der Stadt zu schweben scheint. Alles hier drin ist vor den Zumutungen des Alterns geschützt. Eine Tischdecke aus Plastik schützt den Tisch, das Hochlehner-Sofa ist über und über mit gemusterten Tagesdecken bedeckt. Auf dem Boden: transparente Plastikläufer, dort, wo kein Teppich liegt. Nur das Gesicht der Frau war immer allen Witterungen ausgesetzt, es ist zerknittert und vergilbt wie eine alte Fotografie.

Pawel plappert indessen ohne Punkt und Komma, er erzählt von seinem Lehrauftrag, von seiner Forschungstätigkeit an der Uni Wien, von den internationalen Kongressen zum Thema Niedrighaus- und Hochhauspsychologie, vom Spezialfach Almhüttenforschung – zu Forschungszwecken habe er zwei Monate 2500 Meter über dem Meeresspiegel verbringen müssen –, und ich lausche seinen absurden Ausführungen ebenso konzentriert wie die alte Frau.

Bis sie uns auffordert, ihr auf ihren Südbalkon zu folgen, dort könne man das Hochhaus am besten spüren, wie sie sagt.

Sie öffnet die Balkontür, wir treten alle hinaus, der Wind bläst uns ins Gesicht. Vor uns liegt das Ensemble der Häuser und Straßen aufgerollt da wie ein Teppich, kein Laut, der hier heraufdringt, so als stünde man auf einem anderen Planeten.

»Und?«, flüstert Pawel. »Bist du immer noch der Meinung, dass man hier nicht leben kann?«

Die Frau hat sich in einen Lehnstuhl gesetzt. Das hier, sagt sie, sei ihr ganz persönlicher Fernsehschirm. Sie beobachte den Wechsel der Farben der Stadt, des Himmels, der Zone zwischen Stadt und Himmel, die eine unendliche Ruhe berge, wie die Pause zwischen Ein- und Ausatmen.

Als ich das nächste Mal zu ihr hinsehe, hat sie ihre Augen geschlossen, und eine halbe Minute später immer noch.

»Lebt sie noch?«, flüstere ich.

Pawel sieht zu ihr hinüber, dann sagt er: »Keine Sorge. Sie schläft.«

Wir beugen uns über das Geländer, um die Balkone der Nachbarn zu betrachten. Pawel deutet auf das Grünzeug. Nur Zierpflanzen, sagt er, Nutzpflanzen seien im Wohnpark »Neue Welt« keine erlaubt, doch wo wir auch hinsehen, überall identifizieren wir Tomatenstauden, Miniatur-Kräutergärten, Salatbeete. Ein vertikaler Garten, der in den Himmel wächst.

Plötzlich spüre ich Pawels Hand auf meiner Schulter, langsam streicht er über meinen Rücken, während sein Blick immer noch auf die Balkone gerichtet ist, eine seltsame Diskrepanz zwischen seinem Kopf und seiner Hand, als seien sie von zwei unterschiedlichen Systemen gesteuert.

»Ich möchte dich kennenlernen, Ruth«, sagt er und sieht immer noch hinunter auf die Balkone. »Ich möchte, dass wir einander eine Geschichte aus unserem Leben erzählen, die wir noch niemandem erzählt haben.«

Jetzt dreht er sich zu mir, sieht mir in die Augen. »Als ich ein kleines Kind war, war ich oft in den Bergen. Dieses Haus erinnert mich daran. Ich wollte immer der erste auf dem Gipfel sein. Dann hab ich hinuntergeschaut, so wie jetzt. Und mich gefühlt wie der König der Welt. Ich hab kleine Steine hinuntergeworfen vom Gipfel. Das war meine Art, der Welt zu zeigen, dass ich da war. Als mein Großvater das gesehen hat, ist er wütend geworden. ›Wenn einer deiner Steine einen Wanderer trifft‹, hat er gesagt, ›dann kann ihn das schwer verletzen. Oder sogar töten.‹ Seither verfolgt mich die Angst, dass ich als Kind zum Mörder geworden bin.

Wenn ich jemanden kennenlerne, überprüfe ich immer als erstes, ob der Kopf heil ist. Das mache ich auch bei den Patienten so. Darf ich?«

Er tastet meinen Schädel ab wie ein Blinder. Seine Hände, die sonst über schwielige, kranke Haut streichen, gehören in diesem Moment mir allein.

»Kein Loch«, flüstere ich.

»Bist du dir ganz sicher?«

Und plötzlich küsst er mich, und das geschieht so abrupt, dass mein Herz einen Sprung macht. Unser Atem vermengt sich, er küsst meine Augen, meine Stirn, meine Wangen, und ich höre nicht auf, mich darüber zu wundern. Ich schlüpfe mit den Händen unter sein Hemd, vielleicht finde ich dort eine Antwort. Seine Haut ist glatt und makellos, seine Schulterblätter stehen ab, gestutzte Flügel. Meine Finger gleiten über seinen Rücken wie über einen gefrorenen See.

»Mein Großvater hat mir die Welt erklärt«, sagt er. »Auf seine Art und Weise. Er wollte, dass ich widerstandsfähig werde, ich musste im kalten Fluss baden und im Wald übernachten. Aber ich wurde nur immer empfindlicher, je mehr er versuchte, einen Klotz aus mir zu machen.«

Zwischen seinen Worten drückt mir Pawel schnelle Küsse auf die Mundwinkel, danach sieht er mich an, wie um sich zu vergewissern, ob es mir gefällt.

Auf diese Weise bin ich noch nie geküsst worden. Johannes sabberte in meinen Mund, wenn er mich küsste. Raoul drückt seine Lippen auf meine wie ein Brett, zumindest hat er das früher getan. Seit längerem schon küssen wir uns nicht mehr, selbst wenn wir Sex haben. Maja sagt, das sei normal, auch sie küssten sich nicht mehr. Küssen sei etwas für Phase eins, ein Test für weitere Annäherungen, wenn diese absolviert sei, habe das Küssen seine Schuldigkeit getan.

Pawels Hand schlüpft unter mein Shirt und legt sich, ohne zu zögern, auf meine Brust. Er ist Pfleger, er weiß, was er tut. Ich schließe die Augen. Regenbogen hinter den Lidern. In Windeseile und mit routinierter Geste öffnet er meinen BH. Wahrscheinlich muss er gebrechliche Patientinnen oft auf diese Weise entkleiden. Er hält meine Brust in seiner Hand, als würde er sie wiegen.

»Ich durfte ihm nicht sagen, dass ich lieber zu Hause blieb, um zu lesen«, flüstert Pawel, und ich schrecke auf, denn ich weiß nicht, wovon er spricht. »Wer?«, flüstere ich, und Pawel sagt: »Großvater.«

Seine Hand wächst, dehnt sich aus, plötzlich ist sie überall, streicht konzentriert über meine Konturen. Da kommt etwas in Bewegung, ein Zug, der lang in der Remise stand, und plötzlich pfeift der Schaffner, und es kann losgehen, Zielort unbekannt.

Und je näher mir Pawel ist, umso mehr sehne ich mich nach seinen Berührungen, wie wird es erst sein, wenn er wieder weg ist?

Als es klingelt, geht alles ganz schnell: Die alte Frau schreckt hoch, Pawel nimmt seine Hände aus meinem Shirt, ganz nackt fühle ich mich ohne seine Berührungen. Ich frage mich, woher dieses Klingeln kommt, das alles zerstört, und Pawel sagt: »Das bist du.«

Tatsächlich, ich sehe auf das Display meines Handys, eine unbekannte Nummer, und um es schnell zum Verstummen zu bringen, nehme ich den Anruf entgegen.

Judiths Stimme. »Wir stehen vor deiner Tür, haben dreimal geklingelt, hast du unsere Verabredung vergessen?«

Das Kaffeekränzchen. Ausgelöscht.

Ich atme tief durch, drehe mich weg von Pawel, halte meine zitternde Hand vor den Mund, damit er mich nicht hören kann.

»Ja«, zische ich. »Ich habe sie vergessen. Und weißt du, wo ich bin? In der Neuen Welt. Ganz oben. Wenn man hinunterfällt, landet man auf dem Balkon eines Nachbarn, wusstest du das? Sag mir doch noch eines: Ist Raoul der Vater von Moritz?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, drücke ich die rote Taste.

»Du hattest recht«, sage ich zu Pawel. »Es ist wunderbar hier.«