DER FRANZÖSISCHE TEIL des Jakobswegs neigt sich dem Ende zu. Die Pilger erreichen Saint-Jean-Pied-de-Port, den Ausgangsort für den gefürchteten Aufstieg zum Pyrenäenpass von Roncesvalles.

Die Pilgerherberge von Saint-Jean-Pied-de-Port befindet sich oben an einer schmalen Straße, gesäumt von alten baskischen Häusern mit rotem Ziegeldach und blütenweißem Verputz.

Im Vorgarten, wo man für die Pilger Tische und Stühle aufgestellt hat, sitzen Elsa, Clara und Pierre schlapp in der Sonne und warten darauf, dass die Herberge öffnet.

Die anderen haben sich zu einer Erkundungstour in die Stadt aufgemacht.

Da kommt ein munterer junger Mann daher, einen auffälligen gelb-roten Rucksack auf dem Rücken. Gleich erspäht er die hübsche Elsa, die an einem Tisch sitzt und vor sich hin döst. Laut schlägt er mit der Faust auf den Tisch, um sie aufzuwecken. Elsa fährt hoch.

»Entschuldigen Sie, ist die Herberge offen?«

»Im Prinzip ja, aber im Moment ist sie noch geschlossen, sie macht erst in einer Viertelstunde auf.«

»Aha. Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«

Elsa: »Nein, danke. Das ist nett, aber ich habe gerade etwas getrunken.«

»Ist das Ihre Ausrüstung?«

Elsa: »Ja.«

»Damit werden Sie den Jakobsweg aber nicht schaffen.«

Elsa: »Äh, warum? Ich bin schon seit einem Monat unterwegs.«

»Das ist ja Vorkriegsmaterial!«

Elsa: »Ach ja? Und woher kommen Sie?«

»Ich starte heute, ich mache nur den spanischen Weg, den interessanten Teil des Jakobswegs.«

Pierre und Clara sehen ihn an.

Clara denkt: Vielen Dank auch für die achthundert Kilometer, die wir hierherlatschen mussten!

Wenn Clara im Geist mit sich selber spricht, drückt sie sich gar nicht wie eine Lehrerin aus.

Elsa: »Der französische Teil ist auch schön.«

»Das weiß ich nicht, ich war noch nicht dort.«

Elsa: »Aber ich. Und er ist wirklich sehr...«

»Wann brechen Sie denn morgens immer auf?«

Elsa: »Gewöhnlich gegen acht.«

»Ich gehe Punkt fünf Uhr los. So komme ich nicht in die Mittagshitze und bin immer als Erster in der Herberge.«

Elsa: »Ja, in den Herbergen ist oft sehr viel los. Aber wir sind in der Gruppe unterwegs, wir laufen nicht allzu schnell, wir gehen es ruhig an...«

»In Ihrer Gruppe sind wohl viele Opas und Omas. Das bremst, was?«

Der junge Mann meint damit offensichtlich Pierre und Clara, die ihm einen tödlichen Blick zuwerfen.

Pierre denkt: Gibt es das? Gibt es solche kleinen Arschlöcher wirklich?

Auch Pierre drückt sich alles andere als vornehm aus, wenn er mit sich selbst redet.

Elsa: »Na ja, es gibt junge Leute und weniger junge Leute. Das ist doch ganz normal.«

»Gruppen sind nicht so ganz mein Ding. Ich betrachte eine Pilgerwanderung eher als einen Einzelkampf, eine Herausforderung, ich will meine Kräfte messen, mich mit der Natur auseinandersetzen...«, sagt er und stiert auf Elsas Ausschnitt.

Elsa: »Und ist Ihr Rucksack nicht zu schwer?«

»Mein Rucksack? Nein, nein, ich habe alles bei Decathlon besorgt. Innovatives, ultraleichtes Material.«

Elsa: »Das haben Sie gut gemacht. Am Anfang war mein Rucksack viel zu schwer, ich hatte Shampoo und Cremes dabei, einen ganzen Haufen Zeug. Ein Höllengewicht, ich bin fast zusammengebrochen, ich musste alles wegwerfen. Wissen Sie, beim Wandern ist das Gewicht...«

»Ja ja, typisch Mädchen! Cremes und Shampoo! Dabei brauchen doch gerade Sie gar nichts — Sie müssen nur die richtigen Shorts anziehen, dann tragen alle Pilger Sie mit Freude huckepack und geben Ihnen zu trinken. Bei Omas ist das etwas anderes, aber Sie...«

Dieses Arschloch hört nicht auf, denkt Clara.

»Essen wir heute Abend zusammen?«

Elsa: »Warum nicht?«

Der junge Mann kneift ihr leicht in die Wange. Elsa mag das gar nicht, aber sie ist zu höflich, um ihn in seine Schranken zu weisen.

Elsa: »Und was machen Sie beruflich?«

»Ich bin Leitender Angestellter. France-Telecom. Handelsbeziehungen mit Großkonzernen, Kommunikationsplanung... Ich trage eine Riesenverantwortung.«

Pierre prustet vor Lachen.

»Und Sie?«, fragt der leitende Angestellte.

Elsa: »Ich studiere.«

»Das ist gut... Darf ich für mein Album ein Foto von Ihnen machen?«

Elsa: »Wenn Sie wollen.«

Er zieht seine Kamera heraus und pfeift dabei die Erkennungsmelodie seines Unternehmens: Dadada dada. Wie ein großer Modefotograf gibt er Elsa Anweisungen und bringt sie in Pose.

»Setzen Sie sich da hin... weg von den Opas und Omas...«

Unglaublich! Was für ein Riesenarschloch, denkt Clara. In zwei Minuten hau ich ihm eine ins Gebiss, denkt Pierre.

»So, das muss ein bisschen sexy aussehen — Kopf nach hinten, Kreuz durchdrücken, schön lächeln, mit geöffnetem Mund, und zeig mir deine kleine geile Zunge, genau so, Brust raus und zieh die Hosenbeine ein wenig hoch, damit ich deine schönen Beine sehe... So, ja, so ist sie hübsch, so ist sie sexy...«

Elsa hat nun langsam genug von diesen Faxen, sagt aber aus Höflichkeit nichts.

Pierre und Clara könnten kotzen.

In den Schlafsälen mit den dünnen Wänden stehen etwa zwanzig Dreierstockbetten aus Eisen, darin schlafen an die sechzig Pilger tief und fest.

Saint-Jean-Pied-de-Port ist ein Knotenpunkt, wo die Wege derer zusammenlaufen, die den spanischen Teil beginnen, und jener, die den französischen Teil hinter sich haben und die Wanderung nun durch Spanien hindurch fortsetzen wollen, und so ist die Herberge oft überfüllt.

Um halb fünf am Morgen klingelt das Handy des leitenden Angestellten von France-Telecom in voller Lautstärke. Er hat einen Weckruf eingestellt, der Kavallerieangriff heißt — ein Titel, der genau zu dieser Tonfolge passt: Der ganze Schlafsaal wacht auf.

Ramzi wird aus einem verworrenen Traum gerissen, erschrocken fährt er auf.

»Ist es so weit? Müssen wir schon gehen?«

Said beruhigt ihn.

»Nein, nein, schlaf weiter, wir haben noch Zeit.«

Der leitende Angestellte springt aus dem Bett, schaltet das Licht an und schlendert pfeifend und türenschlagend in den Waschraum. Dreimal zieht er die Wasserspülung und putzt sich singend die Zähne.

Im Saal kommt großer Unmut auf.

Pierre: »Wer ist denn dieser Quälgeist?«

Clara: »Das ist ja wohl nicht wahr! Wie spät ist es denn?«

Pierre sieht auf seine Armbanduhr. »Halb fünf.«

Clara: »Halb fünf. Das ist ja unmöglich!«

Der leitende Angestellte von France-Telecom hat seine Morgenwäsche beendet und kommt zurück in den Schlafsaal, um sich anzuziehen. Im Vorbeigehen schlägt er mit der Zahnbürste an alle Bettpfosten, was ihn ungeheuer amüsiert.

Claude: »Das ist doch die Höhe, Sie Blödmann!«

Mathilde: »So ein Arschloch! Unglaublich!«

Der leitende Angestellte zieht sich singend an. »Und jetzt noch das Regencape und dann die Schuhe...«

Alle, ausnahmslos alle Pilger sind wach geworden und wälzen sich auf ihren quietschenden, knirschenden Eisenbetten herum.

Pierre schreit: »Halten Sie jetzt endlich Ihre Schnauze?«

Clara echot: »Halten Sie jetzt wohl endlich mal die Schnauze?«

Der leitende Angestellte nimmt seinen Rucksack und setzt ihn so schwungvoll auf, dass er im Vorübergehen an Guys Bett stößt. Guy gerät ziemlich außer sich.

»Also hören Sie mal! Dass man die Leute nicht beim Schlafen stört, ist ja wohl das Mindeste, was man an Respekt erwarten kann!«

Der Telecom-Typ lacht ihm ins Gesicht.

»Und wer kommt als Erster in der Herberge an? Los, aufstehen, ihr Faulpelze! Weiter geht’s, marsch, marsch!« Er pfeift den Kavallerieangriff. »Küsschen, Elsa!«

Er haut kräftig gegen Elsas Bett, schlägt die Tür des Schlafsaals zu und geht singend von dannen: Dadada dada. Das Licht lässt er brennen.

Camille: »Woher kennst du denn diese Pestbeule?«

Elsa ist zu müde, um zu antworten, sie ist schon wieder eingeschlafen.

Einige Stunden später passiert die Gruppe das alte Spitzbogentor von Saint-Jean-Pied-de-Port, das auf die Brücke über die Nive führt. Unter der Brücke ist der Fluss seicht und klar, so klar, dass man zwischen den Kieseln Forellen stehen sieht.

Mitten auf der Brücke macht Guy halt und dreht sich zu seinen acht Pilgern um:

»Also, den französischen Teil des Weges haben Sie hinter sich, vor Ihnen liegen die Pyrenäen, danach kommt Spanien. Die heutige Etappe wird ein wenig anstrengend. Clara, Claude und Pierre, ich muss Ihnen jetzt etwas mitteilen... etwas gestehen. Ihre Mutter hat in ihrem Testament nämlich verfügt, dass Sie die Wanderung beenden dürfen, wenn Sie wirklich zusammen von Le Puy-en-Velay bis nach Saint-Jean-Pied-de-Port gepilgert sind. Ich darf Ihnen das erst heute sagen. Sie haben den Letzten Willen Ihrer Mutter erfüllt und dürfen nun Ihr Erbe antreten — für Sie ist der Weg hier zu Ende. In einer Dreiviertelstunde fährt vom Platz aus ein Bus nach Biarritz, dort haben Sie eine Zugverbindung nach Paris. Ich verabschiede mich von Ihnen und wünsche Ihnen viel Glück. Trotz der kleinen Unstimmigkeiten war es mir eine Freude, mit Ihnen zu wandern.«

Alle sind wie vom Blitz getroffen.

Clara: »Warten Sie — heißt das, wir sind hier fertig? Wir dürfen nach Hause fahren?«

Guy: »Ja.«

Pierre: »Die Wanderung ist zu Ende?«

Guy: »Ja, ja! Sie dürfen nach Hause zurückkehren, es ist vorbei. Rufen Sie Ihren Anwalt an, wenn Sie wollen, er wird es Ihnen bestätigen.«

Claude: »Toll!«

Guy: »Gehen Sie nur, es ist alles in Ordnung.«

Zum Abschied nimmt er Pierre in die Arme, Pierre weiß nicht, wie ihm geschieht. Die anderen stehen da wie unter Schock, vor allem Mathilde und Ramzi sind wie gelähmt.

Die Geschwister verabschieden sich von der Gruppe, nehmen alle in ihre Arme.

Aus Angst vor Gefühlsausbrüchen drängt Guy seine Gruppe zum Weitergehen.

»Also, wir sollten jetzt wirklich los — wir haben einen harten Aufstieg vor uns.«

Er setzt sich an die Spitze der fünf Pilger, die ihm wie in Trance folgen.

Clara, Claude und Pierre wenden sich in die entgegengesetzte Richtung.

Plötzlich hält Pierre mitten auf der Straße inne, bleibt eine Weile wie erstarrt stehen, dann dreht er sich auf dem Absatz um. Entschlossenen Schrittes macht er sich auf den Weg in die Pyrenäen.

Claude: »He, wo willst du denn hin?«

Pierre geht rasch. Ohne den Kopf zu wenden, sagt er: »Ich mache weiter.«

»Was machst du weiter?«

»Den Weg.«

»Bis wohin?«

»Bis Santiago.«

Claude läuft ihm hinterher. »Aber warum denn?«

»Weil ich zu Ende bringen will, was ich angefangen habe. Ich höre doch nicht mittendrin auf.«

»Wo mittendrin?«

»Lass mich in Frieden, nimm deinen Bus, nimm dein Geld und vergiss mich!«

Clara ist zu den beiden getreten:

»Du willst bis nach Santiago wandern?«

»Ja. Und? Was dagegen? Mir geht es gut auf dieser Wanderung, ich bin nicht mehr krank, und ich will Santiago sehen.«

»Aber in Santiago gibt es nichts zu sehen. Da ist nur eine Kathedrale, und Kathedralen haben wir in Frankreich wirklich mehr als genug.«

»Warum nehmt ihr nicht einfach euren Bus und verschwindet? Wieso rückt ihr mir auf die Pelle? Habe ich etwas von euch verlangt?«

Er beschleunigt seine Schritte. Claude zwingt ihn anzuhalten, indem er ihn am Arm packt.

»Was hast du vor? Willst du beweisen, dass du besser bist als wir? Toller als wir? Dass du alles tust, wie Maman es wollte?«

»Jaja, ganz genau. Lässt du mich jetzt wohl los? Ich habe nie etwas richtig gemacht, alles habe ich immer nur getan, um Maman etwas zu beweisen — zum Beispiel dass ich liebenswert bin. Und wie du siehst, war alles falsch. Ich habe gar nichts vorzuweisen — mein Leben ist ein einziges Chaos, und das weißt du auch. Keiner liebt mich. Zu Hause habe ich nur eine jämmerliche Trinkerin, die ich ständig davon abhalten muss, sich umzubringen. Na und? Habe ich deswegen kein Recht zu leben? Und jetzt kommst auch noch du daher und gehst mir auf die Eier, weil ich zum ersten Mal in meinem Leben etwas tue, ohne jemand was beweisen zu wollen — einfach nur, um mit anderen Menschen zusammen zu sein und weil ich mich dabei wohlfühle. Dich, dich lieben alle! Und mit Frauen verstehst du dich doch auch prächtig. Was willst du mehr?«

Pierre geht weiter, um seine Tränen zu verbergen.

Clara und Claude bleiben eine ganze Weile stehen.

Dann hat sich Clara entschieden. Sie folgt ihrem Bruder.

Schließlich geht auch Claude hinterher, in Richtung Spanien.