DIE GRUPPE WANDERT einen steilen Pfad hinauf, einen dieser langen Trampelpfade der Herdenwanderungen, die diesen Planeten wie ein Messer geradewegs von Norden nach Süden durchschneiden, ohne auf die Beschaffenheit der Erdoberfläche Rücksicht zu nehmen. Diese Wege führen schnurgerade, ohne Windungen, in die Berge und setzen sich einfach über Hindernisse hinweg wie früher die wilden, hungrigen Tierherden, die diese Pfade geschaffen haben, lange bevor es Menschen und Haustiere gab. Treibt man Schafe im Frühjahr über einen solchen Pfad, werden sie wieder zu Wildtieren, sie geraten völlig außer Kontrolle. In heller Aufregung rempeln sie sich gegenseitig an, um auf den Berg zu gelangen, um schneller und höher hinaufzukommen, getrieben allein vom Geruch dieses Pfads, der ihnen die Richtung weist, als würden sie die Spuren der unzähligen Tiere wittern, die ihnen vorausgegangen sind, und getrieben vom Duft des saftigen Grases, das sie oben erwartet. Im Herbst überkommt die Tiere die gleiche Raserei, dann steigen sie wieder in die Täler ab. Und wenn man sie nicht aufhält, sind sie in zwei Tagen in Montpellier, sagen die Schäfer.
Am Rand des Pfads stehen in regelmäßigen Abständen jahrhundertealte, hohe Wegmarken aus Granit, die den Wanderer leiten, wenn Schnee liegt.
Pierre hängt mal wieder am Telefon.
»Hallo, Robert? Für die Bilanz des Geschäftsjahrs müssen Sie... Ja, sie ist aus dem Koma erwacht, Sie können sie abholen... Das Netz ist hier so schlecht, Robert... Was reden Sie denn noch? Ich sage doch, dass ich Sie kaum verstehe... Ich höre Sie nur ganz schlecht... Ja, wir müssen die Bilanz machen...«
Auf der Suche nach einer besseren Verbindung verlässt Pierre den Weg — eine lächerliche kleine Gestalt, die mitten in der Weite einer Hochebene Bilanz zieht.
Claude trägt einen Stock über der Schulter, an dem seine Unterhose zum Trocknen hängt. Er geht neben Mathilde, die heute ein lilafarbenes Kopftuch trägt. Sie hat ein bisschen Farbe bekommen und ist schon besser bei Kräften, ihr rosiger Teint strahlt, sie marschiert ohne Mühe.
Die beiden unterhalten sich angeregt, sie erleben gerade den schönsten Moment einer Liebesgeschichte — wenn man noch gar nicht weiß, dass man verliebt ist, wenn man sich noch etwas zu erzählen hat und dem anderen noch zuhört.
Claude ist aus seiner Ichbezogenheit ausgebrochen, er fragt: »Haben Sie Kinder?«
»Einen Jungen und ein Mädchen, sechzehn und siebzehn.«
»Ein schwieriges Alter.«
»Ja... Und Sie, kommen Sie gut mit Ihrer Tochter zurecht?«
Claude hat das Treffen mit seiner Tochter vergessen, die seinen doppelten Whisky bezahlen und sich das Geld dafür vom Mund absparen musste.
»O ja, wir verstehen uns prächtig. Wir lieben uns innig.«
Von den drei anderen Kindern, die er mit in die Welt gesetzt hat und die er überhaupt nicht sieht, erzählt er wohlweislich nichts.
»Lebt Ihre Tochter bei Ihnen?«
»Nein, ihre Mutter und ich haben uns getrennt. Das ist lange her. Und Sie?«
»Ich bin auch getrennt. Bei mir ist es noch nicht so lange her.«
»Ach ja?«
Sie wandern und speichern im Unterbewusstsein die wichtigen Informationen über die jeweiligen Trennungen, das heißt, dass sowohl der eine wie auch der andere ungebunden ist.
Claude wird ganz poetisch.
»Schön, diese Wegmarken... Lustig...«
»Ja, es ist schön, uns geht es gut.«
»O ja, es geht uns wirklich gut.«
»Das ist selten, aber hier...«
»Ja, hier geht es einem gut.«
Verliebte geben immer mit der größten Selbstverständlichkeit die unglaublichsten Plattitüden von sich, die ihren ganz eigenen Zauber ausüben. Jedes Wort, das aus dem Mund des geliebten Menschen kommt, ist wie eine kostbare Perle. Nach einigen Jahren, Monaten oder schon nach ein paar Wochen (in unserer Zeit werden die Intervalle immer kürzer) werden aus den Perlen stinkende Kröten. Na und? Was vorbei ist, ist vorbei.
Ramzi ist sehr neugierig auf Elsas Lebensstil, denn er wittert, dass sie reich ist. Und ein reiches Mädchen sieht er zum ersten Mal aus nächster Nähe. Er will Genaueres wissen:
»Ja, aber in Paris zu leben, ist nichts für mich.«
»Weißt du, auch in Paris gibt es arme Leute...«
»Ja, aber nich so viele wie im neun-drei Département. Bist du reich?«
»Hm, ja, ich glaube schon.«
»Hast du, äh... zum Beispiel ein Haus auf dem Land?«
»Ja, habe ich.«
»Und viele Autos?«
»Drei, glaube ich.«
»Drei Autos!«
»Und einen Jeep fürs Gebirge.«
»Was für’n Gebirge?«
»Na, wenn wir Skifahren gehen.«
»Fährst du oft Ski?«
»Im Winter, ja.«
»Macht das Spaß?«
»Ja... Aber es war mir auch langweilig.«
»Wieso?«
»Weil ich als Kind immer den Schlüssel um den Hals hängen hatte.«
»Was für ’nen Schlüssel?«
»Na, den Hausschlüssel. Bei uns war nie jemand zu Hause, meine Mutter war die ganze Zeit mit ihren Freunden unterwegs, und ich war mit dem Kindermädchen allein.«
»Du hast ’n Kindermädchen gehabt?«
»Kein richtiges Kindermädchen — eben unsere Haushälterin.«
»Hast du die gemocht?«
»Ja, sehr. Sie war für mich wie eine Mutter. Und Camilles Mutter hat sich auch sehr um mich gekümmert.«
»Sind deine Eltern nett?«
»Ja. Sie leben getrennt.«
Das tut Ramzi leid.
»Hm, getrennt... Aber trotzdem biste reich?«
»Was Geld angeht, ja.«
»Das genügt doch!«
»Ich interessiere mich nicht für Geld.«
»Weil du genug hast...«
Said wandert allein, er lässt den Kopf hängen.
Am Ende des Zugs schließt Clara mit Camille auf und fragt sie aus:
»Was arbeitet Ihre Mutter?«
»Sie ist Rektorin an einem Gymnasium im dreiundneunzigsten Département, in Seine-Saint-Denis.«
»Ah, dann kommen Sie also aus einem Lehrerhaushalt.«
»Ja, aber ich will keine Lehrerin werden.«
»Das hätte auch gerade noch gefehlt!«
»Wieso sagen Sie das?«
»Na, ich will Sie nicht kritisieren, aber ich habe neulich Ihren Leseunterricht verfolgt. Didaktik ist nicht Ihre Stärke.«
Camille: »Ach nein?«
»Sie haben den armen Ramzi völlig konfus gemacht. Wenn er nach Ihrer Methode in zehn Jahren seinen Namen lesen kann, fresse ich einen Besen.«
Camille: »Ich habe keine Methode, ich mache das einfach so, nach Gefühl.«
»Na ja, wissen Sie, nach Gefühl kommt man mit Dyslektikern nicht sehr weit.«
Sie holen Said ein, er humpelt.
Clara spricht ihn an.
»Geht’s, Said?«
»Nein, ich glaube, ich habe eine Blase.«
»Ja, diese blöden Blasen...«
Er setzt sich an den Wegrand und zieht den Schuh aus, Clara geht weiter, Camille bleibt bei ihm.
Said: »Freut es dich denn nicht, dass ich mitgekommen bin?«
Camille: »Was? Doch, ich freue mich.«
»Du redest nicht mit mir, ich bin dir scheißegal.«
Camille: »Aber das stimmt doch gar nicht.«
»Wäre es für dich dasselbe, wenn ich nicht dabei wäre?«
Camille: »Worauf willst du hinaus, Said? Raus mit der Sprache!«
»Wie? Was meinst du?«
Camille: »Willst du mich anmachen? Willst du ficken? Was hast du vor?«
»Nichts. Ich will nur mit dir zusammen sein.«
Camille: »Hast du mich gefragt, ob ich will, dass du mitkommst?«
»Nein.«
Camille: »Dann sage ich es dir jetzt: Ich habe mich nicht für drei Monate auf diese Wanderung gemacht, um mit Leuten von meiner Penne zusammen zu sein.«
»Bin ich für dich denn nur ein Typ von der Penne wie alle anderen?«
Camille: »Ja.«
»Aber du bist für mich nicht nur ein Mädchen wie alle anderen.«
Camille: »Moment mal! Was soll das? Willst du mir Schuldgefühle einreden? Mea culpa?«
»Mea was?«
Camille: »Ich habe keine Lust, mir irgendwelche komplizierten Beziehungskisten reinzuziehen. Kannst du das verstehen?«
»Mit mir ist es kompliziert?«
Camille: »Ja, mit dir ist es kompliziert.«
»Ich weiß nicht, was daran kompliziert sein soll. Ich stehe eben auf dich, das ist doch ganz einfach.«
Camille: »Das sieht ein Blinder! Aber ich stehe nicht auf dich, Said. Mit dir müsste ich viel zu viel klären.«
»Was müsstest du mit mir klären?«
Camille: »Na, ganz einfach, wie du mich bedrängst. Seit fünf Minuten sprichst du mit mir über irgendeinen Quatsch, der mich nicht interessiert. Aber wir fallen zurück, wir verlieren die anderen... Lass mich, Said, lass mich einfach in Frieden!«
Camille macht sich wieder auf den Weg. Said hängt sich an ihre Fersen.
»Gut, okay, ich lasse dich in Frieden... Wann habe ich dich denn nicht in Frieden gelassen? Ich habe dich lediglich gefragt, was du mit mir klären willst, das ist alles.«
Camille: »Es gibt nichts zu klären.«
»Aber gerade eben hast du doch gesagt, dass du mit mir vieles klä...«
Camille: »Was soll das? Kannst du nicht ohne mich marschieren, oder was?«
Camille beschleunigt ihren Schritt und lässt Said stehen.
Said: »Ja.«
Nach der Pause will Clara allein mit Ramzi sprechen:
»Und? Wie ist der Unterricht bei Camille?«
»Toll, ganz toll.«
»Das freut mich.«
»Mich auch.«
»Nun, Said hat mir erzählt, dass Ihre Mutter...«
»Was hat Said erzählt?«
»Dass sich Ihre Mutter sehr freuen würde, wenn Sie nach den Ferien lesen könnten.«
»Ja, das stimmt.«
»Das würde sie glücklich machen.«
»Ja, aber ich tu mich trotzdem schwer mit dem Lesen. Ich bin nämlich nich nur diskleklich, sondern auch dumm.«
»Dumm?«
»Ja, dumm.«
»Na ja, vielleicht, aber mit dem entsprechenden Unterricht kann jeder lesen lernen.«
»Auch Schwachköpfe?«
»Sind Sie ein Schwachkopf?«
»Meinen Sie Unterricht wie bei Camille?«
»Nein, das kann man so nicht sagen.«
»Weil... Camilles Unterricht is ’n bisschen chaotisch. Aber Sie sagen ihr das nich, oder?«
»Nein.«
»In Wahrheit bin ich ganz durcheinander, ich versteh nur Bahnhof.«
»Das gibt sich mit der Zeit.«
»Nein, nein, es is immer das Gleiche. Jedes Mal wenn mir jemand das Lesen beibringen will, bekomm ich ’ne Matschbirne.«
»Ach ja?«
»Kennen Sie vielleicht ’nen anderen Unterricht?«
»Ich muss mal überlegen...«
»Aber Sie dürfen Camille nichts verraten.«
»Nein, nein.«
Elsa brennt darauf zu erfahren, worüber Said und Camille geredet haben:
»Und? Hat er mit dir gesprochen?«
»Mhm.«
»Und?«
»Keine Ahnung, er sagt, er steht auf mich.«
»Und?«
»Nichts und.«
»Hast du ihm gesagt, dass du in ihn verliebt bist?«
»Natürlich nicht!«
»Und warum nicht?«
»Das binde ich ihm doch nicht auch noch auf die Nase!«
»Hm, ich weiß nicht... Du erzählst mir schon so lange von diesem Typ — wann willst du es ihm denn endlich sagen?«
»Ich werde ihm gar nichts sagen.«
»Also, hör mal! Du kannst nachts nicht schlafen, du hängst dir seine Briefchen übers Bett, jedenfalls hast du mir das erzählt...«
»Das ist doch überhaupt nicht wahr! So etwas habe ich nie gesagt. Wie käme ich dazu, mir seine Briefchen übers Bett zu hängen?«
»Hast du doch gesagt! Du hast gesagt, dass er toll aussieht, dass er anders ist als alle anderen und dass du total auf ihn abfährst.«
»Bist du übergeschnappt? Lass mich bloß damit in Ruhe, ja?«
Camille kann nur schlecht zu ihren widersprüchlichen Äußerungen stehen, und erst recht dann nicht, wenn man sie ihr unter die Nase reibt.
Währenddessen wartet Ramzi auf Said und will wissen, was es Neues gibt:
»Und? Haste mit ihr gesprochen?«
»Jaja, habe ich.«
»Und?«
»Du hast ja ein Höllentempo drauf.«
»Sie liebt dich, hat sie das gesagt?«
»Jetzt geh doch nicht so schnell!«
»Du bist ja schon so lange in sie verliebt...«
»Ja, aber weißt du, bei Mädchen darf man nichts überstürzen. Ich bin da ganz cool, ich setze sie nicht unter Druck, alles läuft prima... Wir müssen erst noch ein paar Dinge klären... Wir lassen uns Zeit, wir haben es nicht eilig.«
Ramzi ist beeindruckt.
»Du kannst wirklich gut mit Mädchen umgehen, das is toll.«
Die Pilger sind nun seit zwei Wochen unterwegs.
Nach zwei Wochen auf dem Jakobsweg kommt eine entscheidende Wende. Der Körper hat sich an die Anstrengung gewöhnt, der Geist sträubt sich noch ein wenig dagegen. In schwierigen Augenblicken würde man immer noch am liebsten kehrtmachen.
Diese Krise macht Pierre gerade durch. Ihm tut alles weh, er ist schlecht drauf, er denkt an Édith. Immer geht er allein, immer als Letzter, die Steigungen machen ihn fertig. Dann, am Fuß des x-ten Berges, der sich furchterregend vor ihm erhebt, bleibt er unvermittelt stehen. Der Schwachsinn des ganzen Unterfangens steht ihm auf einmal klar vor Augen: Was tue ich hier eigentlich? Diese Erbschaft geht mir doch am Arsch vorbei!
Die Gruppe da oben erscheint ihm zu weit entfernt, als dass er sie je wieder einholen könnte. Er verliert die Nerven, er brüllt zu ihnen hinauf:
»Mir reicht’s! Bleibt endlich stehen! He! Stehen bleiben! Hört ihr?«
Die Pilger halten inne, wenden sich um.
Guy ruft ihm zu: »Huhu, Pierre! Alles in Ordnung?«
»Nein, gar nichts ist in Ordnung. Mit reicht’s. Ich bin erschöpft, ich habe keine Medikamente, ich breche ab, ich will nach Hause. Au revoir.«
Er dreht sich um und geht.
Guy läuft hinter ihm her.
»Was soll das? So bleiben Sie doch stehen, Pierre! Wo wollen Sie denn hin?«
Pierre macht sich an den Abstieg, er schreit, ohne sich umzudrehen:
»Ich will keinen Berg mehr hinaufsteigen. Nie wieder!«
»Was?«
»Mir reicht’s, das kann ich Ihnen sagen. Ich kann nicht mehr. Das ist mir zu steil, mein Herz hält das nicht aus, ich gehe.«
Die letzten Sätze spuckt er Guy, der ihn eingeholt hat, ins Gesicht.
Die beiden Männer bleiben stehen und bieten sich gegenseitig die Stirn. Sie sprechen nicht miteinander, sie bellen sich an.
»Sie können nicht einfach so abhauen, ich trage die Verantwortung für Sie und die Gruppe.«
»Ich gehe, wann ich will! Es ist mir zu steil. Außerdem ist meine Frau krank, und ich habe keine Medikamente mehr.«
»Was hat Ihre Frau?«
»Sie ist ins Koma gefallen, weil sie trinkt, wenn ich nicht da bin und es verhindere. Und ich werde noch verrückt hier — kein Mensch redet mit mir. Ich bin total fertig, ich schaffe Ihre Berge nicht mehr, das schlägt mir aufs Herz. Sie sehen andere wohl gern leiden, was? Sie machen sich wohl einen Spaß daraus, ein derartiges Tempo vorzulegen, Sie Affe Sie!«
»Nein, es macht mir überhaupt keinen Spaß. Auch ich wäre gern zu Hause, mein Kind liegt im Krankenhaus, und meine Frau schläft mit meinem besten Freund. Auch ich werde noch verrückt mit Ihnen allen, denn jeder denkt nur an sich selbst und die eigenen Probleme und hat kein Auge für die schöne Landschaft...«
Oben am Hang sehen die sieben anderen regungslos zu, wie die beiden Männer sich beharken. Unverständliche Stimmfetzen dringen zu ihnen herauf.
Dann nehmen Guy und Pierre plötzlich ihre Rucksäcke ab, setzen sich mitten auf den steinigen Weg und diskutieren.
Ein leichter Wind kommt auf. Die Gruppe beobachtet die Männer, die unten am Hang, ganz nahe nebeneinander, mit dem Rücken zu den anderen sitzen und selbstvergessen miteinander sprechen.
Pierre setzt den Weg schließlich fort.
Clara hat mit Ramzi einen Pakt geschlossen, sie will versuchen, ihm das Lesen beizubringen, aber heimlich. Weder Camille noch Said dürfen davon erfahren. Die andere Vereinbarung legt fest, dass Ramzi sofort Zeichen gibt, wenn er etwas nicht versteht, und den Unterricht nicht über sich ergehen lässt und so tut, als sei alles in Ordnung.
Clara besteht auf der Geheimhaltungsklausel, weil sie sich ganz und gar nicht sicher ist, ob sie Erfolg hat, und wenn sie scheitert, wäre das die Schande ihres Lebens.
Das kommt auch Ramzi entgegen, er fühlt sich Camille gegenüber schuldig, weil sie so lieb war und ihm helfen wollte, aber aufgeben musste — besiegt von der Unzugänglichkeit seines Gehirns ihrer Methode gegenüber.
Für die erste Unterrichtsstunde haben sich Clara und Ramzi während der Mittagspause von den anderen entfernt. Vor einer Herberge haben sie sich an einen Steintisch gesetzt, Buchenblöcke dienen als Hocker. Als Material hat Clara lediglich ein Stück Papier und einen sehr abgenutzten Bleistift. Doch ihre Erfahrung, ihre Überzeugung und ihre fast schon leidenschaftliche Liebe zur Pädagogik dienen ihr als Werkzeug.
Ramzi hat Claras Vorschlag höflich angenommen, er widerspricht nicht gern und ist auch guten Willens, doch er weiß, dass es keinen Sinn hat. Sein Gehirn funktioniert nicht so, wie es sollte; man hat es ihm schon so oft gesagt, dass er es glaubt und sich damit abgefunden hat.
Clara stellt ihm als Erstes eine ganz unerwartete Frage.
»Bist du dumm, Ramzi?«
Seine Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen, ohne verlegenes Herumdrucksen.
»Ja.«
Clara hat natürlich mit diesem Hindernis in Form passiver Unterwerfung gerechnet, dagegen ist sie gewappnet. Dennoch macht sie dieses selbstzerstörerische Verhalten bei Problemjugendlichen jedes Mal aufs Neue krank. Sie reißt sich zusammen und setzt noch einmal an.
»Bist du dumm, Ramzi?«
»Ja.«
Noch einmal nimmt sie Ramzis höfliche Weigerung hin, die eigene Überlebensstrategie zu untergraben.
Sie beginnt wieder von vorn, stellt die Frage ein drittes Mal, nun ein bisschen empörter, ein bisschen dringlicher, fast wütend — die entscheidende Frage lautet: Antworte mir, Ramzi, willst du wirklich, dass ich dir helfe, dass ich in dich eindringe? Sag mir, dass du dich selbst nicht für ein Stück Dreck hältst, sag mir, dass du dich selbst liebst, und sei es auch nur ein klein wenig.
»Bist du dumm, Ramzi?«
Irgendein kleiner Teil der wahren Frage zwischen den Zeilen durchdringt den dicken Schutzwall, den Ramzi um sich herum aufgebaut hat, um nicht ständig leiden zu müssen.
»Nein!«
Clara spürt, wie ihr ein schwerer Stein vom Herzen fällt. Nun zweifelt sie nicht mehr am Erfolg.
»Siehst du, du bist nicht dumm. Du bist überhaupt nicht dumm. Ich glaube auf keinen Fall, dass du dumm bist. Okay? Und weil du nicht dumm bist, können wir jetzt anfangen. Kannst du dich richtig ausdrücken?«
»Was meinen Sie damit?«
»Na, nicht so wie du zu Hause sprichst, mit deiner Familie, deinen Freunden oder auf der Straße, sondern so, wie man schreibt oder wie man im Radio oder im Fernsehen spricht, so wie man spricht, wenn man sich zum Beispiel um eine Stelle bewirbt, so wie die Reichen sprechen, wenn sie sagen wollen: >Wir sind besser als die Armen.< Das musst du ein wenig lernen.«
»Kann ich nich.«
Das waidwunde Tier zieht sich wieder zurück. Zweiter Schachzug: ihn mit einer schöne Provokation aus der Reserve locken.
»Na, klar, du bist ja auch zurückgeblieben.«
Ramzi ist schockiert, er wacht auf, er rebelliert:
»Nein, ich bin nicht zurückgeblieben.«
»Bist du zurückgeblieben?«
»Nein!«
»Okay, du bist nicht zurückgeblieben, ich glaube nicht, dass du zurückgeblieben bist. Also kannst du auch lernen, dich gut auszudrücken, um denjenigen auf den Wecker zu fallen, die sagen: Wir sind besser als die Armen.«
»Wenn man sich gut ausdrückt, sagt man aber nicht >auf den Wecker fallen<.«
Aha, sagt sich Clara, er hat angebissen, er misst sich mit mir, berichtigt mich, also hört er zu, er baut eine Beziehung auf, er gibt mir zu verstehen, dass er nicht alles durchgehen lässt, was ich sage, dass wir zu zweit sind und dass er wissen will, ob ich ihn auch als ebenbürtig betrachte.
»Du hast recht. Entschuldigung. Ich werde im Unterricht nie mehr >auf den Wecker fallen< sagen.«
»Man muss sagen: >Ich lerne, mich gut auszudrücken, um denjenigen auf die Eier zu gehen, die sagen: Wir sind besser als die Armen.<«
»Ja, aber >auf die Eier gehen< ist als Redensart noch salopper als >auf den Wecker fallen<. Wir müssen ein Wort finden, das >auf den Wecker fallen< meint, das aber nicht zu umgangssprachlich ist.«
»Hm... >Um denjenigen eine reinzuwürgen<, nein, das ist salopp... Äh, auf die Palme bringen... Nein, das geht auch nicht...«
»Auf die Palme bringen, ja, das ist sehr gut, aber es ist eine Redewendung.«
»Hm.«
»Um ihnen zu widersprechen, gegen sie anzukämpfen, sie Lügen zu strafen, eines Besseren zu belehren, zu ärgern, zu irritieren, zu reizen, zu provozieren, aufzubringen, aufzuregen, ihnen auf die Nerven zu gehen... Es gibt viele Wendungen. Welcher gibst du den Vorzug?«
Ramzi merkt, wie sie sich an den Wörtern freut. Auch er mag Wörter, manchmal schreibt er sie sich in Versen in den Kopf: Worte, die er aus allen Wörtern, die er kennt, ausgewählt hat, besondere Worte, nicht irgendwelche.
Wenn man ein Wort auswählt, ist man der Sprache nicht mehr ausgeliefert, sondern man handelt.
»Ich gebe >eines Besseren belehren< den Verzug.«
»Man sagt nicht >Verzug<, Ramzi.«
»Ich weiß, war nur Spaß.«
Sieh mal einer an!, denkt Clara. Das war der Witz des Tages — er sagt mir, dass er mit Worten spielen kann, dass er Worte liebt!
»Gut, du gibst also >eines Besseren belehren< den Vorzog. Und welchen Satz kann man damit bilden?«
»Man kann sagen: >Ich lerne, mich gut auszudrücken, um diejenigen eines Besseren zu belehren, die sagen: Wir sind besser als die Armen.<«
»Toll!«