DER WEG IST NUN eindeutig nicht mehr geteert. Wie eine rote Schlange windet er sich über Felskegel, die aus grünen Wiesen aufragen. Es geht steil bergan. Im Velay geht es auf und ab, aber im Großen und Ganzen geht es bergauf. Keiner in der Gruppe hat Übung, und keiner hat mit so vielen Steigungen gerechnet.
Am Schwanz des Zugs schleppt sich Pierre schwitzend weiter; er musste sich von seinem Chauffeur verabschieden und seinen Rucksack wieder in Empfang nehmen.
Claude geht vor Pierre, er schlägt sich ganz wacker, aber er hat ja auch nichts zu tragen.
Clara gibt sich Mühe, mit den Jüngeren mitzuhalten, die hinter ihr marschieren; sie leidet. Guy und Mathilde gehen an der Spitze, Camille kurz dahinter. Said holt sie ein.
»Mannometer, bist du fit!«
»Es geht. Sag mal, was ist denn das für eine Geschichte mit Mekka?«
»Das ist wegen Ramzi. Er denkt, wir pilgern nach Mekka.«
»Aber wir gehen doch gar nicht nach Mekka.«
»Nein, aber seine Mutter wollte es so, damit er lesen lernt.«
»Aber... das ist ja schrecklich!«
»Was ist schrecklich?«
»Na, wir gehen doch gar nicht dorthin.«
»Ja, aber Ramzi... Er ist ein bisschen... na, du weißt schon, ein bisschen...«
»Gaga?«
»Nein, er ist einfach ein wenig zurückgeblieben, wenn du so willst.«
»Er ist nicht zurückgeblieben. Morgen bringe ich ihm das Lesen bei, wenn sich eine Gelegenheit ergibt.«
»Ach, das wäre schön!«
»Aber warum wanderst du nach Santiago?«
»Na, weil ich... weil ich jemanden kenne, der auch dorthin wandert.«
»Wen?«
»Was? Ach, jemand eben... Und wie bist du dazu gekommen?«
»Mein Onkel hat mir die Reise zum Schulabschluss geschenkt, er hat mich und meine Kusine dazu eingeladen. Hat dir Ramzis Mutter Geld gegeben?«
»Ja, ein bisschen...«
»Um nach Mekka zu pilgern?«
»Ja.«
»Aber Said, ist das nicht glatter Betrug, was du da durchziehst?«
»Ich? Nein, gar nicht.«
Camille ist ganz verstört, weil Said ihr so gut gefällt.
Doch sie fürchtet ihn auch wie die Pest, sie spürt, dass er schon monatelang um sie herumschleicht. Die anderen Jungs in seinem Alter wollen mit ihr ausgehen, sprechen sie an und flirten mit ihr, aber Said unternimmt gar nichts. Er ist einfach da, immer nur da, und er ist so schön, dass man in Ohnmacht fallen könnte, aber er tut nichts, er spricht sie nicht an, er vertreibt die anderen und sorgt dafür, dass sie allein ist. Sie träumt oft von ihm und fühlt sich wohl in seiner Nähe. Gleichzeitig würde sie ihn am liebsten zum Teufel jagen, so sehr verabscheut sie ihn. Eine vertrackte Sache.
Said stirbt vor Liebe, wenn er nicht bei ihr ist, und sobald er bei ihr ist, benimmt er sich wie ein entfernter Bekannter. Er muss sein Herz verhärten, damit der Strom seines Verlangens ihn nicht mitreißt. Er beobachtet Camille schon seit Monaten, er weiß, wie stark und unabhängig sie ist, er weiß, dass der gespannte Faden, der sie verbindet, beim kleinsten Fehler reißen kann. Sie ist nicht im Geringsten eingebildet, sie bewegt sich ganz einfach durchs Leben wie ein Ozeandampfer, der den Wellen trotzt. Sie hat keine Ahnung, wie atemberaubend schön sie ist. Said aber kennt jede Rundung ihrer Hüften, ihrer Brust, und wenn sie mit ihm spricht, vergisst er oft, ihr zuzuhören, stattdessen betrachtet er dann ihre unvergleichlich rosige, zarte Haut, ihre glatten Wangen und ihre Augen, deren Farbe er immer noch nicht benennen kann, denn manchmal sind sie grün, manchmal golden.
Ein Stück entfernt unterhalten sich Elsa und Ramzi und lernen sich besser kennen.
»Kennste Camille schon lange?«, fragt Ramzi.
»O ja, seit ich ganz klein war.«
»Aber du wohnst nich in unser Viertel?«
»Nein, meine Mutter war eine Freundin von Camilles Mutter.«
»Und wo wohnste?«
»In der Nähe der Metrostation Solférino.«
»Solférino? Is das im neun-drei Département?«
»Nein, im siebten Arrondissement.«
»Was gibt’s denn für große Städte im Siebten?«
»Im Siebten? Hm, also... da gibt es keine Städte, umgekehrt: Das siebte Arrondissement liegt in einer Stadt, in Paris.«
»Ach! Du wohnst in Paris?«
»Ja. — Wanderst du gern?«
»Ja, total. Und vielleicht sehn wir ja auch Kühe.«
»Ja, die werden wir sicherlich sehen... Weißt du, warum Said mitgekommen ist?«
»Wir pilgern nach Mekka.«
»Hat Camille gewusst, dass ihr mitkommt?«
»Nein, wir wollten sie überraschen.«
Elsa blickt nicht durch in diesem ganzen Durcheinander. Der Gedanke, ihre Freundin hätte heimlich ihren Typ eingeladen, ohne ihr etwas zu sagen, nervt sie tierisch. Wenn das so wäre, dann hätte sie, Elsa, auch einen Typ mitkommen lassen können.
Ramzi ist süß, aber ein bisschen daneben. Tut er nur so, als sei er unterbelichtet, oder ist er es wirklich? Nicht ganz richtig im Kopf? Jedenfalls ist er nett und nicht so ein Macho, zumindest noch nicht... Das wird sich ja dann im Umgang erweisen.
Die Gruppe marschiert nun seit Stunden, die Sonne brennt.
Pierre, der sich besonders elend fühlt, bleibt stehen und fährt Guy barsch an: »He, sagen Sie mal, Monsieur, wie lange latschen wir jetzt eigentlich schon durch die Gegend?«
»Gut drei Stunden.«
»Und wann essen wir?«
»In einer Dreiviertelstunde bis Stunde.«
»O nein, ich wandere keine Stunde mehr, ohne etwas zu essen.«
»Wollen Sie eine kurze Rast einlegen?«
Laut stimmen alle dem Vorschlag zu, eine kurze Pause einzulegen.
Guy hat eine Wiese über einem grünen Tal entdeckt. Virtuos künden die Vögel von ihrer beschwerlichen oder freudigen Existenz — was genau, wird man nie erfahren aber zumindest künden sie von sich. Im Gras sitzen die Wanderer im Kreis, ihre Rucksäcke haben sie abgesetzt, einige haben die Schuhe ausgezogen. Guy lässt eine Packung Kekse herumgehen.
Dies könnte ein Augenblick reinen Glücks sein, doch keiner scheint ihn so zu verstehen. Man begreift immer erst hinterher, wenn alles vorbei und vergangen ist und unwiderruflich hinter einem liegt, wie glücklich man war.
Pierre hat einen ganzen Haufen Medikamente ausgepackt, wie besessen wühlt er darin herum, zählt die Tabletten, teilt sie ein, ordnet sie nach Farben und schluckt sie mit gequälter Miene — ein magisches Ritual gegen die Urängste.
Claude ist immer noch gut drauf, er gibt gänzlich seinen Grundbedürfnissen nach: Er hat Durst.
»Trinken wir einen Schluck?«
Clara: »Du hast keinen Becher.«
Pierre: »Du hast kein Wasser.«
Claude: »Hast du welches?«
Pierre: »Ja, warum?«
Claude: »Für mich.«
Pierre: »Wir sind die ganze Zeit bergauf gegangen, oder?«
Claude: »Ja.«
Pierre: »Und wer hat das Wasser den Berg hinaufgetragen?«
Claude: »Du, Pierre — du bist stark und mutig, gegen dich kommt keiner an, dir gelingt alles, was du anpackst. Ich bewundere dich, Pierre.«
Pierre: »Scheiß drauf.«
Claude: »Hast du Klopapier für mich?«
Guy spürt Gefahr heraufziehen. Zwischen den drei Geschwistern kann es jederzeit krachen.
»Bitte, könnten Sie wohl auch anders miteinander kommunizieren als durch Beschimpfungen? Ich denke, die Gruppe würde sich darüber freuen, schließlich wollen wir noch ein paar Wochen zusam...«
Pierre: »Jetzt hören Sie mal, ich rede, wie ich will. Im Testament meiner Mutter steht nichts davon, dass ich meinem Bruder nicht antworten darf.«
Guy: »Ja, aber zwischen Antworten und Beschimpfen liegt ein kleiner Unterschied, der Ton macht die Mu...«
Pierre: »Und meiner Schwester übrigens auch.«
Clara: »Na, dann beschimpf mich doch. Ich schlag dir die Visage ein!«
Guy: »Ich habe für alle das Essen dabei. Reissalat mit Tomaten, Thunfisch...«
Pierre: »Provozier mich nicht!«
Guy: »... Käse und Oliven. Zum Nachtisch Rührkuchen.«
Clara: »Ich schlag dir die Visage ein, ich mach dich so fertig, dass du nicht mehr weißt, wie du heißt!«
Guy: »Also, gehen wir jetzt noch ein Stündchen und picknicken dann...?«
Pierre: »Ich mache dich fertig!«
Guy: »...an einem sehr schönen Platz. Doch ab morgen möchte ich darum bitten, dass jeder seinen Proviant selbst trägt. Sie kennen die Regel auf Pilgerwanderungen: Jeder schleppt...«
Clara: »... seine eigene Scheiße.«
Guy: »... muss selbst tragen, was er braucht.«
Clara: »Sag ich doch!«
Claude: »Danke, Clara, du bist die tollste Lehrerin des gesamten französischen Bildungswesens. Ich merke mir die Lektion: Jeder seine eigene Scheiße.«
Guy erhebt sich, die anderen stehen ebenfalls auf.
Mathilde reicht Claude eine Wasserflasche. »Hier, trinken Sie. Und hören Sie jetzt auf, sich zu streiten.«
Clara: »Oh, das hätten Sie nicht tun sollen. Bei ihm muss man von Anfang an Nein sagen. Er ist Generaldirektor einer Staubsaugerfirma, er saugt Sie aus und lässt nicht mehr von Ihnen ab, bis Sie ihm auch noch das letzte Hemd gegeben haben.«
Claude trinkt einen Schluck, er ist ein wenig enttäuscht, dass es nur Wasser ist, von Mathilde aber ist er ganz angetan.
Die Gruppe macht sich wieder auf den Weg.
Mathilde meint, dass Pierre und Clara gemein zu ihrem Bruder sind. Sie findet diesen lässigen Burschen rührend, der nichts dabei hat außer der Kleidung, die er auf dem Leib trägt.
Als sie später über einen Teppich aus Kiefernnadeln durch einen Wald gehen, schließt Claude zu Mathilde auf. Sie wandern abwechselnd durch Schatten und Licht, das durch die hohen Bäume fällt.
Mathilde ist voller Mitgefühl.
»Generaldirektor — das macht bestimmt viel Stress.«
»Wem?«
»Ihnen?«
»Nein, nein, ich bin kein Generaldirektor, ich habe keinen Stress. Pierre, mein Bruder, ist Direktor. Ich bin arbeitslos. Langzeit.«
»Wurden Sie entlassen?«
»Nein, ich habe nie gearbeitet — ich habe schon immer getrunken.«
»Ach...?«
Und mit einem rasend charmanten Lächeln fügt er hinzu:
»Ich bin Alkoholiker und Sozialhilfeempfänger.«
»Ach...?«
Claude fragt sich dabei, wann er wohl wieder mal an Alkohol kommt.
Sein Körper leidet allmählich unter dem Entzug, die Hände zittern schon leicht; mit einem Schlückchen Whisky liefe alles gleich viel besser.
»Sie wissen nicht zufällig, ob es hier auf dem Weg ein paar Kneipen gibt?«
»Kneipen? Oh, auf dem Weg gibt es viele Kneipen, keine Sorge, wir werden ständig an welchen vorbeilaufen.«
Claude bekommt richtig gute Laune.
»Ein schönes Tuch haben Sie da. Steht Ihnen gut.«
Mathilde erwidert Claudes Lächeln.
Ramzi geht neben Guy und bombardiert ihn mit Fragen.
»Wann sehn wir denn jetzt endlich mal Kühe?«
»Schon bald. Ständig. Im Aubrac gibt es sehr schöne Kühe, sie haben schwarz umrandete Augen, man könnte meinen, sie seien mit Kajal geschminkt.«
»Neeiin! Die Kühe sind geschminkt? Mit Kajal?«
»Ja, das könnte man fast meinen.«
»Sind das arabische Kühe?«
Guy will nicht widersprechen.
»Ja, ein bisschen arabisch...«
»Und Schafe? Sehn wir auch Schafe?«
»Aber ja, ganz viele.«
»Is ja klar — weil man fürs Aid so viele schlachten muss.«
»Wie bitte?«
»Fürs Aid El Adha, das Opfer am Ende der Pilgerreise.«
»Ach ja? Ich weiß nicht, ob man für das Opfer Schafe schlachtet, aber...«
»Doch, doch, meine Mutter hat’s gesagt.«
»Na, wenn deine Mutter das gesagt hat...«
»Dann stimmt’s. Alles, was meine Mutter sagt, stimmt.«
Camille und Elsa erfrischen sich in einem Bach.
Elsa steht bis zu den Hüften im Wasser, Camille benetzt sich nur die Beine. Da die beiden allein sind, nutzt Elsa die Gelegenheit und verlangt von ihr eine Erklärung, warum die Jungs dabei sind. Camille schwört, sie habe nicht gewusst, dass die beiden mitkommen wollten.
Elsa: »Und was soll eigentlich dieses ganze Gerede von wegen Santiago-Mekka?«
»Weiß ich nicht. Ich glaube, Said hat dafür Geld von Ramzis Mutter bekommen oder so etwas in der Richtung.«
»Ramzi ist ein bisschen doof im Kopf, oder?«
»Nein, er ist nur... ach, ich weiß auch nicht... zurückgeblieben, aber dumm ist er nicht, er will lesen lernen.«
»Er kann nicht lesen?«
»Nein.«
»Wie alt ist er denn?«
»Vierzehn, fünfzehn.«
»Ist Said immer noch in dich verknallt?«
»Das weiß ich doch nicht!«
»Und ist er immer noch deine große Liebe?«
Genau solche Fragen bringen Camille auf die Palme. Wie kann Elsa diesen altmodischen Begriff »große Liebe« nur in den Mund nehmen? Und dann auch noch Said damit meinen? Aber zwischen ihr und ihm ist nichts, gar nichts. Sie spricht oft von ihm, ja, aber das ist auch alles. Ein paarmal hat er ihr nette Briefchen geschrieben, die sie aufbewahrt hat, aber daraus muss man doch keine große Sache machen. Dass Elsa immer aus allem einen Groschenroman macht, ödet Camille gewaltig an.
»Große Liebe, große Liebe! Du nervst mich mit deiner großen Liebe! Es gibt keine große Liebe. Ich glaube nicht an die große Liebe.«
Elsa begreift gar nichts mehr. Weder, warum die Jungs dabei sind, noch begreift sie Camille, denn Elsa weiß genau, dass ihre Kusine wirklich in Said verliebt ist, und zwar schon seit Monaten. Schließlich hat sie Augen und Ohren im Kopf.