WOAMMW.
Der Waggon schaukelte von neuem, ein weiteres lautes,
hämmerndes Krachen dröhnte durch die schale Luft. Der
Boden erzitterte unter ihren Füßen. Sherry erreichte die Tür und hieb auf den Schalter, um sie zu öffnen. Ihr Herz raste, Schweiß rann durch den Schmutz auf ihrem Gesicht.
Die Tür glitt auf - und da war Claire. Sie richtete ihre Pistole auf etwas, das Sherry nicht sehen konnte, etwas am Ende des Waggons.
Claires Blick huschte zu ihr, und ihre geschrienen Worte bebten vor Angst und Panik.
„Komm nicht raus! Mach die Tür zu!"
Sherry fasste nach den Kontrollen und zögerte aus Sorge
um Claire. Sie wollte sehen, was da war ...
Nur ein schneller Blick!
Sie reckte ihren Kopf vor, suchte nach der Ursache für Claires Angst, nach dem, was da auf den Zug eindrosch. Ein Geruch wie von Chemikalien und verbranntem Fleisch hatte sich über die schwach beleuchtete Plattform gelegt, ausgehend von -
Sherry schrie auf, als sie es sah, als sie das abgerissene, verkohlte Monster sah, das die U-Bahn zum Wanken brachte, nur durch eine Barriere aus Gitterstäben von ihnen getrennt.
Sie sah, wie seine riesigen Fäuste gegen die Stahlwandung des Zuges hämmerten, aber es war das Gesicht des Monsters, von dem sie den Blick nicht abwenden konnte.
Mr. X.
Die Haut war ihm vom Gesicht gebrannt, vom ganzen Leib.
Rauch stieg von dem geschwärzten, geschmolzenen Klum-
pen seines Schädels auf, doch die Augen waren noch lebendig - rot und schwarz und dampfend von beißendem Qualm
zwar, aber immer noch sehr lebendig.
„Sherry! Mach schon, los!", schrie Claire, ohne den Blick von dem rauchenden Ungeheuer zu nehmen, von seinem
furchtbaren, riesigen Körper, der mit metallisch roten Muskeln bedeckt war, so rot und verbrannt wie seine schrecklichen Augen.
Sherry hieb auf den Knopf, und die Tür schloss sich, während Claire anfing zu schießen.
Der Aufzug fuhr abwärts, aber nicht so, wie Leon es erwartet hatte, und nicht annähernd so schnell, wie es nötig gewesen wäre. Die breite Plattform glitt einen schrägen Tunnel hinab, wie ein Schlitten. Neongitter auf schwarzen Wänden glitten vorüber. Langsam.
„... noch vierzig Sekunden, um den Mindestsicherheitsab-
stand zu erreichen ..."
„Los, los, los!", keuchte Leon. Die zunehmende Angst, die auf sein Hirn einwirkte, ließ ihn alle Schmerzen in seinem Körper vergessen. Die Stimme hatte aufgehört, ihm zu sagen, dass er sich an der unteren Plattform melden solle, machte nur noch Durchsagen in zehnsekündigen Abständen. So sehr er
die wiederholten Aufforderungen zum Verlassen des Gefah-
renbereichs auch verflucht hatte, es war weit schlimmer, sie nicht mehr zu hören. Die Stille zwischen den Ansagen verriet ihm, dass er es gar nicht mehr zu versuchen brauchte.
So weit geschafft, und dann sterbe ich wegen eines lahmen Aufzugs ... Damit konnte er sich nicht abfinden. Er hatte zu viel durchgemacht. Der Autounfall, Claire, die Flucht und die Monster und Ada und Birkin ... er musste es schaffen, sonst war alles umsonst gewesen.
Unter der abwärts gleitenden Plattform schien kein richtiger Boden zu existieren, sonst hätte er es zu Fuß probiert - der Aufzug bewegte sich mittels einer Mechanik, die Leon sich nicht einmal entfernt vorstellen konnte, in Rinnen zu bewegen, die zu beiden Seiten in die Dunkelheit gefräst waren.
„... zwanzig Sekunden, um ..."
Leon begann zu zittern. Die Anspannung, die seine Mus-
keln erfasst hatte und sie verhärtete, erschwerte ihm das Atmen. Wie groß war der Mindestsicherheitsabstand? Wenn
diese kalte, unmenschliche Stimme bis null gezählt hatte, wie lange dauerte es dann noch bis zur Explosion?
Vollgas, sie sagte Vollgas ...
Der Zug würde schnell sein müssen. Und er hatte noch
zehn Sekunden, um ihn zu erreichen.
Der merkwürdige Aufzug setzte seine sanfte, gemächliche
Reise hinab ins Dunkel fort.
Die Tür glitt zu, und Sherry war in Sicherheit. Für den Augenblick wenigstens. Claires Gedanken jagten sich auf Hoch-touren, gingen blitzschnell ihre Optionen durch.
Darf nicht zulassen, dass er den Zug aus den Gleisen he-belt!
Sie wusste, dass sie nicht darauf hoffen konnte, das Unge-tüm zu verletzen, aber vielleicht war sie in der Lage, es lange genug abzulenken, so dass sie entkommen konnten. Sic
wünschte. Sherry die einfache Steuerung des Zuges gezeigt zu haben, wünschte, dass der Zug schon in Bewegung wäre
und Sherry in Sicherheit brächte -
- aber das hab ich nicht und wir müssen los. JETZT.
Die Banddurchsage zählte die letzten zehn Sekunden, die
noch blieben, um den Mindestsicherheitsabstand zu errei-
chen. Als die rauchenden Überreste von Mr. X der verbeulten U-Bahn-Wandung einen weiteren Hammerschlag versetzten,
zielte Claire auf seinen mutierten Schädel und drückte ab.
Fünf Schüsse. Vier davon klatschten in das bizarre Materi-al, das sein Fleisch war, etwa dort, wo sich bei einem Menschen die Ohren befanden. Die fünfte Kugel ging fehl, und als das explosionsartige Donnern durch die Schatten der kalten Plattform hallte, wandte sich das Ding, dem sie den Namen Mr. X verpasst hatte, langsam zu ihr um.
Was ist denn jetzt?
Die aufgezeichnete Frauenstimme lenkte Clairc für einen
Sekundenbruchteil ab, als Mr. X einen Schritt auf sie zumachte, einen schwerfälligen, monströsen Schritt, der ihn aus den Schatten trug.
.....drei. Zwei. Eins. Sie müssen den Mindestsicherheitsabstand jetzt erreicht haben. Selbstzcrstörung in fünf Minuten.
Noch fünf Minuten bis zur Detonation."
Die Alarmsirenen plärrten unvermindert, aber die Stimme
war verstummt. Claire hätte es ohnedies nicht bemerkt, ihr schreckgeweiteter Blick war ganz auf das Ungeheuer fixiert.
Es war der Gestalt gewordene Albtraum. Seine nach wie vor menschlichen Konturen verstärkten diesen Eindruck nur noch, wie eine Verhöhnung der Wirklichkeit, der Vernunft. Trotz der verkohlten, qualmenden Flecke, die den Großteil seines Körpers bedeckten, hatte sein widernatürliches Fleisch nichts von seiner Elastizität eingebüßt - das rötliche Material unter den Verbrennungen beugte und straffte sich wie echtes Mus-kelgewebe. Das Wesen sah aus wie ein gehäuteter Riese, der unter einem brennenden Gebäude hervorgekrochen war - und wenn es bei dem Bad in geschmolzenem Metall Schaden genommen hatte, so konnte Claire es nicht erkennen.
Ein weiterer, mächtiger Schritt, die Kreatur hob die Arme, das Gittertor wurde herausgerissen, und die Eisenstäbe krachten auf den Beton.
Wenigstens ist es langsam, immerhin etwas.
Es war das Einzige, was für sie zu Buche schlug. Claire eilte auf die U-Bahn-Tür zu. hatte immer noch Angst, aber das qualmende Ungeheuer war langsam, stark zwar, aber offenbar nicht imstande, sich wirklich geschmeidig zu bewegen -
- doch plötzlich ging Mr. X nicht mehr einfach nur, er
beugte die Hüften, beugte die Knie -
und stieß sich mit einem dynamischen Satz vom Boden
ab, so kraftvoll, dass er dabei Furchen in den Beton riss. De-formierte Füße katapultierten das Wesen auf Claire zu. die noch in vollem Lauf war.
Ohne zu denken, wich Clairc nach rechts aus und startete hinter dem geduckt springenden Ungeheuer durch, rannte so schnell sie nur konnte. Es erwischte sie dennoch beinahe, seine Reflexe waren schneller als schnell - als hätte der Verlust seiner Hülle es irgendwie befreit, als hätte das flüssige Metall es abgeschält bis auf den Kern seiner Kräfte.
Als Claire über das zerborstene Tor in die Schatten sprang, hörte sie das Kreischen, mit dem Finger, die nicht aus Fleisch waren, über den Beton scharrten. Sic sah, dass Mr. X einen seiner gewaltigen Arme hochgerissen hatte und dort ins Leere schlug, wo sie eine Sekunde zuvor noch gewesen war. Er hatte vor, sie aufzuschlitzen.
Aber warum? Ich habe kein G-Virus mehr, es besteht kein Grund -
Claire rannte tiefer in die hallende Finsternis, während die Bandstimme sie ruhig informierte, dass ihnen noch vier Minuten Zeit blieben.
..Noch vier Minuten bis zur Detonation ..."
Scheiße scheiße scheiße!
Gerade als Leon dachte, der Frust würde ihm einen Schlaganfall bescheren, kam der Aufzug endlich zum Halten. Er riss am Griff einer dicken Metalltür, spannte seine Muskeln, um loszurennen -
- und die Tür öffnete sich in der Wand eines Ganges, eines sterilen Betonkorridors, der erhellt wurde von flackernden Deckenleuchten. Es gab keine Hinweise, die Leon verraten hätten, welchen Weg er nehmen sollte.
Links oder rechts?
Die paar Sekunden, die er zögerte, konnten ihn das Leben kosten -falls er überhaupt noch eine Chance hatte.
Er hatte einmal gehört, dass Menschen, wenn sie vor die
Wahl gestellt werden, sich instinktiv für die Richtung entschieden, die ihrer dominierenden Hand entsprach. In Anbetracht des lausigen Glücks, das ihm in dieser langen, langen Nacht in Raccoon beschieden gewesen war, entschied er sich jedoch, die andere Richtung zu wählen.
Er war Rechtshänder - also links. Leon rannte los. Seine Stiefel hämmerten über den Boden, und er fragte sich, ob sich alle Mühe überhaupt noch lohnte.
Nicht weit hinter dem zerstörten Tor erkannte Claire einen Übergang, der über die Schienen hinwegführte. Die nach
oben führende Treppe lag in tiefe Schatten gehüllt.
Claire hörte das Stampfen von Mr. X, als er ihr folgte, jeder seiner raumgreifenden Schritte ein brutaler Hieb mutierten Fleisches auf Zement. Das Entsetzen trieb sie voran, ihre Füße berührten kaum den Boden, es war ihr egal, ob sie in der tiefer werdenden Dunkelheit mit dem Gesicht voraus gegen eine Wand rennen würde. Vielleicht wäre das sogar am besten; ihr Verfolger war wahnsinnig stark, er war schnell, es war unmöglich, ihn zu töten - sie hatte keine Chance, wenn er sie erwischte.
Und die Schritte wurden lauter, schneller, Claire hörte das reißende Kratzen klauenbewehrter Pranken, die den Beton
aufpflügten. Sic hatte vielleicht noch eine Sekunde, bis diese Klauen in ihr wühlen würden -
- und sie wich wieder nach rechts aus, warf sich in etwas wie ein dunkles Loch direkt neben der Treppe. Mr. X jagte vorbei, ein gigantischer, hochaufragender Schemen. Claire fühlte sogar den Windzug seiner sich bewegenden Hand über ihr Bein streichen, als sie auf den kalten Boden prallte.
Stechender Schmerz schoss durch ihren Arm, ihr Ellbogen
war hart aufgeschlagen. Sie achtete nicht darauf, sprang wieder hoch, suchte im Dunkeln nach dem Monster.
Kann ihn nicht sehen. Sieht er mich?
Ihre Hand fand rechts eine schräge Wand, hinter sich und links spürte sie Beton. Sie befand sich in dem Raum unter der Treppe, und sie hatte keine Ahnung, wo der unglaublich leise Mr. X war; aller Schatten würde ihr nichts nützen, wenn er im Dunkeln sehen konnte.
Claire fuhr mit den Händen über die Wände, fand einen
Schalter und drückte ihn. Die Konsistenz der Schatten veränderte sich, als trübes Licht von oben herabsickerte - und sie sah das Monster, keine fünfzehn Schritte entfernt, gerade, als es sich umdrehte. Sein roter Blick strich über die verlassene Plattform -
- und fand Claire. Fixierte sie. Das einzige Geräusch war ein leises Knacken, das von dem immer noch rauchenden
Fleisch ausging - bis die Kreatur einen Schritt in Richtung der Treppe tat und der Beton unter einem ihrer purpurnen Beine knirschte.
Noch sechs oder sieben Schuss übrig - schieß auf die Augen!
Schnell trat Claire aus den Schatten. Sie hob Irons' Waffe, drückte ab und wich zur Treppe zurück.
Bamm-bamm-bamm!
All dem zum Trotz positionierte sich Mr. X für einen weiteren Angriff. Die Kugeln schlugen in sein zerschmolzenes Gesicht, zwei prallten von dem Material seines Schädels ab, als handele es sich um ein schützendes Visier.
... bamm-bamm ...
Clairc war an der Treppe, stieg seitwärts eine Stufe hoch.
Die Kugeln richteten nichts aus, Mr. X machte sich bereit, mit weiten Sätzen loszuhetzen. Er würde bei ihr sein, bevor sie sich umdrehen konnte, bevor sie es schaffte, die Treppe zu überwinden.
Ich werde sterben ...
... aber wenigstens werde ich ihn vorher verletzen!
Mr. X machte zwei kraftvolle Schritte, halbierte die Distanz zu ihr, während Claire zielte, entschlossen, mit den letzten Schüssen etwas zu bewirken. Sie würde sterben, doch ihr Bedauern galt nur Sherry, ihr einziger Wunsch war. dass es ihr gelänge, den Albtraum X außer Gefecht zu setzen, bevor er das Mädchen umbrachte.
324
Sie schoss, und das linke Auge des Monsters explodierte.
Ein Schwall tintiger Flüssigkeit spritzte über sein schreckliches, unmenschliches Gesicht.
Ja!
Mr. X wankte nach rechts, blieb zwar nicht stehen, kam
aber nicht mehr schnurstracks auf sie zu - doch er würde immer noch am Fuß der Treppe anlangen. Sie musste versu-
chen, das andere Auge zu erwischen, und sie hatte noch etwa zwei Sekunden!
Clairc nahm ihr Ziel aufs Korn und -
Klick!
E s war kein Schuss mehr übrig, und das Ungeheuer prallte gegen das untere Ende der Treppe. Der Geruch verbrannten Fleisches spülte über Claire hinweg, als es seine gewaltigen Hände hochriss, und sein riesenhafter, schrecklicher Körper war alles, was sie sehen konnte.
Claire rollte die Steinstufen hinunter, krümmte sich zusammen, schrie, als Mr. X' raue. klauenbewehrte Pranke über ihren linken Oberschenkel fuhren - und eine ferne Stimme ihr mitteilte, dass ihr noch drei Minuten bis zum Ende ihres Lebens blieben.
E i n u n d d r e i s s i g
Er war den falschen Weg gegangen. Biegungen und Abzwei-
gungen des kalten, leeren Ganges hatten Leon schließlich zu einem Lagerraum geführt - der sich als Sackgasse erwies.
.....noch drei Minuten bis zur Detonation ..."
Leon wandte sich zurück in die Richtung, aus der er ge-
kommen war, und mit, wie ihm schien, letzter Kraft zwang er sich zu einem taumelnden Lauf. Er war zu erschöpft, um Enttäuschung zu empfinden, um sich seines drohenden Todes
wegen zu sorgen, um sich zu wünschen, dass alles anders
sein möge; es bedurfte all seiner Energie, um einfach nur in Bewegung zu bleiben.
Er würde es schaffen oder nicht - wie es auch ausgehen
mochte, er glaubte nicht, dass es ihn überraschen würde.
Claire erreichte den Fuß der Treppe und richtete sich auf.
Blut rann ihr in heiß pulsierendem, stechendem Schmerz das Bein hinab. Sic taumelte zur Seite, offenbar war nichts gebrochen -
- aber sie wusste. dass ihr zerschundenes Bein nur der Anfang dessen war, was Mr. X ihr antun würde, nur der Auftakt für den wahren Schmerz.
Das Ungetüm war immer noch über das Treppengeländer
gebeugt, doch als sie forttaumelte, auf das zerstörte Tor zur Plattform zu, stieß es sich ab. Mr. X drehte seinen gewaltigen Leib in ihre Richtung, und aus der Schwärze seiner leeren Augenhöhle troff dunkle, blutige Flüssigkeit. Er würde seine veränderten Sinne kompensieren, dessen war sie sich sicher er würde sie kompensieren, sich neu orientieren und ihr aufs Neue nachjagen - und er würde sie abschlachten, weil er eine gnadenlose Maschine war. Es gab nichts, was sie tun konnte, um ihn aufzuhalten.
Wenn ich Glück habe, werde ich durch die Explosion sterben.
Claire stolperte über das Gitter des Tores, konnte sich kaum aufrecht halten. Blut sprühte zu Boden, als sie ein weiteres Mal taumelnd stehenblieb.
Bitte, mach, dass es schnell geht...
„Hier! Benutz das!"
Clairc kreiselte herum, sah, dass Mr. X sich für seinen tödlichen Schlag in Positur brachte - und sah weit oben die Silhouette, auf der Konstruktion über den Schienen. Die Stimme einer Frau, die Konturen einer Frau. Die schemenhafte Gestalt warf etwas herab -
Wer ist das...?
- das über den Beton klapperte und zwischen Claire und
Mr. X landete. Es war Metall, es war silbern - sie hatte so etwas schon in Filmen gesehen ... Es war ein Maschinengewehr!
Claire rannte darauf zu. Eine weitere letzte Hoffnung, eine weitere Chance, so klein sie auch sein mochte, dass sie und Sherry überleben würden.
Claire erreichte die Waffe, ließ sich fallen, sah, wie sich Mr. X auf sie zuschob, und das Dröhnen seiner Schritte ließ den Boden erbeben.
Sie nahm die schwere Waffe auf, stieß sich vom Boden ab, rollte auf den Rücken, und ihre zitternde Hand fand den Abzug. Ihr Körper bewegte sich so, dass sie die Waffe in An-schlag bringen konnte. Gegen den Boden gestemmt, legte sie die Arme um das kalte Metall und zielte.
Bitte... bitte
Das Monster war nur noch einen Schritt weit entfernt, als sich der Kugelhagel krachend aus der Waffe entlud, eine rasselnde, ratternde Serie winziger Explosionen, die Claires Körper durchschüttelte - und in die Eingeweide der Bestie einschlug. Die schiere Gewalt so vieler Kugeln stoppte das Monster inmitten seiner Bewegung - und drängte es zurück.
Tattatattatatta ...
Claire spürte, wie sich das vibrierende Metall rüttelnd aus ihrem Zugriff befreien wollte, also packte sie es noch fester.
Der Kolben der Waffe hämmerte in irrsinnigem Rhythmus
gegen den Boden. Noch immer klatschten die Kugeln in den Bauch der Kreatur, so schnell und so viele, dass Claire ihre eigenen keuchenden Schreie der Wut. des Schmerzes und der Erregung nicht mehr hörte.
Mr. X versuchte trotz allem, sich nach vorne zu bewegen, aber etwas Seltsames geschah, etwas Seltsames und zugleich
... Herrliches. Seine Eingeweide wurden von dem endlosen Geschossstrom zerfetzt, der Mittelteil seines Körpers sank ein, und schwarze Flüssigkeit ergoss sich aus der fransigen, wachsenden Wunde über die untere Hälfte des Leibes. Mr. X'
Mund stand offen, ein leeres Loch, genau wie seine Augen-höhle - und wie aus der Augenhöhle quoll auch hier eine
zähe Flüssigkeit hervor und bedeckte sein mitleidloses Gesicht.
Tattatattatat...
Claire gab nicht nach, lenkte den Bleihagel, sah zu, wie die Kreatur versuchte, der pulsierenden, krachenden Endlossalve zu widerstehen. Sah zu, wie sie blutete. Sah zu, wie sie zu —
kondensieren schien, wie ihr klobiger Körper sich krümmte, ihr Torso nach unten sank.
Noch immer flogen die Kugeln. Mr. X hob die Arme -
- und zerfiel in zwei Hälften.
Claire nahm den Finger vom Abzug, als der Oberkör-
per des Ungeheuers zu Boden kippte, ein feuchtes Waschsch schweren Fleisches, und seine Beine nachgaben und zur Seite fielen. Aus beiden Hälften ergoss sich noch mehr von seinem eigenartigen Blut. Pfützen glänzender Schwärze bildeten sich um die monströsen Teile seines zerbrochenen Leibes, bildeten stinkende Lachen. Die Kreatur war tot - und selbst wenn sie es nicht war, kam es darauf nicht mehr an. Wenn das Ungetüm sich nicht so schnell über den Boden ziehen konnte, wie Claire rannte, war ihr Kampf mit dem schaurigen Myste-rium namens Mr. X endlich vorbei ...
Zum Teufel damit, du hast keine Zeit - BEWEG DICH!
Claire kam binnen einer Sekunde auf die Beine, ignorierte das Schmatzen des Blutes in ihrem Stiefel und den Schmerz, der es verursacht hatte. Ihr Blick suchte die obere Plattform nach ihrer unbekannten Retterin ab. Doch da war niemand
mehr, und sie wusste nicht, ob eine weitere Minute vertickt war; die aufgezeichnete Stimme war im MG-Feuer unterge-gangen.
„Hey!", rief Claire, während sie rückwärts zur U-Bahn zu-rückwich. „Wir müssen jetzt los!"
Keine Antwort, kein Laut, nur das Klingeln in ihren Ohren und das Echo ihrer zitternden Worte. Wenn sie Sherry retten wollte, dann ...
Claire drehte sich um und rannte.
„... zwei Minuten bis ..."
Leon zwang sich, schneller zu gehen. Der gewundene
Tunnel war ein verwaschenes, graues Etwas, das an seiner schmerzenden, atemlosen Wahrnehmung vorbciwirbelte. Er
hatte den Überblick verloren über all die Abzweigungen und Biegungen des Ganges, und seine Hoffnung nahm rasant ab.
Eine Stimme weit hinten in seinem Schädel sagte ihm, dass es vielleicht am besten wäre, stehenzubleiben, sich hinzuset-zen und auszuruhen -
- doch dann hörte er es, und das winzige, verzweifelte
Flüstern in ihm wurde von dem Geräusch übertönt.
Dem Geräusch schwerer Maschinen, die zum Leben er-
wachten, irgendwo vor ihm, unweit ...
Der Zug! Schneller!
Seine Beine wie weit entfernt und gummiartig, seine Lun-
gen pumpend, sein Herz hämmernd ... egal, was er tat, es war vorbei.
Z W E I U N D D R E I S S I G
Clairc stürmte in den Zug, ein riesiges Gewehr in Händen, ein Bein blutbedeckt, und hielt kaum inne, um den Türschlie-
ßer zu drücken, ehe sie zur Fahrerkabine weiterrannte. Sherry wusste, dass sie in Schwierigkeiten steckten, dass es knapp werden würde, deshalb verschwendete sie keine Zeit auf Fragen. Sie folgte Claire, grenzenlos erleichtert, dass sie okay war, behielt es jedoch für sich.
Okay, sie ist okay, und jetzt verschwinden wir ...
Eine leise, blecherne Version der Bandstimme und der Sirenen schepperte aus dem Armaturenbrett des winzigen Raumes.
„... zwei Minuten bis zur Detonation ..."
Claire hatte das komisch geformte Gewehr fallen lassen
und drückte Knöpfe, betätigte Schalter; ihre Aufmerksamkeit war ganz auf die Konsole gerichtet. Plötzlich hüllte ein mächtiges mechanisches Brummen sie ein, ein anschwellendes
heulendes Rumpeln, das Claire mit den Zähnen knirschen
ließ. Sherry konnte nicht sagen, ob es ein Lächeln war, aber sie lächelte, als sie spürte, wie ein Ruck durch den Zug ging und er sich in Bewegung setzte, fort von der Plattform.
Claire drehte sich um, sah Sherry hinter sich stehen und versuchte zu lächeln. Sie legte eine Hand auf Sherrys Schulter, sagte aber nichts - und so schwieg Sherry ebenfalls und wartete, was geschehen würde.
Der Zug wurde allmählich schneller, glitt an schwach er-
hellten Gängen und Plattformen vorbei. Der Tunnel vor ihnen war dunkel und hoffentlich leer. Die Wärme von Claires
Hand erinnerte Sherry daran, dass sie Freunde waren, dass, was auch passieren würde, Claire ihre Freundin war -
- und sie sah einen Mann, einen Polizisten, vor ihnen in ihr Blickfeld taumeln, und dann glitt der Zug an ihm vorbei. Seine Augen waren groß und suchend und verzweifelt in dem
schmutzigen Gesicht.
„Claire!"
„Ich sehe ihn -"
Claire wandte sich um und rannte aus der Kabine. Ihre
Schritte klapperten durch den Waggon, sprinteten zur Tür. Sie drückte den Öffner, und die Tür glitt auf. Die dröhnenden, mahlenden Geräusche der U-Bahn wogten von draußen herein.
„Leon!", schrie sie. „Beeil dich!"
Sie zuckte zurück, als eine Wand vorbeiglitt, wirbelte herum und wirkte ebenso verzweifelt wie dieser Mann - Leon.
Nach einer weiteren Sekunde drehte sie sich erneut um und schloss die Tür.
„Hat er es geschafft?", fragte Sherry, und noch während ihr die Worte aus dem Mund kamen, wurde ihr bewusst, dass
Claire das unmöglich wissen konnte.
Clairc kam zu ihr und legte einen Arm um sie, während der Zug schneller wurde, und ihr Gesicht verkrampfte sich vor Sorge -
- und die Bandstimme sagte ihnen, dass ihnen noch eine
Minute blieb -
- und die hintere Tür des Waggons öffnete sich. Leon
wankte herein, seinen Arm in einen zerfetzten, fleckigen Verband gewickelt, sein Haar mit dunkler, getrockneter Schmiere verklebt, seine Augen strahlend blau in der Maske aus Dreck.
„Vollgas!", rief er. Claire nickte, und Leon stieß heftig den Atem aus. Er taumelte auf sie zu, der Zug ruckte hin und her, raste jetzt raketenhaft durch den Tunnel. Leon legte seinen Arm um Claire, und sie drückte sich fest an ihn.
„Ada?", flüsterte Claire. „Ann - die Wissenschaftlerin?"
Leon schüttelte den Kopf, und Sherry sah, dass er fast
weinte. „Nein. Ich konnte nicht - nein ..."
„... dreißig Sekunden bis zur Detonation. Neunundzwanzig
... achtundzwanzig ..."
Die Frauenstimme zählte weiter, die Zahlen schienen dop-
pelt so schnell zu kommen, als sie es sollten, und Sherry vergrub ihr Gesicht in Claires warmer Seite und dachte an ihre Mom. An Mom und Dad. Sie hoffte, dass sie es geschafft hatten, dass sie irgendwo in Sicherheit waren -
- aber das sind sie vermutlich nicht. Sie sind wahrscheinlich tot.
Sherry konnte Claires Herz klopfen hören, und sie umarm-
te ihre Freundin fester; sie würde später darüber nachdenken.
„... fünf, vier, drei, zwei, eins. Sequenz komplett. Detonation."
Eine Sekunde lang herrschte völlige Stille. Der Alarm hat-te endlich aufgehört, und die rumpelnde Bewegung des da-
hinrasenden Zuges war alles, was zu hören war -
- doch dann gab es eine Explosion, ein gedämpftes Ge-
räusch, ein Schuump, das anschwoll, gewaltig wurde.
Sherry schloss die Augen. Plötzlich erbebte der Zug ganz fürchterlich, und sie wurden alle auf den Metallboden geworfen. Grelles, brennendes Licht flackerte durch das Fenster herein, Lärm wie von einem Autounfall wurde um sie her laut, schwere Wumps regneten auf das Dach nieder -
- und der Zug fuhr weiter. Er fuhr weiter, und das Licht verging, und sie waren nicht tot.
Der blendende Blitz löste sich auf, verging, und Leon spürte, wie die Anspannung von seinem Körper abfiel. Er rollte sich auf die Seite und sah, wie Claire sich aufsetzte und nach der Hand des Mädchens neben ihr fasste.
„Okay?", fragte Claire die Kleine, und das Kind nickte.
Beide wandten sie sich ihm zu, ihre Gesichter drückten aus, was sie empfanden - Schock, Erschöpfung, Fassungslosig-keit, Hoffnung.
„Leon Kennedy, das ist Sherry Birkin", sagte Claire. Sie sprach die Worte behutsam aus, legte eine leichte Betonung auf „Birkin". Er verstand die Message auch ohne ihren scharfen Blick und gab ihr mit einem Nicken zu verstehen, dass er Bescheid wusste. Dann lächelte er dem Mädchen zu.
„Sherry, das ist Leon", fuhr Claire fort. „Wir sind uns begegnet, kurz nachdem ich in Raccoon eingetroffen war."
Sherry erwiderte sein Lächeln, ein müdes, zu erwachsenes Lächeln, das fehl am Platze schien; sie war zu jung, um so zu lächeln.
Noch eine verdammte Untat, die Umbrella anzulasten ist -
einem Kind die Unschuld zu stehlen ...
Ein paar Sekunden lang saßen sie einfach so am Boden,
starrten einander an, und das Lächeln schwand aus ihren Gesichtern. Leon wagte kaum zu hoffen, dass es wirklich vorbei war - dass sie das Entsetzen tatsächlich hinter sich ließen.
Abermals sah er eine Widerspiegelung seiner Gefühle auf
Sherrys sorgenvoll gefurchter Stirn und in Claires müden grauen Augen -
- und als sie das ferne Quietschen von Metall hörten, das von irgendwo aus dem hinteren Teil des Zuges zu ihnen
drang, bemerkte er keinerlei Überraschung. Ein reißendes Kreischen - gefolgt von einem schweren, irgendwie verstoh-lenen Wump - und dann nichts mehr.
Hätte wissen müssen, dass es nicht vorbei ist...
„Ein Zombie?", flüsterte Sherry, und ihre Worte gingen fast unter im dumpfen Rattern des rasenden Zuges.
„Ich weiß es nicht, .Schätzchen", sagte Claire leise, und jetzt erst sah Leon, dass ihr linkes Bein aufgerissen war -
Blut quoll aus mehreren Kratzern; er war bisher zu verblüfft gewesen über seine ... über ihre knappe Flucht, um es eher zu bemerken.
„Wie war's, wenn ich mal nachsehe?", meinte Leon. Er hatte Claires Stichwort verstanden, hielt seine Stimme leise und gleichmäßig. Es brachte nichts, Sherry noch mehr zu verängstigen. Er stand auf und wies mit einem Nicken auf Claires Bein.
„Sherry, warum bleibst du nicht hier bei Claire und hältst ihr Bein im Auge? Vielleicht finde ich ja etwas Verbandsma-terial, während ich mich da hinten umschaue. Pass auf, dass sie sich nicht bewegt, okay?"
Sherry nickte, ihr kleines Gesicht angespannt vor Ent-
schlossenheit, und auch für diesen Ausdruck war sie zu jung.
„Geht klar."
„Ich bin gleich wieder da", sagte Leon, wandte sich dem rückwärtigen Bereich des schwankenden Raumes zu, betete, dass es nichts weiter war, und wusste es doch längst besser, als er nach der Remington griff und losging.
Leon öffnete die Tür. Die Geräusche des fahrenden Zuges
verstärkten sich eine Sekunde lang, bis die Tür sich hinter ihm wieder schloss. Von ihrer Position am Boden aus konnte Claire nicht sehen, wie er den nächsten Waggon betrat, und sie wünschte sich, sie wäre in der Lage gewesen, mit ihm zu gehen - denn wem sich noch etwas anderes im Zug befand,
war Sherry nicht sicher, dann war keiner von ihnen sicher ...
So darfst du nicht denken, es ist nichts. Es ist vorbei!
So wie es mit Mr. X vorbei war?
„Was soll ich tun?", fragte Sherry und erlöste Claire damit von den entmutigenden Gedanken. „Fest drücken, richtig?"
Claire nickte. „Normalerweise ja, nur dass wir beide ziemlich schmutzig sind, und ich glaube, das Blut gerinnt schon.
Lass uns abwarten, ob Leon mit etwas Sauberem zurück-
kommt ..."
Sie verstummte, ihre Gedanken kehrten zurück zu Mr. X.
Irgendetwas nagte in ihr, aber sie war zu benommen von dem Blutverlust.
Das G-Virus. Er war hinter dem G-Virus her.
Warum aber war Mr. X dann zur U-Bahn-Plattform gekommen? Warum sonst hätte er versuchen sollen, in den Zug zu gelangen, wenn nicht weil
Claire kam mühsam hoch, bekämpfte das Schwindelgcfühl
in ihrem Kopf und den pochenden Schmerz in ihrem Bein.
„Hey, nicht bewegen", sagte Sherry, ein Ausdruck tiefer Sorge in den Augen. „Leon sagte, du sollst ruhig liegen bleiben!"
Sie hätte es vielleicht geschafft, ihre physischen Probleme zu überwinden, aber Sherry am Rande einer Panik zu sehen, das war zu viel. Wenn eine G-Virus-Kreatur an Bord war, wenn das der Grund war, weshalb Mr. X gekommen war, würde Leon sich dieser Sache allein stellen müssen. Sie
konnte Sherry nicht verlassen. Wenn Leon nicht zurückkam, musste sie herausfinden, wie man ihren Waggon abkoppelte oder den Zug stoppte, damit sie aussteigen konnten, ehe das Wesen zu ihnen vordrang ...
Claire schaltete ihr Denken ab und zwang sich, Sherry zu-liebe, zu einem Lächeln. „Ja, Ma'am. Ich wollte mich nur vergewissern, dass er durch den zweiten Waggon gekommen
ist ..."
Sie konnte Erleichterung über Sherrys Gesicht huschen sehen. „Oh. Vergiss es. Ich kümmere mich jetzt um dich, und ich sage dir, du bleibst ruhig liegen."
Claire nickte abwesend, hoffte, dass sie sich irrte, hoffte, dass Leon gleich wieder zurückkommen würde -
Bamm! Bamm! Bamm!
Das Krachen der Remington war laut und deutlich. Sherry
packte ihre Hand, als zwei weitere Schüsse die Hoffnung aus Claires benebeltem Kopf bliesen. Und der Zug raste weiter durch das Dunkel.
Der zweite Waggon war leer - noch immer derselbe weite,
offene Raum, durch den Leon den Zug betreten hatte. Staubiger Stahl und sonst nicht viel. Wer dieses Fluchtvehikel auch entworfen hatte, er hatte offensichtlich geplant, die Umbrclla-Mitarbcitcr wie Ölsardinen hineinzupacken.
Sind aber nur wir drei - und unser blinder Passagier...
Es war nichts zu sehen, trotzdem ging Leon langsam wei-
ter. Vorsichtig durchforstete er die dunklen Ecken und wappnete sich für was auch immer sich im letzten Wagen befinden mochte. Was es auch war, es konnte nicht so schlimm sein wie das Ding, das ihn zuvor angesprungen hatte, das Birkin-Ding - wenn es das denn gewesen war. Der Gedanke, dass
die Kreatur irgendetwas mit Claires junger Freundin zu tun hatte, war zutiefst beunruhigend, obszön geradezu. Ein
Monster und eine Wahnsinnige, beide tot, beide die Eltern eines kleinen Mädchens ...
Er erreichte das hintere Ende des düsteren, schaukelnden Waggons, spähte durch die Tür und verdrängte alle anderen Gedanken, während er versuchte, im letzten Wagen irgendetwas auszumachen. Da war Dunkelheit und sonst nichts.
Verdammt.
Vielleicht gab es ja nichts zu sehen, aber er musste nachschauen. Er spürte, wie sein Herz frisches Adrenalin durch seinen Körper zu pumpen begann, spürte, wie die Müdigkeit von ihm wich. Nichts, es war bestimmt nichts, aber er hatte ein ungutes Gefühl. Etwas stimmte nicht.
Leon holte tief Luft und öffnete die Tür, trat hinaus ins Freie, zwischen die Waggons, in die laute, peitschende Brise, und hielt sich am Geländer fest. Das Rattern des Zuges übertönte das Pochen seines Herzens, als er sich auf den letzten Wagen zubewegte, die Tür öffnete und ins Dunkel trat.
Augenblicklich hob er das Gewehr, all seine Sinne dräng-
ten ihn zu rennen, als die Tür hinter ihm zuglitt. Er fasste nach hinten, tastete nach einem Lichtschalter. Dunkelheit.
Aber da war ein kräftiger Geruch nach Bleichmittel oder
Chlor, und da war ein leises feuchtes Geräusch, das Geräusch von Bewegung ...
In der Mitte des Waggons flackerte eine einzelne nackte
Glühbirne auf, nachdem Leon einen Schalter gefunden hatte, und eine Sekunde lang glaubte er, den Verstand verloren zu haben.
Da war ... ein Ding. Eine Kreatur, die nicht einmal entfernt menschlich war, bis auf einen seltsamen, pulsierenden Tumor, der ihr aus einer Seite ragte, ein glatter Ball, der sehr nach einem Auge aussah.
Birkin.
Die Kreatur war ein riesiger, langgestreckter dunkler Klumpen schleimiger Materie, der sich über die Breite des Waggons erstreckte. Leon vermochte nicht zu sagen, wie groß das Gebilde war. Aus dem Birkin-Ding ragten dicke Stränge.
Tentakel aus feuchtem, elastischem Schleim hingen an allen möglichen Stellen des Raumes vor dem Monster - an der Decke, den Wänden, am Boden. Und während Leon sie ansah,
zog sich die fremdartige Bestie nach vorne, die dunklen
Gliedmaßen kontrahierten, brachten die Körpermasse ein
paar Fuß weiter nach vorne.
Nein, er war nicht verrückt. Er sah es tatsächlich, sah diese brackigen, sich bewegenden Farben, schwarz, grün und purpurn, in den Tentakeln, als sie sich wieder streckten. Das dickflüssige Material saugte sich irgendwie am Metall des Wagens fest, zog den Klumpen noch ein Stück weiter. Der
Leib selbst war kaum mehr als ein klaffender Rachen, eine feuchte Höhle, die noch Zähne hatte.
Es würde ihn, Leon, ziemlich bald erreicht haben, wenn er sich nicht aus seiner Erstarrung löste.
Er zielte in das riesige Loch des Mauls und drückte ab, lud durch, schoss, lud, schoss -
- und dann war die Shotgun leer, und das gigantische, halb-flüssige Ding bewegte sich immer noch stetig voran.
Leon wusste nicht, wie es zu töten war, wusste nicht, ob die Kugeln es überhaupt verletzt hatten. Seine Gedanken rasten auf der Suche nach einer Antwort, nach einer Lösung, die das entsetzliche Leben des G-Virus-Monsters hätte beenden können. Er wäre imstande gewesen, den letzten Waggon abzu-
hängen, die Bolzen und Ketten zu zerschießen, die diesen Wagen mit dem anderen verbanden, wenn er denn die Kupp-lung fand -
- aber dann wäre es immer noch am Leben und würde sich
weiter verändern in der Schwärze des Tunnels, es würde zu etwas Neuem werden ...
Die hingestreckte, elastische Masse der formlosen Gestalt bewegte sich zentimeterweise voran. Leon fasste nach dem Türöffner. Er musste versuchen, den Waggon abzuhängen, es blieb ihm keine andere Wähl.
Es sei denn ...
Er zögerte, dann zog er seine Magnum aus dem Holster
und richtete sie auf das unmögliche Gebilde. Auf den seltsamen Tumor, der aus einem Schlitz in dem gummiartigen
Fleisch lugte, dieses Auge, das Teil jeder Gestalt gewesen war, die Birkin bislang angenommen hatte. Er zielte sorgfältig und -
-BAMMM!
Die Wirkung zeigte sich umgehend und war absolut. Das
schwere Geschoss durchschlug die feuchte Kugel - und ein zischendes, kreischendes Heulen entfuhr dem zahnbewehr-ten Rachen, unirdisch, wie das Heulen von etwas Mechani-
schem oder Wahnsinnigem. Die Ranken unförmiger Substanz
schrumpften, wurden schwarz, vertrockneten -
- und das Ding implodierte, zog sich in sich selbst zurück, verdorrte zu einer dampfenden, schwarzen Masse von weniger als einem Viertel ihrer ursprünglichen Größe. Wie ein Strandball, aus dem man die Luft herausließ, verschrumpelte und schrumpfte der geleeartige Klumpen, kollabierte, wurde flacher und verlor sich geifernd in einer großen Lache blubbernden Schleimes.
„Saug dich daran fest", sagte Leon leise. Die letzten Blasen zerplatzten, die Lache war nur mehr ein totes, unbeseel-tes Etwas. Er betrachtete es ein paar Augenblicke lang und dachte an gar nichts - dann machte er sich schließlich auf, um zu den anderen zurückzukehren und ihnen zu sagen, dass es vorbei war.
Mein erster Arbeitstag, dachte er.
„Ich will eine Gehaltserhöhung", murmelte Leon zu sich selbst und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, ein mü-
des, sonniges Grinsen, das rasch verging ... doch in den wenigen Sekunden, die es währte, fühlte Leon sich so gut wie lange nicht mehr.
Leon war zurück. Er hatte einen Overall gefunden, den er in Streifen riss und benutzte, um Claires Bein zu verbinden. Alles, was er gesagt hatte, war, dass sie jetzt in Sicherheit waren, obwohl Sherry gesehen hatte, wie er und Claire einen Blick gewechselt hatten - einen dieser „Wir-solltcn-nicht-gerade-jetzt-darüber-reden"-Blickc. Sherry war zu müde, um sich deswegen gekränkt zu fühlen.
Sie kuschelte sich in Claires Arme. Claire strich ihr übers Haar, und sie schwiegen alle drei. Es gab nichts zu sagen, jedenfalls für eine Weile nicht. Sie waren am Leben und in einem Zug, der durch die Dunkelheit donnerte - und von irgendwo nicht weit voraus sickerte weiches Licht zu ihnen, durch das Fenster des Führerstands, und Sherry fand, dass es sehr nach Morgen aussah.
E P IL OG
Zehn Meilen außerhalb der Stadt sahen sie die Folgen der Explosion, eine schwarze, sich aufblähende Rauchwolke, die ins frühe Morgenlicht emporstieg und über Raccoon hing wie ein furchtbarer Sturm -
- oder wie ein böser Traum, dachte Rebecca, ein sich wiederholender Albtraum. Umbrella.
Sie sprach es nicht laut aus, weil es nicht nötig war. John und David hatten zwar den Albtraum in der Spencer-Villa
nicht miterlebt, aber sie waren in der Einrichtung von Caliban Cove gewesen und hatten gesehen, wozu Umbrella fähig war.
Sie wussten Bescheid.
Niemand sagte etwas, als David aufs Gas trat. Seine Knö-
chel am Lenkrad traten weiß hervor. Diesmal riss John keine Witze darüber, was geschehen sein mochte. Sie wussten alle, dass es schlimm war. Bevor Jill, Chris und Barry nach Europa abgereist waren, hatte Jill ihnen ein Telegramm geschickt, in dem sie ihren Verdacht über einen weiteren Unfall geäu-
ßert und sie gebeten hatte, die Sache im Auge zu behalten.
Als die Telefonleitungen nicht mehr funktionierten, hatten sie das SUV beladen und Maine verlassen, um nachzusehen,
was getan werden konnte. Die einzige offene Frage war, wie viele Menschen diesmal gestorben waren.
Vielleicht hört es jetzt endlich auf. Eine Explosion wie die-327
se ... kann Umbrella nicht so ohne weiteres vertuschen, nicht wenn es so schlimm ist, wie es aussieht.
John brach das Schweigen schließlich, seine tiefe, weiche Stimme klang untypisch gedämpft. „Hat da jemand den Not-hebcl umgelegt?"
David seufzte. „Wahrscheinlich. Wenn es einen Ausbruch gegeben hat, gehen wir da nicht rein. Wir fahren um die Stadt herum und rufen dann Hilfe aus Latham. Umbrella schickt sicher ein eigenes Aufräumkommando hinein."
Rebecca nickte, genau wie John. Sie gehörten im Prinzip
nicht mehr zu S.T.A.R.S., aber David war einmal Captain
gewesen, und das aus gutem Grund.
Sie verfielen wieder in angespanntes Schweigen. Während
die von der Dämmerung berührten Bäume am Fahrzeug vorbei-wischten, fragte sich Rebecca, was sie wohl finden würden -
- als sie auch schon die Menschen sah, die auf die Straße wankten und mit den Armen winkten.
„Hey -", setzte sie an, doch David ging bereits auf die Bremse und verlangsamte den Wagen, während sie sich den
drei abgerissen aussehenden Fremden näherten. Ein Cop mit einem verbundenen Arm und eine junge Frau in Shorts, beide hielten Waffen in den Händen, und ein kleines Mädchen in einer pinkfarbenen Weste, die ihm viel zu groß war. Sie waren nicht infiziert oder zeigten zumindest keinerlei Anzeichen, die Rebecca aufgefallen wären - aber sie sahen trotzdem furchtbar aus. Mit ihren zerfetzten Kleidern und ihren Gesichtern, die bleich und schockiert waren unter den Masken aus Dreck, wären sie locker als wandelnde Leichen
durchgegangen.
„Ich rede mit ihnen", sagte David sanft, aber bestimmt mit seinem trockenen britischen Akzent, und dann stoppten sie neben den Überlebenden von Raccoon.
343
David öffnete sein Fenster und stellte den Motor ab. Der junge Cop trat vor, während die Frau einen schmutzigen Arm um die Schultern des Mädchens legte.
„Es hat einen Unfall gegeben in der Stadt", sagte der Cop, und obwohl sie unübersehbar müde und verletzt waren und
Hilfe dringend nötig hatten, lag Misstrauen in seiner Stimme, ein vorsichtiger Unterton, der erahnen ließ, wie übel ihnen mitgespielt worden war. „Ein schrecklicher Unfall. Sie sollten da nicht hin, es ist nicht sicher."
David runzelte die Stirn. „Was für ein Unfall, Officcr?"
Die junge Frau antworte, ihr Mund ein schmaler Strich der Verbitterung. „Ein Umbrella-UnfaH", sagte sie, und der Cop nickte, und das kleine Mädchen vergrub sein Gesicht an der Hüfte der Frau.
John und Rebecca wechselten einen Blick, und David ent-
riegelte per Knopfdruck die Türen.
„Wirklich? Das sind für gewöhnlich die schlimmsten", sagte er ruhig. „Wir würden Ihnen gerne helfen, wenn Sie möchten, oder wir könnten Hilfe rufen ..."
Es war eine Frage. Der Cop blickte die Frau an, dann sah er David einige Herzschläge lang an. Er musste in Davids Gesicht etwas gefunden haben, von dem er das Gefühl hatte, ihm trauen zu können, denn er nickte langsam. Dann bedeutete er der Frau und dem Mädchen mit einer Geste, zu ihm zu kommen.
„Danke", sagte er. und die Erschöpfung brach sich endlich Bahn. „Wenn Sie uns mitnehmen könnten, das wäre großartig."
David lächelte. „Steigen Sie ein. John, Rebecca - würdet ihr ihnen bitte behilflich sein ...?"
John schnappte sich ein paar Decken, Rebecca griff nach
ihrer Sanitätsausrüstung, sorgsam darauf achtend, die Gewehre neben dem Radkasten nicht aufzudecken.
Ein Umbrella-Unfall...
Rebecca fragte sich, ob sie wussten, wie glücklich sie sich schätzen durften, dies überlebt zu haben - doch ein weiterer Blick in die drei erschöpften, niedergeschmetterten Gesichter überzeugte sie, dass sie es vermutlich wussten.
Sie begannen zu reden, noch ehe David den Wagen gewen-
det hatte - und binnen sehr kurzer Zeit stellten sie fest, dass sie vieles, vieles gemeinsam hatten. Während das Kind einschlief, fuhren sie den Weg zurück, den sie gekommen waren, und ließen die brennende Stadt hinter sich zurück.
345
329