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Über die Fassade des Hauses in der Wotangasse ziehen sich dunkle Flecken, ein Ausschlag, der bis in die oberste Etage metastasiert. Die Flecken sind mir bei meinem ersten Besuch nicht aufgefallen, heute aber schrecke ich vor ihnen zurück, nur mit großer Überwindung läute ich bei Kallinger.

Simone betätigt den Türöffner, ohne nach dem Namen zu fragen. Das erscheint mir nachlässig, unvorsichtig geradezu, doch es steht mir nicht zu, ihr Ratschläge zu erteilen. Ich schleppe mich in den zweiten Stock und halte mich am Geländer fest, wie wenig Kraft habe ich doch in meinen Armen.

Eine Stimme in mir sagt: Mach dich nicht lächerlich, wer weiß, wer sie war, die Brünette an Raouls Seite, vielleicht eine Schulfreundin oder eine Studienfreundin, wenn man sich nach langer Zeit wiedersieht, dann küsst man sich eben. Bestimmt gibt es eine gute Erklärung, und wenn nicht, gibt es immerhin noch eine schlechte, jede Erklärung ist gut genug. Durchaus möglich, dass die Frau mit der Turmfrisur in Rätseln sprach, in Zungen, benebelt von Medikamenten, und Dinge gesehen hatte, die nicht da waren.

Simone lehnt bereits im Türrahmen, Jogginghose, ausgewaschenes Shirt, ungeschminkt, die blonden Haare verstrubbelt.

»Du kommst zur richtigen Zeit«, sagt sie und geht vor in die Küche. »Ich habe Kaffee aufgesetzt.«

In der Wohnung ist es still.

»Wo ist Fanny?«, frage ich, und Simone sagt: »Beim Vater.«

Auf der Eckbank türmen sich Berge zerknitterter Babybekleidung.

»Wir haben uns getrennt«, sagt sie und stellt zwei altmodische Tassen mit verschnörkelten Henkeln auf den Tisch. »Es war das Beste, was mir passieren konnte. In der Beziehung war ich Alleinerzieherin und immer für alles zuständig. Seit der Trennung teilen wir uns die Verpflichtungen. Die Trennung hat uns erst zu Eltern gemacht, die beide zu gleichen Teilen ihre Verantwortung wahrnehmen, ist das nicht verrückt?«

Fannys Vater lebe nicht weit von hier, drei Straßen weiter, doch in Wahrheit sei er Lichtjahre entfernt, sagt Simone. Er führe mittlerweile ein neues Leben mit einer neuen Frau, und auch sonst habe er alles ausgetauscht in seinem Leben: seinen Beruf, seine Ziele, seine Frisur, einfach alles, sagt Simone. Früher sei er groß und stattlich gewesen, ein Bild von einem Mann. Heute sei er nur noch ein Schatten, sein eigenes Negativ. Werner, so heißt er, sei geschrumpft, alles an ihm habe sich zusammengezogen, als verdorre er innerlich, aber das scheint ihn nicht weiter zu kümmern, und auch seiner neuen Frau mache es nichts aus, im Gegenteil, denn auch sie sei mittlerweile so dünn, dass die Sonne an hellen Tagen geradewegs durch sie durchscheine. Dafür kümmerten sie sich beide umso liebevoller um Fanny.

Es ist schön, Simones Singsang zuzuhören, beruhigend zu sehen, wie sie in der Küche mit Besteck und Geschirr hantiert, und wenn ich die Augen schließe, dann finde ich mich in der alten Küche meiner Eltern wieder, als ich noch zu klein war, um Sorgen, zu jung, um einen Mann zu haben, ich schlief allein in einem schmalen Bett in einer kleinen Kammer, in die der Mond schien, und mein Vater erzählte mir von Przewalski-Pferden. Vielleicht sind sie verschwunden, weil keiner mehr an sie geglaubt hat, in einer Art sich selbsterfüllenden Prophezeiung. Womöglich verschwinden auch meine Sorgen, wenn ich nicht mehr an sie glaube.

»Fanny hat es gut«, sagt Simone. »Alle Liebe dem Kind, ist doch schön, oder?«

Und was ist mit deiner Liebe, will ich sie fragen. Steckst du sie auch in Fanny hinein, in diese Liebesspardose, damit sie später verschwenderisch mit ihrer Mitgift umgehen kann?

Ich beneide eine Einjährige und getraue es mir kaum einzugestehen. Weil sie so viel hat und nicht darum kämpfen muss, während ich meinen Eltern jeden Zipfel Anerkennung entreißen musste und am Ende mit leeren Händen dastand – wie die Kandidaten jener Fernsehshow, die in einer Röhre Geldscheine auffangen müssen, die von einer Windmaschine aufgewirbelt werden, und je hektischer sie nach dem Geld greifen, umso weniger bleibt ihnen am Ende.

Um Raouls Liebe hingegen habe ich nicht kämpfen müssen, er hat sie mir zum Geschenk gemacht. Unsere ersten Treffen außerhalb der Redaktionsräume verliefen enttäuschend. Während sich seine Vitalität noch erfrischend vom maroden Mobiliar der Traueranzeigenredaktion abhob, verblasste sein Glanz bereits im ersten Café, das wir gemeinsam betraten.

Er hatte das Café Fidelio gewählt und eine Eckbank, deren roter Kunststoffüberzug sogleich mit meinen nackten Oberschenkeln verschmelzen wollte. Es ekelte mich, und ich versuchte, so wenig wie möglich mit der Bank in Berührung zu kommen, während ich mich nach Raouls Berührung sehnte. Doch wir saßen drei Stunden da und beugten uns über ein Blatt Papier, das er mit Computercodes füllte, und ich fragte mich, ob er ebenso schwer zu enträtseln war wie diese erste Botschaft.

Raoul versuchte, mir seinen Beruf näherzubringen, das Programmieren von Software. Für ihn war alles so klar und logisch, und in seinen Augen sah ich die Verwunderung darüber, dass ich es nicht nur nicht verstand, sondern dass ich mich auch nicht dafür interessierte. Ich wollte etwas erfahren über sein Leben, seine Ziele und Träume, und er sagte: »Die Weiterentwicklung der elektronischen Krankenakte, ein Meilenstein«, und malte die Initialen seiner künftigen Firma in die Luft: LSD. Ich lachte auf. LSD?

»Litzka Softwaredesign«, sagte er gekränkt, »was ist so lustig daran?«

»Nichts«, antwortete ich leise und fragte mich, ob es die richtige Entscheidung gewesen war, Johannes aus der Wohnung und aus meinem Leben zu werfen.

Doch ich hatte mich getäuscht. Raoul war vollkommen unmissverständlich in der Formulierung seiner Zuneigung. Er schien unsere Liebe zu definieren wie den Quellcode eines Computerprogramms.

Bevor wir zusammenzogen, gewöhnten wir uns an, einander täglich kleine Botschaften zu hinterlassen. Ich war früher auf den Beinen als er und trank noch stets einen schnellen Espresso im Fidelio. Bevor ich aufbrach, kritzelte ich eine Nachricht in eine der Tageszeitungen. Meist im Anschluss an eine Bildunterschrift, die mir gefiel. Unterhalb eines Titels, den ich interessant fand. Oder als Zusatz zum Fernsehprogramm.

20:00 Uhr, Wien bei Nacht. Romanze. In den Hauptrollen: Ruth Amsel und Raoul Litzka.

Am Nachmittag konnte ich seine Antworten empfangen. Voll Vorfreude sammelte ich die Tageszeitungen ein, die auf dem Tisch neben der Vitrine mit den Kuchen auslagen. Weder die Erdbeertorte noch der Apfelstrudel konnten mich locken, ich war hungrig auf Raouls Repliken.

Es war ein Spiel, wie alles ein Spiel war in diesen Tagen, und wir konnten die Regeln täglich ändern, wie es uns gefiel, schließlich waren wir Spieler und Schiedsrichter zugleich.

Manchmal fand ich Fragen vor wie: Wo möchtest du niemals leben? Was machst du sonntags am liebsten? Was war deine Lieblingsspeise, als du ein Kind warst? Raouls Buchstaben waren nach rechts gebeugt, so als stemmten sie sich mit aller Kraft gegen den Wind. Ich antwortete: An einem Fluss, denn ich habe Angst vor Hochwasser, Quizshows im Fernsehen schauen und Milchreis mit Zucker. Ich bemühte mich, unsere aufkeimende Beziehung mit einer spielerischen Leichtigkeit zu betrachten und das Band zwischen ihm und mir nicht allzu fest zu knüpfen.

Wenn ich seine Nachricht auf keinen Fall übersehen durfte, schrieb er sie auf die Seite mit den Todesanzeigen. Die kontrollierte ich als allererstes, schon aus beruflichem Interesse. Eines Nachmittags stand unterhalb der Mitteilung, dass Rosa Amlacher (97) im Kreise ihrer Familie friedlich entschlafen war:

ich [node.balance = ‚/; ))

liebe (node.true)

dich (‚_‚)

Einen Monat später verabredeten wir uns mit dem Makler vor dem Hochhaus in der Przewalskistraße, und Raoul hielt meine Hand so fest, dass sie noch am nächsten Tag schmerzte. Simone fegt mit der Hand Weißbrotkrümel vom Tisch. Die Sonne malt Kringel auf die Tischplatte. Es riecht nach Babypuder.

»Wann hast du gemerkt, dass es nicht mehr geht – mit dir und Werner?«, frage ich.

Sie setzt sich auf den Stuhl gegenüber, zieht die Beine an und legt den Kopf auf ihre Knie.

»Bei Fannys Geburt«, sagt sie. »So traurig das klingt. Als dieses vollkommene Kind auf meinem Bauch lag und Werner an das Bett trat, sah ich von ihr zu ihm und dann wieder von ihm zu ihr, und plötzlich war Werner nur noch ein Stückwerk aus Fehlern, Nachlässigkeiten und Versäumnissen. Ein Mensch, wie er unvollkommener nicht sein konnte. Glaube nicht, dass ich maßlos geworden bin in meinen Ansprüchen, Ruth, aber Fanny zeigte mir, was ich unbewusst schon lange fühlte und nur nicht zulassen konnte. Dass er nicht der Mann war, der mir zugedacht war.«

Zugedacht? Ich lache.

»Bestimmung«, sagt Simone. »Glaubst du nicht daran?«

Darüber hatte ich noch nicht nachgedacht.

»Ich will«, sagt Simone, »dass es einen Plan gibt. Für mein Leben. Für Fannys Leben. Nur, weil wir ihn nicht durchschauen, heißt es ja nicht, dass es ihn nicht gibt. Im Gegenteil. Vielleicht konzentrieren wir uns auf die falschen Details. Wir suchen Geheimnisse, wir wühlen in Verstecken, aber vielleicht liegt alles direkt vor uns und braucht nicht gesucht zu werden. Es ist doch sinnlos, sich ständig gegen das Schicksal aufzulehnen. Sich immerzu zu wehren.«

»Und du?«, sage ich. »Hast du dich nicht auch gewehrt?«

»Das ist etwas anderes«, sagt sie schnell. »Ich habe meinen Gefühlen nicht getraut und bin viel zu lange bei ihm geblieben. Gegen das Gefühl bei Fannys Geburt habe ich mich nicht mehr gewehrt. Endlich hatte ich verstanden. Mit dem Kind wird das Schicksal geboren, nicht nur das des Kindes, sondern auch dein eigenes wird neu geboren.«

Ich nicke und schweige. Zum Thema Geburt kann ich nicht viel beitragen. Ich lege die Hand auf den Bauch unterhalb des Nabels, dorthin, wo die Kinder wachsen. Nur bei mir wächst nichts, der Bauch ist leer und schmerzt, und Simone fragt: »Hast du Hunger? Ich mache uns ein paar Brote.«

Sofort steht sie auf und öffnet den Kühlschrank und stellt französischen Käse und Parmaschinken auf den Tisch, Gurken, eingelegte Artischocken und süße weiße Zwiebeln. Schnell füllt sich der Tisch mit Köstlichkeiten, und ich esse, als hätte ich zwei Wochen nichts mehr zu mir genommen, so lange, bis das Feuer im Bauch verglimmt.