SECHS
Ada Wong schob die schimmernde Metallscheibe in den
Schlitz der Statue und drückte dagegen, bis sie bündig mit dem Marmor abschloss. Kaum dass sich die Scheibe an Ort
und Stelle befand, hörte Ada, wie sich ein verborgener Mechanismus in Gang setzte. Sie trat zurück, um zu sehen, was passieren würde. Ihre Schritte hallten durch die weite Lobby des RP D-Gebäudes und wurden aus dem sich über drei Etagen erstreckenden, offenen Raum zu ihr zurückgeworfen.
Ein weiterer Schlüssel? Eine der Medaillen für den Keller?
Oder vielleicht die Probe selbst - hier versteckt, direkt vor meiner Nase ... Wäre das nicht eine angenehme Überraschung?
Ja, wenn Schweine fliegen könnten ... Die aus Stein gefertigte wassertragende Nymphe kippte in leichtem Winkel nach vorn, aus dem Krug auf ihrer Schulter fiel ein schmales Metallstück auf den Rand des abgeschalteten Brunnens.
Der Pik-Schlüssel.
Seufzend hob Ada ihn auf. Die Schlüssel hatte sie bereits.
Im Grunde besaß sie alles, was sie brauchte, um das Revier zu durchsuchen, und das Meiste dessen, was nötig war, um ins Labor zu gelangen. Hätte niemand bei Umbrella die Bombe hochgehen lassen, wäre die Aufgabe ein Kinderspiel gewesen. Leicht verdientes Geld.
Aber was kriege ich statt dessen? Einen dreitägigen Urlaub ohne Komfort und eine Nacht der Duelle gegen lebende Tote.
Ich darf „Jag-die-Kugel-ins-Hirn" und gleichzeitig „Lasst-uns-den-Reporter-finden" spielen. Die Proben könnten inzwischen sonst wo sein, je nachdem, wer überlebt hat. Vorausgesetzt, ich schaffe es, hier mit dem Zeug rauszukommen, werde ich einen gottverdammt hohen Zuschlag verlangen -
niemand sollte unter diesen Bedingungen arbeiten müssen.
Ada schob den Schlüssel in ihre Hüfttasche, schaute dann mit abwesendem Blick zur oberen Balustrade der beeindru-ckenden Halle empor und hakte im Geist die Räume ab, in
denen sie bereits gewesen war sowie diejenigen, die sie
gründlicher in Augenschein genommen hatte. Bertolucci war nirgendwo im Ostteil des Gebäudes zu finden gewesen, weder oben noch unten. Sie hatte, wie ihr schien, Stunden damit zugebracht, in tote Gesichter zu starren und die stinkenden Leichenhaufen nach seinem kantigen Kinn und seinem ana-chronistischen Pferdeschwanz zu durchsuchen. Natürlich war es möglich, dass er seinen Standort wechselte - aber nach allem, was sie über ihn wusste, war das eher unwahrscheinlich; der Reporter war wie ein Hase, ein Typ, der sich im Angesicht der Gefahr versteckte.
Apropos Gefahr...
Ada schüttelte sich und ging zurück zu der Tür, die in den unteren Ostflügel führte. Die Lobby war halbwegs sicher vor den Virusträgern - sie schienen das Konzept von Türknäufen nicht zu begreifen -, aber es gab neben den Infizierten noch weitere Bedrohungen. Gott allein wusste, wen Umbrella zum Aufräumen herschicken würde ... oder was im Laboratorium freigesetzt worden war, als das Leck auftrat. Weniger furcht-erregend, aber genauso lästig waren die überlebenden Cops, die immer noch umherschwadronieren und nach Leuten suchen mochten, die sie retten konnten. Ada hatte Schüsse ge-hört, einige weit weg, andere nicht; es gab also zumindest noch ein paar Nichtinfizierte in dem weitläufigen alten Ge-bäude. Im Vergleich zu dem Versuch, einen „echten" Menschen, der bewaffnet war, davon zu überzeugen, dass sie lebte und keine Gesellschaft haben wollte, schien es ihr fast reizvoll, den Untoten gegenüberzutreten.
Auf den Fußballen laufend, um unnötigen Lärm zu vermei-
den, schlüpfte Ada durch die Tür und lehnte sich dann dagegen. Sie befand sich am Ende eines langen Korridors. Hier konnte sie ihr weiteres Vorgehen in relativer Sicherheit und Ruhe planen. Obwohl sie den Keller noch nicht überprüft
hatte und nach wie vor etliche Virus-Träger in den RPD-Bü-
ros herumstreiften, waren die Türen entlang des Flures alle geschlossen - wenn jemand oder etwas auf sie losgehen wollte, würde sie es rechtzeitig sehen und verschwinden können.
Ach ja, das aufregende Leben einer freien Agentin. Reise um die Welt! Verdiene dein Geld mit dem Stehlen wichtiger Unterlagen und Artefakte! Halte dir lebende Tote vom Hals, nachdem du drei Tage lang weder geduscht noch etwas An-ständiges gegessen hast - lass deine Freunde vor Neid erblassen!
Sie rief sich noch einmal in Erinnerung, dass sie auf diesen Zuschlag bestehen wollte. Als sie vor weniger als einer Woche in Raccoon eingetroffen war, hatte sie gedacht, sie sei vorbereitet. Sie hatte die Karten studiert, sich die Unterlagen des Reporters eingeprägt und ihre Tarnidentität hatte festge-standen - eine junge Frau, die ihren Freund suchte, einen Umbrella-Wissenschaftler. Dieser Teil war beinahe wahr; tatsächlich war es ihre kurze Beziehung mit John Howe vor
knapp zehn Monaten gewesen, die ihr diesen Job eingebracht hatte. Eigentlich war es eher ein One-Night-Stand gewesen, und nicht mal ein besonders guter - aber John hatte anders darüber gedacht, und seine Verbindung zu Umbrella, auch
wenn sie ihn wahrscheinlich das Leben gekostet hatte, hatte sich für Ada als Glücksfall erwiesen.
Sie war also vorbereitet gewesen. Aber innerhalb von vier-undzwanzig Stunden nach ihrem selbstsicheren Einchecken
in einem der besten Hotels von Raccoon City, hatte sich das Blatt für sie gewendet. Während sie in der mit viel Vinyl aus-gestalteten und weitenteils leeren Lounge des Arklay Inns zu Abend gegessen hatte, waren draußen die ersten Schreie aufgeklungen. Die ersten, aber keineswegs die letzten.
In gewisser Hinsicht war die eingetretene Katastrophe von Vorteil für sie, denn nun würden keine Wachen um das Labor postiert sein. Sie würde nicht zigmal versuchen müssen, sich anzuschleichen und dabei jede Deckung zu nutzen. Laut der Information, die sie vorab über das T-Virus eingeholt hatte, war es an der Luft kurzlebig und es starb schnell ab. Die einzige Möglichkeit, sich jetzt noch damit anzustecken, war der Kontakt mit einem Träger. In dieser Hinsicht gab es also kein Problem - und nachdem sie und ein paar Dutzend andere es zum Polizeirevier geschafft hatten, hatte Ada gesehen, dass sich Bertolucci darunter befand. Trotz der Untoten hatte es anfänglich ausgesehen, als liefen die Dinge zu ihren Gunsten.
Missionsziele: Befrage den Schreiberling, finde heraus, wie viel er weiß, und bring ihn um oder vergiss ihn, je nachdem.
Berge eine Probe von Dr. Birkins neuestem Wunder-Virus ...
Kein Problem, oder?
Vor drei Tagen - mit dem Wissen, wie das Umbrella-Labor
mit dem Abwasserkanalsystem verbunden war, und Bertoluc-
ci direkt vor ihrer Nase - hatte es den Anschein gehabt, als sei der Job so gut wie erledigt. Aber natürlich hatte die Sache von da an noch gehörig schief laufen müssen.
Das umgemodelte Revier, in dem die Räume nach dem
S.T.A.R. S.-Fiasko neu aufgeteilt wurden, hat die Hälfte meiner Vorbereitungen hinfällig gemacht. Menschen, die ver-schwanden. Barrikaden, die fortwährend fielen. Polizeichef Irons, der wie ein billiger Diktator mit Befehlen um sich warf und immer noch versuchte, Bürgermeister Harris und seine jammernde Tochter zu beeindrucken, während sich die Toten längst immer höher stapelten ...
Ada hatte Bertolucci im Auge behalten und bemerkt, dass
er sich verdrücken wollte - seinen tatsächlichen Abgang jedoch hatte sie versäumt. Sie hatte nicht einmal Zeit gehabt, Kontakt aufzunehmen, bevor er sich ins Labyrinth des Reviers abgesetzt hatte und im Chaos der ersten Angriffswelle untergetaucht war. Ada hatte beschlossen, im Alleingang vor-zugehen, nachdem kaum eine Stunde später drei Viertel der Zivilisten durch einen einzigen Massenangriff ausgelöscht worden waren, und das nur, weil sich niemand darum gekümmert hatte, die Garagentore zu schließen. Sie war nicht willens zu sterben, nur um ihre Tarnidentität als verängstigte Touristin zu wahren, die nach ihrem Freund suchte.
Und dann hatte das Warten begonnen. Fast fünfzig Stunden hatte sie, geduckt im Uhrenturm des zweiten Stockwerks, darauf gewartet, dass sich die Lage beruhigte. In den länger werdenden Pausen zwischen den Feuergefechten war sie hinunter gehuscht, um etwas Essbares zu finden oder aufs Klo zu gehen, inmitten des hallenden Ratterns von Schüssen und der Schreie ...
Großartig. Jetzt bist du also hier, und was tust du? Stehst herum und hängst deinen Gedanken nach. Mach weiter - je eher du fertig bist, desto eher kannst du deinen Lohn einsa-cken und dich irgendwo auf einer hübschen Insel zur Ruhe setzen.
Dennoch verharrte Ada noch einen Augenblick lang, tippte mit der Mündung ihrer Beretta geistesabwesend gegen eines ihrer langen, bestrumpften Beine. Drei Leichen lagen im
Flur. Sie konnte nicht aufhören, diejenige anzustarren, die verkrümmt unter einem Fensterschalter auf halbem Wege den Gang hinunter lag. Eine Frau in abgeschnittenen Shorts und einem Top, die Beine ordinär gespreizt, einen Arm über ihren blutbesudelten Kopf gekrümmt. Die anderen beiden waren
Polizisten, die Ada nicht wiedererkannte - die Frau allerdings gehörte zu den Leuten, mit denen sie gesprochen hatte, nachdem sie es zum Revier geschafft hatten. Ihr Name war Stacy gewesen, ein nervöses, aber willensstarkes Mädchen, das gerade dem Teenageralter entwachsen war.
Stacy Kelso, so hatte sie geheißen. Sie war in die Stadt gegangen, um Eiskrem zu kaufen, und dabei in die Attacke geraten - und doch hat sie sich mehr um ihre Eltern und ihren kleinen Bruder zu Hause gesorgt, als um ihre eigene Notlage.
Ein pßichtbewusstes Mädchen. Ein gutes Mädchen.
Warum dachte sie darüber nach? Stacy war tot, hatte ein
ausgefranstes Loch in der linken Schläfe, und sie war nicht Adas Schutzbefohlene gewesen; es war also nicht so, dass Ada sich persönlich für ihr Schicksal hätte verantwortlich fühlen müssen. Sie war hergekommen, um einen Job zu erledigen, und es war nicht ihre Schuld, dass in Raccoon die Höl-le ausgebrochen war ...
Vielleicht geht es nicht um Schuldgefühle, flüsterte ein Teil von ihr. Vielleicht tut es dir nur Leid, dass sie es nicht geschafft hat. Sie war schließlich ein Mensch, und jetzt ist sie tot, wie es wahrscheinlich auch ihre Eltern und ihr kleiner Bruder sind ...
„Schluss damit!", sagte sie leise, aber leicht gereizt. Sie riss ihren Blick von der Mitleid erregenden Gestalt los und richtete ihn stattdessen auf einen zerbrochenen Aschenbecher am Ende des Korridors. Sich schlecht zu fühlen aufgrund von Dingen, die sie nicht beeinflussen konnte, war nicht ihre Art
- und angesichts dessen, wie viel Mr. Trent es sich kosten ließ, ihre Dienste in Anspruch zu nehmen, war jetzt nicht die beste Zeit, um ihre Gefühlswelt zu analysieren. Menschen starben, das war der Lauf der Welt, und wenn sie in ihrem Leben irgendetwas gelernt hatte, dann das, dass es sinnlos war, sich über diese spezielle Wahrheit zu grämen.
Missionsziele: Mit Bertolucci reden und die G-Virus-Probe besorgen. Das war alles, was sie zu kümmern hatte.
Ein paar Ecken von ihrem momentanen Standort entfernt,
im Pressekonferenzraum, gab es einen Mechanismus, den
Ada noch überprüfen musste. Trents Notizen über die jüngsten architektonischen Ergänzungen des Reviers waren lü-
ckenhaft gewesen, aber sie wusste, dass es mit der Verzierung, skulpturartigen Gaslampen und einem Ölgemälde zu
tun hatte. Wer immer all diese Arbeiten in Auftrag gegeben hatte, führte ein außerordentlich undurchsichtiges Leben.
Oben, hinter der Wand eines einstigen Lagerraums, gab es regelrechte Geheimgänge. Ada hatte sie sich noch nicht angesehen, aber ein rascher Blick hatte ihr gezeigt, dass der Raum selbst in ein Büro umfunktioniert worden war. Der übertrie-benen und neurotisch machohaften Ausstaffierung nach zu
schließen, gehörte es vermutlich Irons. Selbst in der kurzen Zeit, die sie in seinem Laden zugebracht hatte, hatte sie feststellen können, dass er nicht der gefestigste Charakter auf Erden war. Er stand fraglos auf der Gehaltsliste von Umbrella, aber er hatte darüber hinaus etwas an sich, das förmlich nach Gestörtheit roch.
Ada ging den Flur hinunter, ihre Schuhe klickten laut auf den zerkratzten blauen Fliesen. Schon jetzt befürchtete sie ein weiteres zeitraubendes mechanisches Puzzle. Nicht, dass das etwas nützte - sie hatte von Anfang an angenommen,
dass das Virus noch im Labor sei -, aber sie konnte es nicht riskieren, sich eine möglicherweise frühere Entdeckung durch die Lappen gehen zu lassen. Laut Unterlagen gab es acht bis zwölf Phiolen von dem Zeug, je eine Unze fassend; diese Information entstammte einem zwei Wochen zurückliegenden
Video-Briefing - und Birkins Labor war alles andere als un-einnehmbar. Da das Labor durch die Kanalisation mit dem
Revier verbunden war, musste Ada die Möglichkeit in Be-
tracht ziehen, dass die Proben fortgeschafft worden waren.
Außerdem konnte sich Bertolucci in der Recherchebibliothek versteckt halten oder in den S. T. A. R. S.-Büros auf der Westseite, vielleicht in der Dunkelkammer - tot oder nicht, sie musste ihn finden. Und es würde ihr auch die Chance einräumen, im RPD-Gebäude noch ein paar Neunmillimeter-Clips
einzusammeln.
Sie folgte dem Gang, der sie an einem kleinen Wartebe-
reich vorbeiführte, in dem Verkaufsautomaten standen, die bereits aufgebrochen und geplündert worden waren. Genau
wie der Rest des Reviers war der Korridor kalt und hätte dringend eines Lufterfrischers bedurft; an den Geruch hatte sie sich gewöhnt, aber die Kälte war mörderisch. Zum hundert-sten Mal, seit sie ihren Tisch im Arklay verlassen hatte, wünschte sich Ada, dass sie sich zum Abendessen legerer gekleidet hätte. Das ärmellose rote Tunikakleid und klappernde Schuhe hatten zwar zu ihrer Tarnung gepasst - als Einsatz-kleidung war das Outfit jedoch alles andere denn praktisch.
Sie erreichte das Ende des Flures und öffnete, die Waffe halb erhoben, vorsichtig die Tür zu ihrer Linken. Wie zuvor war der Gang sauber, wenn auch ein weiteres Zeugnis der ge-schwundenen Eleganz des Gebäudes - hier waren es dunkle
sandfarbene Wände und symmetrisch gemusterte Kacheln.
Das Revier musste einst prachtvoll gewesen sein, doch die Jahre, in denen es als institutionelle Einrichtung gedient hatte, hatten seine Erhabenheit aufgezehrt. Das ramponierte Aussehen und die kalte, hoffnungslose Atmosphäre erzeugten ein düsteres Feeling - als könnte einem jeden Moment eine kalte Hand auf die Schulter fallen und ein Hauch verfaulten Atems über den Nacken streifen ...
Abermals legte Ada die Stirn in Falten - nach diesem Job würde sie einen sehr langen Urlaub machen. Entweder das, oder es war an der Zeit, sich einen neuen Beruf zu suchen.
Ihre Konzentration - ihre Fähigkeit, alles Denken auf ein Ziel zu fokussieren - war nicht mehr das, was sie einmal gewesen war. Und in ihrer Branche konnte ein Flüchtigkeitsfehler im falschen Augenblick buchstäblich den Tod bedeuten.
Fette Zulage. Trent stinkt vor Geld. Ich werde um einen sie-benstelligen Betrag bitten, mindestens aber um einen im hö-
heren sechsstelligen Bereich.
In ihrem Bemühen, ihre Gedanken auf das Wesentliche zu
bündeln, stellte Ada fest, dass sie das hartnäckige Bild nicht zu unterdrücken vermochte, das fortwährend durch ihren
Kopf kroch. Eine Erinnerung an die junge Stacy Kelso, die sich nervös das Haar hinter die Ohren schob, während sie von ihrem kleinen Bruder erzählte ...
Nach, wie ihr vorkam, sehr langer Zeit schüttelte Ada die lästige Vision endlich ab, ging weiter den Gang hinab, schwor sich, dass sie sich keine weiteren Konzentrationsschwächen erlauben würde - und fragte sich, warum sie es nicht schaffte, dies auch zu glauben.
S I E B E N
Leons Stiefel scharrten durch Scherben zerbrochenen Glases, die auf dem Boden des Kendo-Waffengeschäfts lagen, und
rußiger Schweiß rann ihm übers Gesicht, während er Schubladen aufriss. Wenn er nicht sehr schnell .50er-Munition fand, gehörte er der Katz. Die wenigen Waffen, die sich noch in dem verwüsteten Laden befanden, nützten ihm nichts, da sie mit Stahlkabeln gesichert waren. Das Schaufenster war komplett zertrümmert. Die Kreaturen würden nicht lange brauchen, bis sie ihn hier fanden - und er hatte noch eine einzige Kugel und etliche Blocks zurückzulegen.
Komm schon, Kaliber fünfzig Action Express ... irgendjemand in Raccoon muss die doch verwendet haben ...
„Ja!"
In der vierten Schublade unter dem Jagdgewehr-Display lagen sie: ein halbes Dutzend leerer Clips und ebenso viele Schachteln voll mit Munition. Leon schnappte sich eine davon, drehte sich um und knallte sie auf den Verkaufstresen, während er gehetzt zur Front des kleinen Ladens blickte.
Noch war niemand zu sehen - wenn man den Toten auf dem
Boden außer acht ließ. Er bewegte sich nicht, aber der Frische des Blutes nach, das aus seinem ansehnlichen Bauch quoll und sein ärmelloses T-Shirt besudelte, durfte Leon sich nicht allzu viel Zeit lassen. Er wusste nicht, wie lange es dauerte, bis die Getöteten sich wieder erhoben - aber er wollte es auch nicht unbedingt herausfinden.
Muss mich sowieso beeilen - ist ja gerade so, als sei ich so was wie ein Leuchtturm für diese Dinger, und dieses Plätzchen hier ist leicht zugänglich ...
Leon ließ den Blick zwischen der zertrümmerten Glasfront und seinen zitternden Händen hin- und herfliegen und fing an zu laden.
Mit Glück war er auf den Waffen-Store gestoßen, den er
bei seiner schwindelerregenden, albtraumhaften Flucht zu-nächst völlig vergessen hatte. Da der kürzeste Weg zum
Revier durch eine Massenkarambolage blockiert war, führte der schnellste Umweg durch Kendo's. Ein Zufall, der ihm
zweifellos das Leben gerettet hatte. Denn obwohl er unterwegs zwei der Untoten niedergestreckt hatte, war er von ihrer schieren Zahl fast überrollt worden.
„Uuunh ..."
Eine grässliche, knochendürre Gestalt wankte aus den
Schatten der Straße und visierte wie trunken die Vorderseite des Ladens an.
„Verdammt", murmelte Leon. Irgendwie schafften es seine Finger, sich noch schneller zu bewegen. Einen Clip hatte er fertig, einen wollte er noch aufmunitionieren, und den Rest konnte er mitnehmen. Wenn er sich jetzt zu lange damit aufhielt, würde er tot sein, bevor er überhaupt daran denken konnte, sich bis zum Revier durchzuschlagen.
Plötzlich stand eine weitere lepröse Gestalt vor der zerstörten Ladeneingangstür auf. Die Verwesung an ihren Beinen
war so weit fortgeschritten, dass Leon Maden sehen konnte, die sich zwischen den faserigen Muskeln wanden.
... vier ... fünf... fertig!
Er schnappte sich die Magnum, warf den Clip aus und lud
bereits nach, als der fast leere den Boden berührte. Die ma-denzerfressene Kreatur zwängte sich zwischen den gezackten Glasscherben hindurch, die noch im Türrahmen steckten. Etwas Flüssiges blubberte dumpf in ihrem Hals.
Eine Tasche! Er brauchte eine Tasche. Leon sondierte fie-berhaft den Raum hinter dem Tresen und fand eine ölfleckige Sporttasche, die an einem Stuhl in der hintersten Ecke lehnte.
Zwei rasche Schritte und sie gehörte ihm. Während er zu der Anhäufung von Clips und loser Munition auf dem Tresen
zurückrannte, schüttete er den Inhalt der Tasche aus. Reini-gungsmaterial klapperte auf das Linoleum, während Leon die Clips in die Tasche fegte; die verstreut liegenden Patronen ignorierte er zugunsten der Munitionsschublade.
Das verfaulende Monster schlurfte auf ihn zu, stolperte
über die Leiche des schmerbäuchigen Toten, und Leon konn-te riechen, wie stark verwest es war. Er riss die Magnum hoch und richtete sie auf das Gesicht des Wesens.
Den Kopf- genau wie bei den beiden draußen!
Unter ohrenbetäubendem Krachen flog der breiige Schädel
auseinander. Zähe Flüssigkeit klatschte gegen die Wände und Auslagen des Ladens. Noch bevor das auf diese Weise enthauptete Ding zu Boden schlug, wirbelte Leon bereits herum, ging vor der Munitionsschublade in die Hocke und schaufelte die schweren Schachteln in die Nylontasche. Angst krampfte ihm den Magen zusammen und ließ ihn zittern; Angst, dass sich die Seitengasse gerade jetzt mit weiteren dieser Ungeheuer füllen könnte, die ihm den Weg zu seinem Ziel ab-
schneiden würden.
Fünf Clips pro Schachtel, fünf Schachteln ... Okay, jetzt sieh zu, dass du hier rauskommst!
Leon richtete sich auf, schulterte die Tasche und rannte zur Hintertür. Aus den Augenwinkeln sah er, dass es eine weitere Kreatur in den Laden geschafft hatte - und dem Knirschen zerbröselnden Glases nach zu schließen, folgten dieser einen sogar noch weitere unmittelbar auf dem Fuße.
Er öffnete die Tür, schlüpfte hindurch und spähte prüfend nach links und rechts, während die Tür hinter ihm zuglitt und das Schloss mit einem leisen metallischen Klicken ein-schnappte. Außer Abfalltonnen und Recyclingbehältern, in denen sich schimmeliges Zeug türmte, war nichts zu sehen.
Von Leons Standort aus erstreckte sich die Gasse zur Linken und beschrieb dann eine Kurve wieder nach links. Wenn sein innerer Kompass noch funktionierte, würde ihn der enge, vor Müll überquellende Durchlass direkt hinaus auf die Oak
Street führen, weniger als einen Block vom Revier entfernt.
Bislang hatte er Glück gehabt - alles, was er tun konnte, war zu hoffen, dass ihm dieses Glück gewogen blieb und ihn das Revier lebend, dazu möglichst in einem Stück, erreichen ließ - wo er dann, so Gott es wollte, ein schwer bewaffnetes Kontingent von Leuten vorfinden würde, die wussten, was
zum Teufel hier überhaupt vorging.
Und Claire. Ich hoffe, du bist okay, Claire Redfield, und wenn du vor mir dort ankommst, schließ bitte die Tür nicht zu...
Leon rückte die bleierne Last der Munition auf seinem Rü-
cken zurecht und marschierte die schwach beleuchtete Gasse hinab, bereit, alles in Fetzen zu schießen, was sich ihm in den Weg stellen mochte.
Claire schaffte es, fast ohne einen Schuss abgeben zu müssen. Die Zombies, die nach und nach auf die Straßen heraus-kamen, waren unerbittlich, aber langsam, und das Adrenalin, das durch Claires Adern pumpte, erleichterte es ihr, ihnen auszuweichen. Sie nahm an, dass die Ungeheuer von den Ge-räuschen der brennenden Wracks hervorgelockt wurden und
dann kurzerhand ihrer Nase folgten - oder eben dem, was
von ihren Nasen noch übrig war. Von den etwa zehn Kreaturen, die ihr so nahe kamen, dass Claire sie in allen grausigen Details sehen konnte, befand sich mindestens die Hälfte im Stadium fortgeschrittener Verwesung. Das Fleisch fiel ihnen von den Knochen.
Sie war so damit beschäftigt, die Straße im Auge zu behalten und sich in Gedanken darüber klar zu werden, was alles geschehen war, dass sie fast am Polizeirevier vorbeigerannt wäre. Bei vorherigen Besuchen war sie schon zweimal im
RPD-Gebäude gewesen, um Chris abzuholen, hatte es aber nie durch den Hintereingang betreten - oder in kalter, stinkender Dunkelheit, verfolgt von untoten Kannibalen. Ein verunfalltes Polizeiauto und eine Handvoll in Zombies verwandelter Cops hatten sie in die Enge und über einen kleinen Parkplatz getrieben, dann durch eine Art Geräteschuppen, der auf einen winzigen gepflasterten Hof hinausführte - ein Hof, auf dem sie und Chris einmal zu Mittag gegessen hatten, auf der Treppe sitzend, die zum Heliport des Reviers hinaufführte, der auf Höhe des ersten Stockwerks lag. So hatte sie es schließlich geschafft.
Sich an den beiden uniformierten, umherstolpernden Lei-
chen vorbeizudrücken, die ziellos über den L-förmigen Hof schlurften, hatte sich als einfach erwiesen. Aber Claire war so erleichtert, an einem Ort zu sein, den sie kannte und zu wissen, dass sie beinahe in Sicherheit war - dass sie die Frau nicht sah, bis es fast zu spät war.
Eine wimmernde Tote mit einem schlaff herabhängenden
Arm und einem blutigen, zerfetzten Pullunder, die aus den Schatten am Fuß der Treppe nach ihr grabschte und Claires Arm mit kalten, schorfigen Fingern streifte.
Claire gab einen erstickten Aufschrei von sich, wich stolpernd vor der ausgestreckten Hand des Wesens zurück - und 74
lief beinahe einem anderen in die Arme, einem hünenhaften verwesenden Mann, der unter den Metallstufen hervorge-kommen war, täppisch, aber lautlos.
Sie duckte sich zur Seite weg, richtete die Neunmillimeter auf den Mann, trat einen Schritt zurück -
- und spürte, wie ihr Unterschenkel das harte Geländer der rückwärtigen Treppe, die zum Dach hinauf führte, berührte.
Die Frau befand sich anderthalb Meter rechts von ihr, ihr zerrissenes, blutiges Oberteil entblößte eine hängende Brust, die Hand ihres noch intakten Armes fasste nach Claire. Noch einen Schritt weiter, dann würde sich der Mann in Reichweite befinden, und sie konnte nicht weiter zurückweichen.
Claire drückte ab. Es gab einen monströsen Knall. Die
Pistole sprang ihr fast aus der Hand. Die rechte Hälfte des schlaffen, welken Gesichts vor ihr verschwand in einer Explosion dunkler Flüssigkeiten, die aus dem zerschmetterten Schädel des Hünen spritzten.
Claire riss die Pistole herum und schloss ihre Finger fester um den Griff, während sie auf das bleiche Gesicht der unablässig stöhnenden Frau zielte. Eine weitere ohrenbetäubende Explosion, und das anschwellende Wimmern verstummte wie
abgeschnitten, die wächserne Stirn verschwand in einem Wirbel aus Blut und Knochensplittern. Die Frau kippte nach hinten und krachte auf das Pflaster wie -
- wie tot, was sie ja ohnehin schon waren. Davon werden sie sich nicht mehr erholen.
Claire war, als hätte sie endlich alles eingeholt, als hätte es des Abdrückens bedurft, um ihr die Realität ihrer Situation endlich in aller Konsequenz bewusst zu machen. Einen Moment lang konnte sie sich nicht bewegen. Sie starrte hinab auf die beiden verkrümmten Bündel aus verheertem Fleisch, auf die beiden Menschen, die sie gerade erschossen hatte, und hatte das Gefühl, dass sie nur eine Idee davon entfernt war, auszurasten. Sie war mit Warfen aufgewachsen, war Dutzende Male auf Schießständen gewesen - aber dort hatte sie mit einer .22er Sportpistole auf Papierscheiben geschossen. Ziele, die nicht bluteten oder Hirn verspritzten wie die Menschen, die sie gerade -
Nein, unterbrach eine kühle Stimme sie, die aus ihrem In-nersten zu kommen schien. Das sind keine Menschen, nicht mehr. Mach dir nichts vor und verschwende keine Zeit für falsche Reue. Und denk dran, wenn S.T.A.R.S. hinzugezogen wurde, könnte Chris auch hier sein.
Als ob das noch nicht Motivation genug sei, waren jetzt
auch noch die beiden Zombie-Cops, denen Claire zuvor auf dem Hof aus dem Weg gegangen war, unterwegs zu ihr. Stiefel schlurften und schleiften über die Pflastersteine. Es war Zeit zu gehen.
Claire trabte die Stufen hoch. Wegen des Brausens in ihren Ohren konnte sie das metallene Klappern ihrer Schritte kaum hören. Das zweimalige Krachen der Neunmillimeter hatte ihr Gehör vorübergehend betäubt - was erklärte, warum sie auf den Hubschrauber erst aufmerksam wurde, als sie fast schon auf dem Dach angelangt war.
Claire erreichte die vorletzte Stufe und blieb wie angewur-zelt stehen. Peitschender Wind hämmerte rhythmisch gegen ihre nackten Schultern, als das riesenhafte schwarze Vehikel in ihr Blickfeld schwebte, halb in Schatten gehüllt. Es befand sich nahe des alten Wasserturms, der den Heliport in der südwestlichen Ecke begrenzte, aber sie wusste nicht, ob der Hubschrauber gerade abgehoben hatte oder zur Landung an-setzte. Sie wusste es nicht, und es war ihr egal.
„Hey!", schrie sie und riss die linke Hand hoch. „Hey, hier drüben!"
Ihre Worte verloren sich in dem aufgewehten Staub, der
über das Dach wirbelte, ertranken in dem steten Wummern
der Rotorblätter. Claire winkte wie wild und fühlte sich, als hätte sie gerade in der Lotterie gewonnen.
Jemand ist gekommen! Gott sei dank - danke!
Im Mittelteil der stählernen Libelle ging ein Suchscheinwerfer an, der Strahl wanderte über das Dach, aber in die falsche Richtung, von ihr weg! Claire winkte noch heftiger, holte tief Atem, um abermals zu schreien -
- und sah, was der Suchscheinwerfer erfasst hatte. Sie erkannte es im selben Moment, da sie das verzweifelte, überwiegend unverständliche Rufen durch das Gebrüll des Helikopters hindurch hörte. Ein Mann, ein Polizist, stand mit dem Rücken gegen einen erhöhten Teil des Daches gedrängt in jener Ecke des Heliports, die der Treppe gegenüberlag. In Händen hielt er etwas, das wie ein Maschinengewehr aussah, und er wirkte überaus lebendig.
„... kommt hier rüber ...!"
Der Polizist schrie in Richtung des Hubschraubers, Panik schwang in seiner Stimme mit - Claire erkannte, weshalb, und spürte, wie ihre Erleichterung erlosch.
Zwei Zombies taumelten durch die Finsternis des Heliports und hielten auf ein gut beleuchtetes Ziel zu: den gestikulie-renden Polizisten. Sie hob die Neunmillimeter und ließ sie dann hilflos wieder sinken, weil sie fürchtete, versehentlich den in die Enge getriebenen Mann zu treffen.
Der Scheinwerfer zitterte nicht, tauchte den Horror in glei-
ßendes Licht. Dem Cop schien nicht klar zu sein, wie nahe die beiden Zombies waren, bis sie nach ihm griffen - eingeschlossen in die Balken aus weißem Licht ihre sehnigen
Arme nach ihm ausstreckten.
„Zurück! Weg! Kommt nicht näher!", brüllte der Mann, und wegen des puren Entsetzens in seiner Stimme konnte
Claire ihn perfekt verstehen. Genauso wie sie seinen heulenden Schrei hören konnte, als die beiden verwesenden Gestalten ihr die Sicht nahmen und gleichzeitig nach ihm griffen.
Das Geräusch seiner Automatikwaffe dröhnte über den He-
liport, und selbst über das Geräusch des Helikopters hinweg konnte Claire das jaulende Ting umherjagender Kugeln ver-nehmen. Sie ließ sich fallen. Ihre Knie schlugen gegen die oberste Stufe. Das Rattern der Waffe wollte kein Ende nehmen.
Am Geräusch des Hubschraubers änderte sich etwas - ein
seltsames Summen mischte sich hinein, das sich rasch zu einem mechanischen Kreischen steigerte. Claire schaute auf und sah, wie das gigantische Vehikel herabsank, das Heck in einem unkontrollierten, ruckhaften Bogen herumschwingend.
Jesus, er hat den Kopter getroffen!
Die Suchscheinwerfer des Hubschraubers schienen in sämt-
liche Richtungen zugleich zu leuchten, blitzten über Metallrohre und Beton und über die nachlassenden Bemühungen des Polizisten, der es irgendwie schaffte, immer noch zu schießen, obwohl die beiden Monster unerbittlich an ihm zerrten.
Und dann stürzte der Helikopter mit Schieflage herunter, und die Rotorblätter droschen unter gewaltigem Getöse in die Ziegel der ansteigenden Dachkonstruktion. Bevor Claire
auch nur blinzeln konnte, schlug die Schnauze des Kopters auf und pflügte in einem Schleier von Funken und umherflie-genden Glassplittern über den Heliport.
Die Explosion ereignete sich erst, als die riesige Maschi-ne in der südwestlichen Ecke nach ihrem Rutsch bereits
zum Halten gekommen war - direkt vor dem inzwischen zu
Boden gegangenen Cop und seinen Mördern. Im Fauchen der
Flammen, das dem schnaubenden Donner folgte, erstarb denn 78
auch endlich das Knattern des Maschinengewehrs. Über dem Dach lag glutrotes Leuchten. Im selben Moment gab etwas
mit reißendem Knirschen nach, und die Nase des Hubschraubers bohrte sich in eine Ziegelmauer, wo sie außer Sicht geriet.
Claire erhob sich auf Beinen, die sie kaum noch spürte, und starrte ungläubig auf das tanzende Feuer, das fast die Hälfte des Heliports bedeckte. Alles war viel zu schnell vonstatten gegangen, als dass sie hätte begreifen können, dass es wirklich passiert war, und der rauchende, brennende Beweis vor ihr verstärkte dieses Gefühl von Unwirklichkeit nur noch.
Beißender, widerlich süßer Geruch verbrennenden Fleisches wehte auf einer Woge heißer Luft zu ihr herüber, und in der plötzlichen Stille konnte sie das leise Stöhnen der Zombies vom Hof herauf hören.
Sie warf einen Blick hinunter und sah, dass sich die beiden untoten Cops am Fuß der Treppe befanden, blind und sinnlos gegen die unterste Stufe tretend. Wenigstens konnten sie nicht Treppen steigen ...
... können - Nicht - Treppen - steigen.
Claire wandte ihren angstvollen Blick der Tür zu, die in das RPD-Gebäude führte, vielleicht zehn Meter von den sich
kräuselnden, hochschlagenden Flammen entfernt, die lang-
sam das Wrack auffraßen. Neben der Treppe war dies der einzige Weg zum Dach. Und wenn Zombies nicht Treppen stei-
gen konnten ...
... dann stecke ich echt tief in der Scheiße. Das Revier ist nicht sicher!
Nachdenklich starrte Claire auf den Brandherd und wog
ihre Möglichkeiten gegeneinander ab. In der Neunmillimeter steckten noch etliche Patronen, und sie hatte noch zwei volle Clips - sie konnte zur Straße zurückkehren, nach einem Auto suchen, in dem der Schlüssel steckte, damit wegfahren und Hilfe holen.
Nur, was ist mit Leon? Und dieser Cop hat noch gelebt -
was ist, wenn da noch mehr Leute drin sind und einen Ausbruch planen?
Claire fand zwar, dass sie sich bislang allein ganz gut gehalten hatte, aber sie wusste auch, dass sie sich sicherer ge-fühlt hätte, wenn ein anderer ihr die Verantwortung hätte abnehmen können - ein Einsatzkommando wäre okay, aber sie
würde sich auch mit irgendeinem kriegszernarbten, bis an die Zähne bewaffneten Polizeiveteranen zufrieden geben. Oder Chris - Claire wusste nicht, ob sie ihn im Revier antreffen würde, aber sie glaubte fest daran, dass er noch lebte. Wenn jemand das Zeug dazu hatte, in einer Situation wie dieser auf sich aufzupassen, dann ihr Bruder.
Aber ob sie nun jemanden fand oder nicht, es wäre falsch gewesen zu verschwinden, ohne Leon Bescheid zu sagen -
wenn sie das nicht tat, stattdessen aus der Stadt floh und er auf der Suche nach ihr ums Leben käme, Himmel, dann ...
Ihre Entscheidung stand fest. Den Flammen vorsichtig aus-weichend und die flackernden Schatten nach Bewegung absuchend, lief Claire auf den Eingang zu. Als sie die Tür erreichte, schloss sie für einen Moment die Augen, während ihre schweißnasse Hand schon den Griff berührte.
„Ich kann das", sagte sie ruhig, und obwohl ihre Stimme nicht so zuversichtlich klang, wie sie es sich gewünscht hätte, zitterte oder versagte sie doch immerhin nicht. Claire öffnete erst die Augen, dann die Tür - und als ihr aus dem gedämpft erhellten Gang nichts entgegensprang, schlüpfte sie hinein.