18
Lange habe ich nicht überlegt, ich wähle die Nummer des Krankenhauses, und als sich die Stimme am Empfang meldet, eine freundliche junge Stimme, sage ich: »Ich möchte bitte einen Pfleger sprechen, er heißt Pawel und arbeitet in der Internen.«
»Ich verbinde, bitte bleiben Sie in der Leitung«, flötet die freundliche Stimme und dann knackst es, und schon höre ich ein Atmen wie von weit her, und ein Mann sagt: »Hallo?«
Da verlässt mich der Mut, und was kürzlich noch wie eine rettende Idee klang, erscheint mir plötzlich absurd und bösartig. Ich hatte mir vorgestellt, Pawel zu meinem Verbündeten zu machen. Er würde für mich beobachten, wer in Raouls Krankenzimmer ein und aus ginge und mir davon berichten. Dann wäre ich meinen Zweifel los, so oder so. Gleichzeitig ist es ein sinnloses Unterfangen. Wie die Untersuchung des eigenen genetischen Materials: Wenn du herausfindest, dass du an einer Krankheit sterben wirst, für die es keinerlei Behandlung gibt, richtet die Erkenntnis nur Schaden an. Ebenso wenig nützt es mir, einen Beweis für Raouls Untreue in Händen zu halten, denn was hätte ich dann in der Hand, wenn nicht mein eigenes Unglück? Vielleicht sollte ich mich früh an den Gedanken gewöhnen, mich allein in der Przewalskistraßenwohnung einzurichten. Doch wenn Raouls Schreibtisch nicht mehr da wäre, keine Papierstapel mehr, bedruckt mit Computer-Hieroglyphen, wenn die Wohnung nur noch Spiegel von mir selbst ist, immer dieselbe Replik auf dieselbe Frage, werde ich dann überhaupt noch dort leben können?
»Ja? Wer ist da?«, fragt Pawel ungeduldig, und da fällt mir ein, dass ich es war, die angerufen hat, und sage schnell: »Pawel, ich möchte Sie sehen.«
»Ach ja?« Er lacht. »Und wer will mich sehen?«
Ich hatte vergessen, mich vorzustellen.
»Ruth Amsel«, sage ich schnell. »Sie waren so freundlich, mir den behandelnden Arzt meines Freundes zu nennen.«
»Ach, Sie sind’s! Ich habe Sie im Garten gesucht! Wollte Sie zu Dr. Cerny bringen, als die Visite vorüber war. Ich dachte schon, Sie seien in den Teich gefallen.«
Es tue mir leid, sage ich. Und dass ich einen dringenden Termin gehabt hätte. Dass ich angerufen, ihn aber nicht erreicht hätte. Ich bin erstaunt, wie leicht mir die Lügen über die Lippen gehen, eine nach der anderen schlüpft aus meinem Mund, ohne mich zu verraten.
»Ich habe den Krankenbericht kopiert«, sagt er. »Wenn Sie wollen, können Sie einen Blick drauf werfen.«
Wir verabreden uns im Küchenstudio Visconti in der Billrotstraße.
»Ich werde da sein«, sagt Pawel.
Doch als ich das Küchenstudio betrete, ist er nicht da, und ich lasse mich durch die Räume treiben. Ausstellungsküchen geben mir Kraft, wenn ich erschöpft bin. Die lautlosen Schubladeneinzüge, die Zebrano-Fronten, die jungfräulichen Steinplatten, auf denen noch nie ein Essen zubereitet wurde, die Induktionsherde, die noch nichts gewärmt haben. Ein Ort der Möglichkeiten, der sinnlichen Versprechen, und wenn ich zwischen den ausgestellten Modellen wandle, kommt es mir so vor, als schlummerten auch in meinem Leben unzählige Chancen, und ich bräuchte nur den Deckel von einem Kochtopf zu heben, um den Geruch eines neuen Lebens einzuatmen.
Als Pawel schließlich erscheint, ist er größer, als ich ihn in Erinnerung hatte, vielleicht lässt ihn die Hektik im Krankenhaus schrumpfen, und erst außerhalb der Mauern dehnt er sich wieder auf die ihm zugedachte Größe aus. Er trägt ein gestreiftes Hemd, Jeans und Sneakers. Ohne weißen Kittel sieht er aus wie ein Student. Ich erwarte ihn an einer cremeweißen Küchenbar in einem der hinteren Ausstellungsräume. Als er mich entdeckt, erhellt sich sein Gesicht, und ich freue mich, weil er sich freut. Er sieht sich um und berührt die Front der weißen bulthaup-Küche, die in ihrer Arroganz beinahe die gesamte Breite des Raumes einnimmt.
»Möchte nicht wissen, was das kostet«, sagt er. »Ziehen Sie um?«
Ich sei dabei, mich selbständig zu machen, sage ich.
»Guter Geschmack«, sagt Pawel und lächelt. Für seinen Geschmack ausreichend Small Talk, denn er zieht bereits ein Papier aus seiner Hosentasche.
»Symptome: Hyperalgesie, Allodynie, Dysästhesie«, liest er vor und blickt auf. »Verstehen Sie das?«
Ich schüttle den Kopf. Bis zur Dermatologie habe ich es nicht geschafft.
»Hautschmerzen. Ihr Mann leidet an einem neuropathologischen Symptombündel.«
Die Formulierung Ihr Mann erschreckt mich beinahe ebenso wie der Begriff Symptombündel. »Wir sind nicht verheiratet«, sage ich schnell.
»Sie wirken so vertraut«, sagt Pawel, und ich frage mich, wie er das behaupten kann, er hat uns doch kein einziges Mal zusammen gesehen.
»Stellen Sie sich vor, ich würde Sie mit einem Wattebausch am Unterarm berühren«, sagt Pawel.
Ich denke: schön.
Pawel sagt: »Und sie schreien auf vor Schmerz.«
»Wirklich?«
»Wenn sie Allodynie hätten. Haben Sie ja zum Glück nicht.«
Eine Küchenberaterin im Missoni-Kleid, schmal und biegsam wie eine Weide, stöckelt an uns vorbei. Andachtsvoll tippt sie auf die Front einer offenen Schublade, eine zärtliche Geste mit Zeige- und Mittelfinger. Die Lade schließt sich mit einem sanften Plopp.
»Wetten, dass es Küchensounddesigner gibt«, flüstert Pawel. »Das war doch eindeutig ein G, haben Sie das auch gehört?«
Ich lächle. Der Mann hat Ideen.
»Sind Sie Italiener? Wegen ihres Nachnamens.«
»Sehe ich so aus?«
Tatsächlich sieht Pawel nicht so aus, an ihm ist alles hell: Das Haar, die Haut, ein cremefarbener Mann vom Scheitel bis zur Sohle, er passt exakt in diese Küche, er ist der Missing Link zwischen Produkt und Mensch, sie sollten ihn als Küchenkaufbeschleuniger einstellen.
»Ganz daneben liegen Sie nicht«, sagt er. »Meine Mutter hatte sich auf Sardinien verliebt.«
»Ihr Vater ist Italiener?«
»Südtiroler. Er hatte einen Ferienjob auf der Insel. Barkeeper.«
»Ist es schlimm?«, frage ich.
»Dass sich meine Mutter verliebt hat?«
»Die Krankheit. Allo…«
»Allodynie?« Er presst die Lippen aufeinander, setzt seinen professionellen Gesichtsausdruck auf. Pfleger Pawel, Notfall auf der ersten Internen.
»Schon möglich, dass es von allein wieder vergeht. Kann aber auch was Psychisches sein«, sagt er. »Dann ist es hartnäckiger.«
Ich nicke und weiß doch nicht mehr als zuvor. Wenn es etwas Psychisches ist, hat es etwa mit mir zu tun? Bin ich schuld an Raouls Symptombündel, weil ich mich geweigert habe, Herrn Walter um Unterstützung für sein Projekt zu bitten? Weil ich immer seltener beim siebten Flittchen mitspiele? Weil ich an seinem Leben zu wenig Anteil nehme?
»Sie machen sich Sorgen«, sagt Pawel. Eine Feststellung, keine Frage. »Das verstehe ich gut. Eine Krankheit betrifft vor allem die Angehörigen. Um den Kranken kümmert man sich ohnehin.«
Er erhebt sich, eine lange schlanke Gestalt, bewegt sich wie selbstverständlich in diesem Raum. Er betastet die Fronten der Objektküchen, die silbernen Abdeckhauben, die Arbeitsplatten aus Granit, seine Schulterblätter zucken unter dem Hemd wie gestutzte Flügel. Es bereitet mir Freude, ihm zuzusehen.
»Sehen Sie hier«, sagt er und deutet auf eine Multifunktionswand. »Auch diese Küche besteht aus mehreren Hautschichten.«
Er kniet sich hin, öffnet eine der Schubladen und inspiziert das Innere.
»Aufgerautes Holz«, sagt er. »Buche. Leicht körnige Oberfläche. Bestimmt schmutzabweisend.«
Er winkt mich zu sich. »Ich möchte, dass Sie das fühlen«, sagt er.
Ich klettere vom Barhocker und knie mich neben ihm auf den Boden. Fehlt nur, dass wir die Hände falten und ein Vaterunser sprechen für den Schöpfer des modernen Küchendesigns. Schon hat Pawel seinen Arm in die Schublade versenkt. Ich tue es ihm gleich.
»Spüren Sie das Holz auf der Haut? Fühlen Sie seine Wärme?«, sagt Pawel.
In der Tiefe der Lade treffen sich unsere Hände, ganz plötzlich, so als hätten sie sich ohne unser Wissen verabredet. Ich schrecke zurück, doch Pawels Hand setzt nach und greift nach meinen Fingern, noch bevor ich den Arm aus dem Schrank ziehen kann.
»Das wollte ich vom ersten Augenblick an«, flüstert er heiser, während er über mein Handgelenk streicht, und ich frage mich, von welchem Augenblick er spricht. Ich erinnere mich an jenen Moment, in dem ich aufwachte und mich im Notbett am Krankenhausgang wiederfand, und an seinen Kopf erinnere ich mich, als er sich über mich beugte, und an seinen weißen Mantel, aus dem ein buntes Sommershirt hervorblitzte.
Pawels Hand ist deutlich größer als meine, sanft bedeckt er meinen Handrücken mit seiner Handfläche. In meinem Inneren breitet sich eine dickflüssige Hitze aus, die meinen Bauch tränkt und durch die Adern kriecht, bestimmt ist auch das eine Krankheit, wenn man tut, was man nicht darf, und es sich dennoch richtig anfühlt. Pawel soll mir sagen, wie diese Krankheit heißt, denn was einen Namen hat, das kann man auch behandeln, und wenn ich gelbe längliche Tabletten schlucken muss, dann werde ich es tun, und wenn ich keinesfalls Milch dazu trinken darf, dann werde ich seinen Rat befolgen.
Aus einem fernen Raum des Küchenstudios dringen Lachen und das Klimpern von Gläsern zu uns herüber. Wir haben keine Zeugen bis auf die Armada an Maschinen: der Kühlschrank mit Crushed-Ice-Spender, der Geschirrspüler mit Kristall-Automatik, die Mikrowelle mit Sicherheitsverglasung, alle werden so tun, als hätten sie nichts gesehen.
»Wer die Haut berührt, der dringt in das Wesen ein«, flüstert Pawel. »Das Äußere ist zugleich das Innerste. Ich berühre deine Seele.«
Er hat du gesagt – und meine Seele, oder was immer er berührt, ist in Aufruhr. Was sieht dieser Mann in mir?
»Ich bin bei meinem Großvater aufgewachsen«, flüstert Pawel und zeichnet mit der Spitze seines Mittelfingers die Adern auf meinem Handrücken nach. »Bei meinen Eltern konnte ich nicht bleiben, sie wollten in Sassari eine Bar eröffnen. Mein Großvater band mich am Gitterbett fest, wenn er wegging. Er hat es nicht böse gemeint, aber das macht es nicht besser.«
Ein trauriger Monolog, den er an die Multifunktionswand richtet, und ich möchte ihn trösten, das Kind, das er war, in den Arm nehmen und wiegen, ich sänge ihm sogar ein Lied vor, wenn ich eines wüsste. Lässt sich das wiedergutmachen, möchte ich fragen. Auf dem Schrank, vor dem wir knien, ist ein Aufkleber befestigt. Für mehr Fußfreiheit kann der Sockel versetzt werden.
Pawel lässt meine Hand los, versenkt seinen Arm neuerlich in der Schublade. »Ganz hinten ist es wesentlich kühler«, sagt er. »Magst du auch?«
Er rückt zur Seite, ein Gentleman. Ich fühle mich wie eine Krankenschwester, die in den Innereien eines Patienten wühlt. Die Rückwand des Schranks ist tatsächlich kühl, was hat er erwartet? Ich beobachte mich dabei, wie ich einen Unfug nach dem anderen nachmache, und dann sehe ich den Mann an, der das provoziert: helles, kurzes Haar, ein Durchschnittsgesicht, dessen Abweichungen nicht scharf genug herausgemeißelt sind, sein Kinn bloß ein wenig zu spitz, die Augen nur ein wenig zu nah beieinander, farblose Brauen über wässrigblauen Augen. Dennoch zieht er mich an, und für einen Augenblick überlege ich, wie es wäre, meinen Finger an seine blassen Lippen zu legen statt an den Unterschrank. Es ist mir bewusst, dass ich mit diesen Gedanken eine Schleuse öffne, denn er sieht mich plötzlich an, als begreife auch er, dass es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis sich unsere Lippen finden.
Doch anstatt mich zu berühren, öffnet er eine schmale Schublade, deren Innenraum bereits für das Besteck vorgestanzt ist. Eine Einbuchtung für Löffel, eine für Gabeln, eine für Messer, eine kleine für Dessertgabeln, die kleinste für Mokkalöffel.
Vorsichtig fährt Pawel über den Rand der schmalsten Einbuchtung.
»Das ist es«, sagt er. Seine Hand zittert. »Ich weiß nicht, ob du das verstehen kannst«, sagt er, »aber du hast mich an den richtigen Ort gebracht.« Er legt Zeige- und Mittelfinger in die Mokkalöffelkuhle und sagt: »Wunderbar, hier kann ich rasten.« Dann greift er nach meiner Hand und legt meinen Zeigefinger zu seinem Zeigefinger, zwei Finger im Mokkalöffelbett, die einander näher nicht sein könnten, und flüstert: »Ich habe dich gesehen. Im Kaminsky-Park. Hinter dem Denkmal, immer wieder. Und im Krankenhaus sofort wiedererkannt. Ich hab dich gesehen und gedacht: Lass sie nicht krank sein. Bitte nicht. Lass sie einfach nur erschöpft sein. Und dann bist du aufgewacht. Meine Bitte wurde erhört.« Er lacht leise.
Er hatte mich die ganze Zeit beobachtet. Erschrocken ziehe ich die Hand aus der Besteckschublade.
»Deine Haut«, sagt er, »ist so weich wie in meiner Vorstellung. Ich habe dich oft berührt, öfter, als du ahnst.« Pawels Lippen dicht an meinem Ohr.
»Und ich hab alles notiert«, sagt er. »Ich schreibe auf, was mich berührt. Wie sich dieser Schrank anfühlt, die Besteckschublade, dein Zeigefinger, das notiere ich alles in einem Heft.«
Und da ist es, ganz ohne Vorankündigung: das Erkennen. Er ist wie ich. Ich bin wie er. Ich will es ihm sagen, doch ich bin unfähig zu sprechen, und in diesem Augenblick betritt die drahtige Verkäuferin den Raum.
»Wie kann ich Ihnen helfen?«, fragt sie in geschultem Küchenstudioberaterinnen-Tonfall. Sie fragt nicht, ob, sondern wie sie uns helfen kann, erwartet offenkundig eine Antwort.
Über dem Induktionsherd schwebt ein Beleuchtungs-Ufo mit Lamellen, die kleinen Flügeln ähneln. Ich deute darauf und frage: »Wozu sind die gut?«
»Das ist nicht nur Beleuchtung, das ist natürlich auch Dunstabzug«, sagt sie. »Natürlich«, murmle ich.
»Aerodynamische Formensprache, wie Sie sehen.«
In ihrer Stimme schwingt Stolz mit, so als hätte sie das Ding entworfen und eigenhändig zusammengeschraubt.
»Ich werde noch einmal darüber schlafen«, sage ich.
»Und was sagt der Herr Gemahl dazu?«, fragt die Verkäuferin.
»Kein Gemahl«, sage ich schnell, und Pawel sagt: »Ich bin Pfleger an der Magenbuch-Klink«, so als erkläre das alles.
»Aha«, sagt sie, und hinter ihrer Stirn drehen sich gut sichtbar kleine Rädchen. Ihr Missoni-Kleid ist so eng, dass sich ihre Hüftknochen abzeichnen, ich glaube sogar die Wölbung ihres Nabels zu erkennen.
»Darf ich Ihnen die Produktbeschreibung mitgeben?« Sie öffnet eine der Schubladen. Die Dunstabzugshaube mit den Flügellamellen heißt Lightening Angel. Sie überreicht mir einen Prospekt. Dann deutet sie auf die Tür. »Ich begleite Sie nach vorn«, sagt sie.
Ich wusste es: Sie wirft uns hinaus. Höflich, aber sie tut es.
Pawel greift wie selbstverständlich nach meiner Hand.
Im vorderen Verkaufsraum stehen mehrere Pärchen um eine Kücheninsel. Sie trinken aus langstieligen Gläsern und verstummen, als wir vorbeigehen.
»Danke für Ihren Besuch.« Aufgemaltes Lächeln. Schon stehen wir auf der Straße.
Du bist so wie ich, will ich zu Pawel sagen. Ich bin wie du. Seltsam wie du. Noch bevor ich den Mund öffnen kann, sieht Pawel auf seine Armbanduhr und sagt: »Es ist schon spät.« Der sinnloseste Satz der Welt. Und dann: »Ich muss in den Dienst.«
Hatte er nicht heute frei? So nahe ich ihm gerade noch im Küchenstudio war, so fremd ist er mir plötzlich an der frischen Luft. Ich bemühe mich, meine Enttäuschung hinunterzuschlucken. Er geht, ohne mich zu küssen, hebt nur kurz die Hand. Die kalte Verabschiedung drückt mich zu Boden, rund um mich ist es dunkel, und ich frage mich, wo er bleibt, mein Engel, mein Beleuchtungs-Engel, weshalb leuchtet er mir nicht.