DIE PILGER HABEN NUN den welligen grünen Südwesten Frankreichs erreicht. Sie sind durch Espalion gekommen, die Stadt mit der dreibogigen Brücke, die das blaue Band des Lot überspannt, durch Conques, ein riesiges Einkaufszentrum für Rentner, die busweise kommen und schamlos ausgenommen werden, und durch Moissac, wo sie den Kreuzgang der Benediktinerabtei gesehen haben, in dem sechsundsiebzig romanische Kapitelle und einhundertsechzehn Säulen aus skulptiertem Marmor erhalten sind — ein Kreuzgang, der sogar Atheisten Lust auf ein Leben im Kloster machen könnte. Und ihnen sind noch viele andere Kleinodien begegnet, die man mit eigenen Augen sehen muss und die in den Reiseführern unerwähnt bleiben.

Sie sind von Fierberge zu Herberge gezogen, von einem gemeinsamen Essen zum nächsten, von einer kleinen Wäsche zur anderen, von Zoff zu Zoff und von einem unverhofften Augenblick reiner Freude zum nächsten, wenn ihnen etwa am Weg Obst angeboten wurde oder wenn ein prasselnder Regenschauer plötzlich aufhörte.

Pierre spricht nicht mehr vom Umkehren, aber die Beziehung zu seinen Geschwistern ist nach wie vor spannungsgeladen.

Claude besitzt immer noch nichts, und er braucht auch nichts, es sei denn hier und da einen Stopp in einer Kneipe. Vielen Pilgern auf dem Jakobsweg sind die architektonischen und landschaftlichen Schätze wichtig, für andere bedeutet der Weg eine spirituelle Suche, manche wollen andere Menschen kennenlernen oder ihre frühere Leistungsfähigkeit zurückgewinnen, und wieder andere sehen darin den Kneipenweg. Claude wandert den Kneipenweg.

Es hat sich so eingespielt, dass man ihm Seife und Besteck leiht, und die Gruppe macht mit, weil Claude streng auf eine gerechte Rotation der Leihgeber achtet. Wenn er sich dazu durchringen kann, seine Wäsche zu waschen, lässt er abwechselnd Unterhose, Hemd und Hose unterwegs an einem Stock trocknen, und dann marschiert der schlaksige Typ ungeniert in der Unterhose und mit nackten Beinen und Füßen in seinen Turnschuhen weiter.

Niemand traut sich, es auszusprechen, aber alle finden, dass Claude das Motto des »leichten Gepäcks« am besten umgesetzt hat, und bereuen es, nicht selbst den Mut gehabt zu haben, es so zu machen wie er.

Mathilde ist fasziniert von dieser Lässigkeit, von dieser offenbaren Leichtigkeit im Umgang mit Problemen. Sie, die so große Ängste hat, findet bei Claude Entspannung und Frieden.

Guy beobachtet argwöhnisch den Fortgang dieser Beziehung, die zwar noch platonisch ist, aber enger und vertraulicher wird.

Ihm geht das auf die Nerven, weil er sich mit der undankbaren Rolle bescheiden muss, die materielle Versorgung zu gewährleisten, aber er beherrscht sich und lässt sich nichts anmerken.

Said und Camille lassen sich nicht aus den Augen, sie streichen umeinander wie zwei junge Wölfe, die sich einander nähern, sich gegenseitig zurückdrängen und wieder anziehen.

Die bunten Stempel füllen die Pilgerausweise.

Ramzi hat viele Kühe und Schafe gesehen, ohne dass seine Liebe zu diesen Tieren auch nur um ein Jota nachgelassen hätte.

Er geht gern mit Guy in den kleinen Dorfläden einkaufen und hofft vergeblich, eines Tages doch noch ein bisschen Junkfood zu ergattern.

»Guy, können wir nich mal ’ne Limo kaufen, nur ein Mal!«

»Nein, davon bekommt man Blähungen.«

»Oh, da gibt’s ja weiße Schokolade! Meine Mutter kauft nie weiße Schokolade. Ist weiße Schokolade gut, Guy?«

»In dieser Bruthitze schmilzt die Schokolade doch im Rucksack.«

»Ah, Chips! Chips sind gut auf einer Wanderung, oder, Guy?«

»Lass mal die Tüte sehen... Also, Geschmacksverstärker E621, Füllstoff E551, Säuerungsmittel E330. Hm... Das findest du gut?«

»Nehmen wir die Tüte?«

»Willst du dich vergiften?«

»Dann essen wir also gar nichts?«

»Doch, Gemüse.«

In Ernährungsfragen ist Guy unerbittlich.

Nach der Vorbereitungsphase hat Clara nun in der Mittagspause hinter einem Felsen mit der ersten richtigen Unterrichtsstunde begonnen:

»Was hast du denn für Interessen?«

Ramzi: »Fußball!«

»Sehr schön. Also Fußball. Welche Wörter über Fußball willst du lesen lernen?«

»Das Wort Fußball.«

»Gut, Fußball. Was noch?«

»Dribbling.«

»Dribbling. Hm, das ist nicht so einfach, das kommt aus dem Englischen. Sollen wir nicht besser mit einem anderen Wort anfangen?«

»Corner.«

»Corner. Hm, nein. Nein, das geht auch nicht.«

»Foul.«

»Foul. So was! Du nennst mir ja lauter englische Wörter... Sag mal, willst du mir damit zeigen, dass du fließend Englisch kannst, oder was?«

»Ich? Ich kann überhaupt kein Englisch.«

»Na gut, wie wäre es denn mit >Stollenschuh<? Ginge das? Willst du das Wort >Stollen< lesen lernen?«

»Ja. Oder Zidane oder Ronaldo...«

»Einverstanden. Fangen wir mit Zidane an. Zidane beginnt mit Z. Das Z ist der letzte Buchstabe des Alphabets. Das Alphabet ist...«

»Im Fußball is Zidane aber der Erste.«

»Na ja, manchmal sind die Ersten eben die Letzten, weißt du.«

»Das kommt aber nich so oft vor.«

»Doch, doch, manchmal schon. Und ein Mal reicht ja auch.«

»Ein Mal reicht wofür?«

»Um die Hoffnung nicht aufzugeben.«

»Das is ’n uncooler Spruch!«

»Ich werde dich eines Besseren belehren.«

»Hoffnung auf was? Warum?«

»Darüber reden wir später. Jetzt schreiben wir.«

Hat der Schüler erst einmal ein bisschen mehr Selbstvertrauen, kommt die Zeit, da der Lehrer gegen die Plage der Trägheit ankämpfen muss und es sich nicht leicht machen darf, indem er den Schüler mit seinen Fragen auf später vertröstet, weil er gegen den versteckten, beharrlichen Widerspruchsgeist ankämpfen muss, der im Lernenden schwelt, in dem Menschen also, von dem man verlangt, über sich selbst hinauszuwachsen.

Die Wachstumshelfer und -helferinnen der Menschenkinder — ungezählte Lehrer, Eltern, Ausbilder, Erzieher, die sich der schwierigen Aufgabe verschrieben haben, Wissen zu vermitteln, ohne dafür auf Dankbarkeit hoffen zu dürfen, und denen niemals die Ehre widerfährt, in den Fernsehnachrichten erwähnt zu werden, weil sie tagtäglich nur schuften und ganz bescheiden das Überleben der Spezies Mensch sichern, diejenigen, die gegen den harten Widerstand der Schüler ankämpfen, diejenigen, über die man lästert und spottet, deren Unterricht man stört und die man nach Gebrauch wegwirft - sie sind (nach den Träumen) das zweite große kulturelle Erbe der Menschheit, das Salz der Erde, die wahren Weltstars.

Eines Abends kommt die Gruppe spät in der Herberge an. Der Himmel droht mit einem starken Gewitter, es ist schwül, man hat Hunger, Durst, sehnt sich nach Schlaf.

Die Herbergsmutter steht betreten an der Tür.

»Oje, wie viele sind Sie denn? Ich habe keinen Platz mehr, kein einziges Bett. Vier Pilger schlafen schon auf Luftmatratzen. Neun Personen, also das geht wirklich nicht! Wären Sie zwei, drei Stunden früher gekommen, aber abends um halb acht...«

»Und das Essen? Bekommen wir etwas zu essen?«

»Nein, tut mir leid, ich habe nur Essen für die Gäste, die hier schlafen, und wie gesagt, es sind bereits vier Leute mehr. Die werden alles wegputzen... Wissen Sie, ich kaufe nur so viel ein, wie ich wirklich brauche, denn wenn ich zu viel kaufe, muss ich es wegwerfen.«

»Finden wir im Dorf etwas zu essen? Gibt es ein Gasthaus?«

»Nein, hier im Dorf gibt es kein Restaurant!«

»Und einen Laden?«

»Nein, der Laden ist geschlossen. Um diese Zeit finden Sie im Umkreis von zwanzig Kilometern nichts... Wie kann ich Ihnen nur helfen? ... Vielleicht fragen Sie beim Pfarrer nach, er hat Platz, er hat ein großes Haus.«

»Ja? Und wo ist das?«

»Oben im Dorf, knapp zwanzig Minuten zu Fuß. An der Straße, die hinaufführt, sehen Sie ein großes gelbes Haus, groß und leer, er lebt ganz allein, er nimmt Sie sicherlich auf.«

»Und meinen Sie, er hat für uns auch ein bisschen was zum Futtern?«

»Ja ja, sicher, beim Pfarrer gibt es alles, was man braucht. Er ist ein Schlemmer, er isst gern und viel. Er hilft Ihnen sicherlich aus der Patsche. Er sitzt jetzt übrigens bestimmt bei Tisch, Sie sollten sich beeilen.«

»Gut, vielen Dank, dann machen wir uns schleunigst auf den Weg. Auf Wiedersehen!«

Die Worte »knapp zwanzig Minuten zu Fuß« und »die Straße, die hinaufführt« haben einige Mitglieder der Gruppe besonders aufgeregt.

Guy hat schlechte Laune, sein Trupp grollt wie der Donner am Himmel, bissige Bemerkungen fliegen ihm um die Ohren.

Vor dem Pfarrhaus, einem prächtigen Herrenhaus aus dem 18. Jahrhundert, verputzt in einem wunderschönen Gelb, steht Guy und spricht mit dem Pfarrer, der mit einer großen weißen Damastserviette um den Hals am Fenster steht.

»Nein, nein, nein, das geht nicht, ich habe hier keinen Platz für neun Leute.«

»Für wie viele hätten Sie denn Platz?«

»Na, eigentlich für keinen, ich kann Sie hier nicht aufnehmen.«

»Aber man hat uns gesagt, dass Sie ein großes Haus haben...«

Der Pfarrer hätte besser sagen sollen, nein, es sei eher viel zu klein, aber sein Dünkel ist schneller als seine Umsicht, und ganz stolz auf sein Haus erwidert er gleich: »O ja, es ist groß.«

»... und ganz allein leben...«

»Ja, ich lebe allein, aber wir hatten Sturmschäden, die wir nun reparieren müssen, das ganze Haus ist eine einzige Baustelle.«

»Also, wir sind neun Leute, gleich wird es regnen, die Herberge ist überfüllt, und wir wissen nicht wohin.«

»Verstehe, verstehe... Aber ich kann wirklich nichts für Sie tun, ich sage Ihnen doch, ich habe hier eine Baustelle.«

»Und Essen? Hätten Sie vielleicht etwas zu essen für uns?«

Ein heikler Punkt, den man lieber nicht anspricht. Das Essen ist für einen vornehmen Pinkel in der Provinz eine geheiligte Zeremonie, die seit dem ersten Erwachen geplant, organisiert und überdacht sein will. Dazu gehören: Einkäufen, Gemüseputzen, Vorbereiten, Kochen und schließlich der langsame, bedächtige, stille, manchmal einsame — denn so ist er noch genussvoller — Verzehr der kulinarischen Kostbarkeiten Frankreichs. Kommt gar nicht infrage, dass man eine Horde Pilger zu seinem ganz privaten delikaten Festschmaus einlädt!

»Oh, nein, nein, ich habe nichts zu essen da. Ich war gerade dabei, meine Mahlzeit zu beenden, da ist nichts mehr übrig.«

»Wir haben seit heute Mittag nichts mehr gegessen, und wir wissen nicht, wo wir schlafen sollen.«

»Warten Sie kurz!«

Der Pfarrer entfernt sich und kommt mit einem Schlüssel zurück.

»Hier, das ist der Schlüssel für die Schule.«

Er wirft ihn Guy zu.

»Das Schulhaus ist gleich da unten, fünfhundert Meter weiter am Ende der Straße. Sie können Ihr Lager in einem Klassenzimmer aufschlagen... Im Hof gibt es Wasser und Toiletten, in der Schule können Sie es sich bequem machen.«

»Danke. Und zum Essen? Haben Sie irgendeine Vorstellung, wie wir an Essen kommen könnten?«

»Nein, ich habe keine Ahnung.«

»Na dann danke für den Schlüssel.«

»Und vergessen Sie bitte nicht, ihn morgen zurückzubringen!«

»Nein, nein... Und Croissants bringe ich Ihnen auch gleich mit.«

Kaum ist das Fenster des Pfarrhauses wieder geschlossen, ertönen auch schon giftige Kommentare. Guy zieht den Kopf ein, die Gruppe macht sich in Richtung Schule auf den Weg.

Mathilde: »Der Pfarrer sollte lieber mal seine Großherzigkeit reparieren lassen.«

Claude: »Sicherlich durchlebt er in seinem großen Haus auch große innerliche Sturmschäden.«

Elsa: »Wer hat, der hat.«

Mathilde: »Mit den Croissants sollten Sie ihm auch gleich ein Alka-Seltzer bringen.«

Ramzi: »Ich hoffe, Sie bringen ihm nich wirklich Croissants mit.«

Guy: »Nein, nein, keine Sorge!«

Pierre: »Was ist hier eigentlich schiefgelaufen? Können Sie mir das erklären, Guy?«

Guy: »Es tut mir schrecklich leid — ich hatte reserviert. Ich verstehe das auch nicht.«

Pierre: »Jetzt hören Sie mal zu — ich habe es wirklich langsam satt, ich habe die Nase gestrichen voll! Erstens kann ich nicht ins Hotel gehen und muss mich damit abfinden, in zweifelhaften Herbergen zu schlafen, zweitens wurde ich gezwungen, meine Geschäfte ruhen zu lassen und auf meine Medikamente zu verzichten, drittens ist meine Frau krank, und ich kann mich nicht um sie kümmern...«

Clara: »Ist Ihnen aufgefallen, dass seine Frau an letzter Stelle kommt?«

Pierre: »Schnauze!«

Clara: »Selber Schnauze!«

Pierre: »Und jetzt stehen wir auch noch mitten im Gewitter auf der Straße!«

Claude: »Na und? Es ist Sommer, es ist warm.«

Pierre, fuchsteufelswild: »Und du, du kannst sowieso die Klappe halten!«

Claude: »So redest du nicht mit mir, Pierre!«

Pierre bleibt stehen und funkelt seinen Bruder böse an. Die anderen gehen weiter, außer Clara und Mathilde, die die beiden Brüder besorgt beobachten.

Pierre: »Doch, so rede ich mit dir. Du brauchst wirklich keine große Lippe zu riskieren. Du lebst wie ein Clochard. Gut. Du hast dir dieses Leben selbst ausgesucht. Auch gut. Aber ich habe so ein Leben nicht gewählt! Klar? Ich habe mich dafür entschieden, hart zu arbeiten, mich in einer Welt voller tollwütiger Hunde zu behaupten und Geld zu verdienen, damit ich sorgenfrei und komfortabel leben kann. Geld macht vielleicht nicht glücklich, aber mit Geld ist man tausendmal besser dran als ohne. Klar? Ich musste mich durchboxen, aber ich habe es geschafft, ich habe Geld, und das habe ich nicht geerbt, sondern selbst erarbeitet. Ich habe nicht darauf gewartet, dass unsere Mutter stirbt, um meinen Arsch in Bewegung zu setzen. Stört es dich etwa, dass ich reich bin? Habe ich dir vielleicht etwas weggenommen? Was kannst du eigentlich — außer schmarotzen? Was? Sag schon! Könntest du das tun, was ich tue? Willst du um fünf Uhr morgens aufstehen und um Mitternacht schlafen gehen? Ich kann mir das bei dir jedenfalls nicht vorstellen. Du bist doch wie alle anderen kleinbürgerlichen Lebenskünstler, die auf die Reichen spucken, die aber ohne Weiteres ihre Eltern umbrächten, um an Geld zu kommen — Hauptsache, sie müssen dafür keinen Finger krumm machen. Du bist doch nur ein armer, verkorkster Versager, der seiner Mutter, seiner Schwester, seinen Frauen und seiner Tochter ständig auf der Tasche liegt. So einen wie dich nennt man einen Don Juan — oder einen Zuhälter. Such’s dir aus! Für mich aber bist du nur ein elender Tagedieb. Also: Sag du mir nicht, was ich tun und lassen soll!«

Claude: »Ich sag dir nicht, was du tun und lassen sollst, ich sage lediglich, dass es warm ist und dass es kein Problem ist, im Freien zu sein, das ist alles. Und was kann ich dafür, dass ich im Gegensatz zu dir nun mal aussehe wie ein Don Juan? Was kann ich dafür, dass Mutter mich mehr geliebt hat als dich? Das konntest du nie verwinden, aber es ist nicht meine Schuld. Und dass Frauen mich mehr lieben als dich, konntest du auch nie ertragen. Aber damit die Frauen einen lieben, reicht es, dass man sie auch liebt, das ist das ganze Geheimnis, Frauen sind nicht kompliziert... Und da ist noch eine Sache, die ich nie so richtig begriffen habe: Wenn du so toll bist und wenn du andere glücklich machen kannst, wie kommt es dann, dass deine Frau noch schlimmer säuft als ich? Ist das nicht sonderbar?«

Pierre stürzt sich mit urplötzlicher Gewalt auf seinen Bruder und will ihn schlagen. Totschlägen. Brüllend geht Clara dazwischen.

Aschfahl vor Angst schreit Mathilde: »Aufhören! Hören Sie sofort auf, sich zu prügeln!«

In ihrer Verzweiflung hat Mathildes Tonfall etwas so Gebieterisches, dass die beiden innehalten, sich beruhigen und ein bisschen verlegen den anderen hinterhergehen, die mittlerweile beim Schulhaus angekommen sind.

Da fängt es an zu regnen — zu prasseln. Es schüttet wie aus Kübeln, sofort bilden sich Sturzbäche, die die abschüssigen Straßen hinabrauschen. Weltuntergangsstimmung.

Die Pilger können nicht einmal mehr ihre Regencapes auspacken. Ehe sie sich versehen, sind sie nass bis auf die Haut.

Schreiend laufen sie auf den Schulhof, der mit Edelkastanien gesäumt ist, und schaffen es unter das Vordach — in einen trockenen Hafen inmitten dieses Orkans.

Guy sucht ein großes Klassenzimmer aus, das zu einem Schlafsaal umfunktioniert wird. Alle setzen ihre Rucksäcke ab und legen Decken aus, damit sie nicht auf dem nackten, kalten Fliesenboden schlafen müssen.

Offensichtlich ist es eine Vorschule. Die winzigen Holzpulte mit der geneigten Schreibfläche wirken zwar rührend, für die Übernachtungsgäste sind sie jedoch nutzlos, also stapelt man sie in einer Ecke aufeinander.

Im Speisesaal hat Guy drei Tischplatten auf Böcken entdeckt; er legt sie auf den Boden. Darauf können sechs Personen schlafen, wenn sie ein bisschen zusammenrücken. Nun braucht er nur noch Schlafplätze für die restlichen drei Pilger...

Guy hat einen Einfall. Mithilfe von Claude und seinem Schweizermesser schraubt er die Wandtafel ab und legt sie auf den Boden.

Sie versuchen, die Kreidespuren von der Tafel zu wischen, doch der Lappen hinterlässt nur noch mehr weißes Puder. Keiner will sein T-Shirt opfern, also bleibt die Tafel weiß.

Ausführliche Diskussionen: Wer schläft wo? Said und Ramzi teilen sich eine Tischplatte, und ganz zufällig landen Camille und Elsa auf der Tischplatte daneben. Unter dem Vorwand, der eine könne unmöglich auf dieser Seite, der andere unmöglich auf jener Seite schlafen, und nach großem Hin und Her mit ihrem jeweiligen Partner auf der Tischplatte liegen Camille und Said nebeneinander. Geschafft!

Clara und Pierre schimpfen zwar wie die Rohrspatzen, müssen sich aber trotzdem eine Tischplatte teilen. Bleibt noch die Wandtafel; großzügig bietet Guy sie Claude und Mathilde an.

Guy selbst legt seinen Schlafsack auf die nackten Fliesen.

Streit liegt in der Luft.

Wie der Pfarrer gesagt hat, gibt es Toiletten und Waschräume im Hof. Um hinauszugehen, muss man sein Cape überziehen, denn das Gewitter tobt noch immer mit unverminderter Macht, und es sieht nicht danach aus, als werde es sich bald verziehen. Bei der Toilette handelt es sich um einen alten Holzschuppen mit fünf Stehklosetts, ohne Papier, ohne Riegel und mit schiefen, ausgeleierten Türen, die dafür gemacht wurden, den Unterleib eines fünfjähriges Kindes zu verbergen, und hinter denen Unterschenkel und Kopf zu sehen sind. Die Intimsphäre ist also absolut geschützt! Und der Waschraum ist vielmehr ein Sammeltrog aus gesprungener Keramik, gespeist wird er über ein Rohr, an dem vier von fünf Wasserhähnen defekt sind.

Im Kapuzencape stellen sich die Pilger an, um ihre Wasserflaschen an dem einzigen funktionierenden Wasserhahn zu füllen, aus dem ein bleistiftdünner Strahl fließt, und das mitten im Wolkenbruch.

Die Abendtoilette wird also auf das Allernotwendigste beschränkt. Es wird dunkel, es ist kalt.

Zurück im Klassenzimmer, machen alle Guy gegenüber auf unterschiedliche Weise, mehr oder weniger aggressiv, derselben Emotion Luft: Sie haben großen Hunger. Guy wühlt in seinem Rucksack und fischt die wenig ansprechenden Überbleibsel einer fast leeren Packung Figolu -Feigenkekse und ein paar Trockenfrüchte heraus. Man setzt sich auf die Tischplatten und verzehrt die Mahlzeit: für jeden anderthalb Figolu, ein Viertel getrocknete Banane und eine ganze getrocknete Aprikose, nachdem Guy auf seine Aprikose verzichtet hat.

Geplagt von heftigen Schuldgefühlen, wühlt Guy weiter in seinem Rucksack und findet noch eine letzte, ziemlich matschige Tomate in einer schmierigen Plastikschüssel. Er bietet sie seinen Schützlingen an, muss aber eine schmähliche Niederlage einstecken — außer von Ramzi, dem diese Tomate gerade recht kommt und der sie in einem einzigen Happen hinunterschlingt, um seinen knurrenden Magen zu beruhigen.

Pierre und Clara sind kurz davor, zu explodieren.

Plötzlich klopft es an der Tür — eine holländische Gruppe. Drei durchnässte Pilger, die so laut reden, wie ihr Land klein ist, und pantomimisch erklären, dass der Pfarrer sie zum »Slapen« hierhergeschickt habe.

Alle reden auf einmal auf die drei ein und geben ihnen zu verstehen, dass Schlafen hier nicht möglich sei, es gebe keine Tischplatten mehr, die Wandtafel sei bereits belegt...

Guy, der ein wenig Englisch kann, wenn auch nur radebrechend, nimmt die Sache in die Hand: »Gut. OK, guys, it is difficult to hospitality for you... It is empty, nein, full, we are schon nine, it is viel zu viel, deshalb I propose to you to sleep over there, da hinten auf der anderen Seite.«

Die Holländer verstehen kein Wort und schlagen ihr Lager unmittelbar neben der Gruppe auf.

In der Nacht schlafen alle auf den Tischplatten oder auf dem Boden.

Es ist kalt, die Holländer schnarchen laut.

Nacheinander setzen sich unsere Pilger in ihren Schlafsäcken auf und versuchen mit allen Mitteln, die Schnarcher zum Verstummen zu bringen — laute Schreie, Rufe, sanftes Rütteln, kräftiges Schütteln. Doch die eine Methode ist so erfolglos wie die andere, es wird beharrlich weitergeschnarcht. Alle beklagen sich über die stinkenden Tischplatten, die den Geruch ranziger Wurst und alten Käses verströmen — sicherlich sind es die Platten, auf denen bei Schulfesten das Büfett aufgebaut wird.

Camille steht auf und hüpft auf der Stelle, um sich aufzuwärmen, bald gefolgt von Ramzi, der schlotternd einen Rap zum Besten gibt, und von Said, der ihn händeklatschend begleitet. Auch Mathilde, Claude, Clara und Elsa fangen an zu tanzen. Guy stimmt ein Liedchen an, die Gruppe fällt im Chor ein, es herrscht eine tolle Stimmung. Die Kälte wird gebannt, das Ganze entwickelt sich zu einem fröhlichen Fest.

Clara singt aus vollem Hals. Elsa fordert Pierre zum Tanzen auf. Erst weigert sich Pierre, doch dann lässt er sich mitziehen und krümmt und windet sich bald wie alle anderen: Es ist saukalt!

Erst als der Lärm der improvisierten Fete seinen Höhepunkt auf der Dezibelskala erreicht, wachen die Holländer auf und sind wie vom Donner gerührt beim Anblick dieser Meute singender, tanzender Irrwische.

Claude geht zu ihnen hin, fragt, ob sie nicht mitmachen wollen und ob sie nicht ein wenig Alkohol haben. Positive Antworten auf beide Fragen. Die Holländer ziehen zwei Flaschen Schnaps heraus, die in Jacken eingewickelt waren und die Claude nun triumphierend zu den Tänzern trägt. Die Holländer feiern mit, wobei sie einen Schlager grölen, der in ihrem Land wohl sehr populär ist: »Hey la bom-bak, hey la bombak es kapote« (phonetische Umschrift) — ein Ohrwurm, der seine Wirkung nicht verfehlt.

In den Morgenstunden schlafen schließlich alle ein.

Die Holländer schnarchen wieder.

Camille und Said schlafen mit dem Gesicht zueinander, jeweils einen Arm zum anderen hingestreckt, sie halten Händchen und bilden eine Brücke, die ihre jeweiligen Tischplatten verbindet.

Claude und Mathilde schlafen mit angezogenen Beinen auf der Seite, ihre Kleider sind ganz weiß vom Kreidestaub.

Mathilde wacht als Erste auf, das Kopftuch ist ihr heruntergerutscht, ihr schönes Gesicht ist nackt, ihr Schädel kahl. Panisch sucht sie in dem unordentlichen Notlager nach dem Kopftuch, findet es und bedeckt rasch wieder den Kopf.

Guy, der bereits wach liegt, beobachtet sie.

Mathilde vergewissert sich mit einem Blick in die Runde, dass auch ja keiner sie gesehen hat. Guy schließt schnell die Augen und tut so, als schlafe er.