EIN PAAR TAGE SPÄTER wandern die Pilger einen Weg entlang, der von Trockensteinmauern gesäumt ist; kurzes gelbliches Gras, so weit das Auge reicht. Kein Fels, kein Baum.
Ein jeder hängt seinen Gedanken nach, ein jeder arbeitet an seinem Leben, ohne sich dessen bewusst zu sein.
Pierre versucht vergeblich zu telefonieren, noch immer hat er kein Netz, seine Hoffung auf ein mobiles Büro in halbwegs vernünftigen Hotels schwindet von Tag zu Tag mehr.
Seit dem Streit beim Picknick sind Camille und Said sauer aufeinander. Nun wandern sie auf gleicher Höhe, ohne miteinander zu sprechen. Ramzi trottet traurig neben ihnen her.
»Das is ja ne gottverlassene Gegend. Wir gehn durch ’ne gottverlassene Gegend, was, Said?«
»Mhm.«
»Haste die vielen Kühe mit den kohlschwarzen Augen gesehn?«
»Mhm.«
»Seit einer Stunde müsste ich mich mal dringend um’s Eck bringen, aber hier is kein Winkel, wohin man mal kurz verschwinden kann.«
»Was müsstest du dich?«
Ramzi zeigt ihm mit einer Handbewegung, dass er pinkeln muss.
»Um’s Eck bringen. Geht voraus — und dreht euch nich um.«
Camille: »Ich geh mal um’s Eck.«
Ramzi: »Du auch?«
Camille: »Nein! Es heißt... also man sagt: Ich geh mal um’s Eck.«
Ramzi bleibt zurück, Said und Camille gehen zu zweit weiter.
Camille: »Ramzi und seine Sprache, das ist wirklich schlimm.«
»Nach allem, was ich für dich getan habe«, murmelt Said vor sich hin.
»Was sagst du?«
»Nichts.«
»Doch, du hast gerade etwas gesagt.«
»Nein.«
»Was hast du für mich getan?«
»Du hast mich als Krauskopf beschimpft.«
»Das habe ich nicht!«
»Du hast gesagt: >Hast du davon krause Haare?< Das tut man nicht.«
»Und du hast gesagt, dass mein Onkel die Reise bezahlt hat. Das tut man auch nicht.«
»Ich habe das nur so dahingesagt...«
»Es ist mir egal, ob du krauses Haar hast.«
»Ich habe deinetwegen Geld von Ramzis Mutter angenommen... Als du Sportstunde hattest, habe ich dein Handy geklaut und Elsas Telefonnummer gesucht, weil ich wusste, dass sie deine Freundin ist, ich habe sie gefragt, wohin du diesen Sommer in die Ferien fährst, ich habe Noubia erzählt, dass ich mit Ramzi nach Mekka gehe, damit er lesen lernt, und dann habe ich ihr Geld genommen, doch statt nach Mekka zu pilgern, habe ich davon die Reise bei Chemin Faisant gebucht, damit ich zwei Monate mit dir zusammen sein kann. Das habe ich alles für dich getan.«
»Dass du Geld von Ramzis Mutter angenommen hast, ist gemein, nachdem es vielleicht ihre gesamten Ersparnisse waren...«
»Ich wollte mit dir zusammen sein.«
»Und was willst du Noubia erzählen, wenn ihr zurückkommt?«
»Sie wird mir den Kopf abreißen, ich darf gar nicht daran denken. Lieber gehe ich in den Dschungel, das verspreche ich dir... Und lesen lernt er auch nicht.«
»Dir geht’s echt dreckig.«
»Ich habe Clara gefragt, diese Lehrerin, ob sie ihm vielleicht das Lesen beibringt, aber sie will nicht, sie sagt, für Eklektiker muss man prädestiniert sein.«
»Dyslektiker.«
»Ja, Dyslektiker. Und alles nur, um zwei Monate mit dir zusammen zu sein, aber dir ist das ja egal...«
Etappenziel. Alle jammern über ihre Füße und die vielen Kilometer, die sie zurücklegen mussten.
Pierre klagt lauter als die anderen.
»Hoffentlich gibt es in der Herberge Netzanschluss, ich muss nämlich dringend telefonieren. Ich kann doch nicht tagelang durch die Gegend laufen und mich um gar nichts kümmern, oder?«
»Keine Sorge, bei der Herberge gibt es eine Telefonzelle.«
Allgemeine Erleichterung.
Am Hang eines Hügels in der Ferne entdecken sie einen kleinen Punkt, eine winzige Herberge, die mit den Felsen der Umgebung verschmilzt. Von Weitem sieht sie aus wie eine verlassene Almhütte und ganz bestimmt nicht wie ein richtiges Haus, nicht einmal eine Straße führt hinauf, und anders als zu Fuß kann man sie nicht erreichen.
Pierre: »Ist das die Herberge?«
Guy: »Ja.«
Clara: »Passen wir denn da alle rein in diesen Schuppen?«
Guy: »Aber ja.«
Said: »Gibt es auch etwas zu essen?«
Guy: »Ja, das Essen ist sehr gut. Denise, die Wirtin, serviert es um sechs Uhr.«
Elsa: »Wie kann sie denn Essen für neun Leute dort hinaufbringen?«
Guy: »Wir sind sicherlich mehr als neun, die Herberge hat achtzehn Plätze. Denise kommt mit dem Jeep.«
Elsa: »Achtzehn Plätze in dieser Hütte?«
Claude: »Meinen Sie, es gibt dort auch Bier? Ein kühles kleines Helles vielleicht?«
Pierre: »Und wo ist die Telefonzelle?«
Guy: »Unter dem Baum.«
Alle kneifen die Augen zusammen, um die sehnlichst herbeigewünschte Telefonzelle zu erspähen. Doch unter dem Baum sieht man nur Steine und Gras.
Camille: »Unter dem Baum gibt es keine Telefonzelle.«
Guy: »Nein, aber dort gibt es ein Netz.«
Kaum angekommen, eilen die Pilger mit ihren Handys unter den Netzbaum, alle reden gleichzeitig und halten sich mit der freien Hand das freie Ohr zu.
Ausgestreckt auf einem Felsen genießt Mathilde mit geschlossenen Augen die letzten Sonnenstrahlen.
Von einem überhängenden steinernen Sims aus betrachtet Claude sie melancholisch, während er sein Bierchen schlürft.
Ramzi liegt mit weit ausgestreckten Armen im Gras und lässt sich vom Klang der Kuhglocken wiegen.
Pierre: »Sie haben nicht mal auf meine Mailbox gesprochen, Robert. So geht das nicht, ich warne Sie! Sie werden mir jetzt endlich ein mobiles Büro organisieren, oder ich werde Sie... Wie?«
Elsa: »Ja, alles in Ordnung, wir sind in sehr guten Hotels untergebracht... Nein, schick mir bitte nichts, ich habe alles, was ich brauche... Nein, nicht postlagernd, wir kommen an keinen Postämtern vorbei... Nein, Maman, wenn ich es dir doch sage, ich brauche nichts, ich musste schon die Hälfte wegwerfen, weil mein Rucksack zu schwer war... Aber Maman, ich habe die ganzen Sachen gar nicht gebraucht... Solche Dinge brauche ich jetzt nicht...«
Pierre: »Ich habe diese Nachricht aber nicht bekommen, ich bin auf dem Handy nicht erreichbar, hier gibt es kein Netz, es gibt nie und nirgendwo ein Netz, wo ich bin... Und die Haushälterin hat Sie benachrichtigt? ... Hat man sie in die Klinik gebracht?«
Guy: »Warum hat man sie denn im Krankenhaus behalten? ... Bei Asthma hat man eigentlich kein Fieber... Und wo sind Coralie und Pierrot? ... Aber warum hast du sie denn bei Freds Mutter gelassen? ... Und wo ist Fred? ...Warum wohnt er bei uns? Warum ist er nicht wieder nach Hause gegangen?«
Clara: »Lucie, am Freitag lässt du deinen Bruder eine DVD ansehen, ja? ... Nein, es ist nicht dein Computer, der Computer gehört uns allen... Gut, gib mir deinen Vater... Mingo, ich will nicht, dass Lucie die ganze Zeit den Computer in Beschlag nimmt... Ja, mir geht es gut... Ja, ja, wir haben ständig Zoff, die beiden sind unmöglich... Die Etappen sind lang, mir tun die Füße weh... Hör zu, der Computer muss unbedingt... Was? Die Landschaft?... Du weißt, dass mich die Landschaft nicht interessiert, ich sehe nicht mal hin... Der Computer gehört der ganzen Familie!«
Said steht neben Camille, beunruhigt lauscht er ihrem Gespräch.
Camille: »...485230... Ja, Maman, das ist die Nummer von Ramzis Mutter... Saids Handykarte ist leer, deshalb rufe ich für ihn an. Maman, kannst du sie anrufen und ihr sagen, dass es Ramzi und Said gut geht? Aber sag ihr bitte nicht, dass ich angerufen habe... Sag ihr nur, dass du ihr das von jemandem ausrichten sollst, der dich angerufen hat, sonst nichts...«
Pierre: »Sie fahren umgehend nach Paris zurück, Robert... Das mobile Büro ist mir egal, Sie fahren jetzt auf schnellstem Weg zu ihr... Ja, sofort... Ja, und hinterlassen Sie mir eine Nachricht auf meiner Box... Sie fahren jetzt auf der Stelle los, Robert, beeilen Sie sich!«
Guy: »Also, ich muss mich um das Essen für die Gruppe kümmern, ich lege jetzt auf... Ja... Ich wünsche euch beiden auch eine gute Nacht...«
Ziemlich niederschlagen schalten Pierre und Guy ihre Handys aus.
Denise kommt mit Körben voller Essen, begleitet von ihrem Sohn, der sich in den Garten setzt und die Pilger auffordert, ihm ihre Ausweise zu bringen, damit er sie abstempeln kann. Die Pilger waschen ihre Wäsche und hängen sie auf, sie ruhen sich aus und reden über ihre Füße.
Das Thema »Füße« ist ein Muss unter Pilgern. Mit Wanderern kann man sich stundenlang über Fußprobleme unterhalten, jeder erteilt seine speziellen Ratschläge zur Fußpflege und lässt sich seinerseits absolut sichere Tricks aufschwatzen, Salben und Cremes werden ausgetauscht. Man untersucht Größe und Beschaffenheit der Blasen: Sind sie klein und gewölbt oder groß und flach, sind sie bereits geplatzt oder noch gefüllt, muss man sie aufstechen oder nicht, die abgestorbene Haut abreißen oder dranlassen, soll man Fettcreme auftragen oder gar nichts, soll man die Blasen austrocknen lassen, mit einer Nadel aufstechen oder mit der Schere aufschneiden? Die jeweiligen Experten melden sich im Brustton der Überzeugung zu Wort, denn jeder meint, er habe die unfehlbare Lösung des Problems gefunden, Tatsache ist jedoch, dass Wasserblasen auf dem Jakobsweg grundsätzlich und immer eine Plage sind.
Ein Stück entfernt sitzen Camille und Ramzi an einem der Holztische auf der Wiese. Diese Tische hat Denises Mann Pierre gezimmert. Die Bänke sind mit den Tischen verbunden — Meisterstücke ländlichen Schreinerhandwerks, solide und praktisch, robust und schön in ihrer Schlichtheit.
Camille, die sich mit Said versöhnt hat und gerührt ist angesichts seiner Verzweiflung über den Analphabetismus seines Vetters, hat sich dazu entschlossen, Ramzi Unterricht im Lesen zu geben.
Auf einen kleinen Zettel malt sie Buchstaben, Ramzi hört ihr konzentriert zu.
»Das ist ein A, okay? A. Zwei Schrägstriche, ein Querstrich. Wie eine aufgestellte Leiter. A. Ja?«
Ramzi: »A.«
»Und das ist ein B, okay? Ein senkrechter Strich, zwei Bäuche. B. Ja?«
Ramzi: »Ja. B.«
»Wenn ich das B vor das A stelle, ergibt das BA. Ja?«
Ramzi: »Ja. BA.«
»Gut. Was heißt das hier also?«
Ramzi: »BA.«
»Prima, jetzt kannst du lesen. Wenn du das begriffen hast, kannst du lesen. Das war’s.«
Ramzi: »Ich kann aber doch noch nich alles lesen.«
In diesem Moment tritt Clara aus der Herberge und trägt ihre nasse Wäsche zum Ständer neben Camilles und Ramzis Tisch. Sie hört Camilles letzten Satz. Pädagogik ist Claras Leben, und sie interessiert sich brennend für diese Unterrichtsstunde, sie kann nicht anders. Also trödelt sie beim Aufhängen und hört zu, lässt sich aber nichts anmerken.
»Doch, du kannst alles lesen, denn das ist die Grundlage. Verstehst du? Es geht immer in derselben Weise weiter. Danach kommt das C, eine Mondsichel. Ja? C wie Tse.«
Ramzi: »Tse.«
»Wenn ich das C vor das A stelle, was gibt das dann?«
Ramzi: »C vor A?«
»C oder Tse, der Buchstabe wird C geschrieben, aber Tse ausgesprochen, das heißt, nur vor bestimmten Vokalen, denn vor anderen Buchstaben wird es KA gesprochen wie in Camille; vor einem H wird es auch zu KA wie in Chamäleon oder Sch wie in Champignon, Tsch wie in Champion, es gibt auch das dunkle Cho wie in Cho-lesterin und das helle Chi wie in Chi-na. Verstehst du?«
Clara verdreht die Augen: Diese ganze Erklärerei kann man sich in die Haare schmieren. Wenn die Kleine so weitermacht, erreicht sie nichts. Clara, die Ramzi für kein Geld der Welt das Lesen beibringen wollte, triumphiert tief in ihrem Innern, weil Camilles Methode zum Scheitern verurteilt ist. Die große Profi-Lehrerin hat in dem Fräulein die kleine Dilettantin gewittert und amüsiert sich köstlich.
Ramzi, dankbar und fügsam, tut so, als hätte er verstanden: »Ja. Chi-na.«
»Und was ergibt nun ein C vor einem A?«
Ramzi: »Äh... ’ne Mondsichel vor ’ner aufgestellten Leiter...«
»Das gibt CA. Klar?«
Ramzi: »Klar. CA.«
»Wenn ich nun das BA vor das CA stelle — was ergibt das?«
Ramzi: »Hm... Wie war das noch mal?«
»Das Erste war BA.«
Ramzi: »Und das andere?«
»CA.«
Ramzi: »Ah ja, CA, das haste mir ja gerade gesagt. Was bin ich doch für’n Esel! Also... das ergibt... CABA. Ha, das is ja wie die CABA von Mekka...«
»Nein, das gibt nicht CABA, sondern BACA, das BA ist doch vor dem CA. Verstehst du?«
Ramzi: »Ja, gut. BACA Und was heißt BACA?«
»Ach, BACA heißt gar nichts, damit wollte ich dir doch nur zeigen, wie die Wörter aufgebaut sind. Verstehst du?«
Clara verdreht die Augen noch heftiger: Also so was! Das erste Wort, das er lernt, gibt es gar nicht! Und der Junge baut ihr sogar noch eine Brücke, indem er selbst ein eigenes Wort findet, das er kennt: Kaaba. Aber nein, da klingeln dem Fräulein Lehrerin, dieser kleinen Schickse, keineswegs die Ohren. »Schickse« ist eine von Claras Lieblingsvokabeln, sie gebraucht sie oft, um ihre Verachtung für inkompetente Angeberinnen auszudrücken. Sie muss sich nun wirklich sehr zusammennehmen, um nicht einzugreifen, und geht lieber weg.
Ramzi ist völlig von der Rolle.
»Das is echt cool...«
In der Herberge hat Denise zwei lange Tische gedeckt und im Kamin ein loderndes Feuer angezündet. Einige Pilger meckern, weil die Ersten beim Duschen schon das warme Wasser verbraucht haben. Denise informiert ihre Gäste, dass sie ihre Handys hier nicht aufladen können, weil es keinen Strom gibt, lediglich eine kleine Solaranlage für die drei Glühbirnen im Waschraum und um ein bisschen warmes Wasser zu bereiten.
Alle fallen über Denises berühmten Rindfleischeintopf her, über den Knoblauchsalat, die hausgemachte Pastete mit den duftenden Gewürzen, den Käse, der nach Sommerblumen in den Bergen schmeckt, und den sagenhaften Waldfrüchtekuchen mit dem knusprigen Teig und den vollmundigen Himbeeren — Köstlichkeiten, nach denen man sich nach einer langen Wanderung sehnt. Gute Herbergsväter und -mütter wissen, wie wichtig das Abendessen ist, das Pilgermenü. Denn mittags fallen die Rationen aus Angst vor Körper- und Gepäckgewicht eher gering aus, also stärkt man sich am Abend.
Beim Abendessen trifft man auf dem Jakobsweg immer Weggefährten, die zurückgefallen sind oder andere überholt haben. Dann sendet »Radio Jakobsweg« in vollem Umfang. Die Mundpropaganda hinsichtlich der nächsten Herbergen, der Dauer und Schwierigkeit der kommenden Etappen und der Leute, die man getroffen hat, läuft auf Hochtouren. Wer das Bedürfnis hat, erzählt von sich, andere hören zu. Alle, die sich für nichts — jedenfalls für kein käufliches Gut dieser Welt, es sei denn, um ihr Leben aufzudröseln und es mit Kopf und Beinen neu zu überdenken — auf diese irrwitzige Wanderung über fast eintausendsechshundert Kilometer gemacht haben, fühlen sich solidarisch.
Pierre, der das Glück immer noch nicht genießen kann, selbst wenn es ihm auf den Kopf fällt, kriegt von der fröhlichen Atmosphäre beim Essen nichts mit. Mit unbeschreiblicher Panik sucht er in seinem Rucksack herum und redet mit sich selbst:
»Wo sind denn diese blöden Medikamente...? Das kann doch nicht wahr sein... Sie waren doch vorher noch da... Guy!«
»Ja?«
»Meine Medikamente sind weg.«
»Ach?«
»Das ist eine Katastrophe.«
Schweigen am Tisch.
»Wo können sie denn sein?«, fragt Guy.
»Ich habe sie vergessen.«
»Wie das?«
»Unterwegs.«
»Ja, aber wie kommt es, dass Sie sie vergessen haben?«
»Ich habe einen Großteil meiner Sachen weggeworfen, offenbar habe ich sie dabei aus Versehen mit weggeworfen.«
Claude biegt sich vor Lachen. »Was? Du hast deine Sachen weggeworfen? Waren wohl zu schwer!«
»Schnauze!«
Mathilde: »Und ist das schlimm?«
Pierre: »Wenn ich auch nur einmal am Tag vergesse, meine Tabletten zu nehmen, bin ich am Ende. Ohne Medikamente muss ich sterben.«
Guy: »Haben Sie Ihre Sachen vor oder nach dem Mittagessen weggeworfen?«
»Davor.«
»Dann haben Sie heute Mittag auch keine Medikamente genommen?«
»Nein, heute Mittag habe ich nichts eingenommen, ich habe es vergessen.«
»Und was wollen Sie jetzt tun?«
»Ich muss zurück und sie holen...«
»Das geht nicht.«
»Warum?«
»Weil es in einer Stunde dunkel wird. Unser Rastplatz liegt vier Stunden von hier entfernt. Bis Sie dort sind, Ihre Sachen suchen und zurückkommen, ist es Morgen.«
Pierre ist am Boden zerstört: »Aha. Ich sehe, dass meine Probleme hier niemanden interessieren. Ich gehe schlafen.«
In drückendem Schweigen packt er seinen Rucksack und steigt hinauf in den Schlafsaal.
Clara: »Er sieht aber ganz fit aus für einen Mann, der vergessen hat, seine Pillen einzunehmen.«
Camille: »Was nimmt er denn für Tabletten?«
Clara: »Irgendwas, das ihm das Leben erleichtert.«
Die Schlafsäle sind auf zwei Stockwerke verteilt. Oben unter dem Spitzdach steht ein Dutzend Holzbetten. Durch zwei Oberlichter scheint hell der Mond, die Schlafenden sind in ihre Träume versunken.
Guy träumt, er läuft mit einer Lampe in der Hand durch eine menschenleere Landschaft. Sein Pilgertrupp folgt ihm. Sie kommen zu einem Haus, zu einer Bruchbude, Guy öffnet vorsichtig die Tür. Dahinter steht mitten auf einer Wiese, mitten im Wind, ein Bett, bezogen mit weißen Laken, auf denen nackt ein Mann und eine Frau liegen. Sie sehen sich an und reden liebevoll miteinander.
Clara träumt, sie trägt ein Joch wie ein Ochse und ist vor einen Karren gespannt, den sie über schwere, feuchte Erde zieht. Auf dem Karren spielen lachend Kinder. Der Himmel ist niedrig und schwarz.
Claude träumt, er sitzt auf einer Wiese an einem Tisch. Neben ihm steht ein älterer Herr, der aussieht wie sein Vater und ihn traurig ansieht. Auf dem Tisch stapeln sich Medikamentenpackungen, Pillen und Spritzen. Gewissenhaft schluckt Claude eine Handvoll Tabletten nach der anderen. Er lächelt dem alten Mann zu, der sein Lächeln aber nicht erwidert.
Pierre fährt aus dem Schlaf auf. Er hat Herzrasen. Er tastet im Rucksack nach seinem Handy, schleicht sich an den Betten vorbei hinaus und steigt geräuschlos die Treppe hinunter.
Er verlässt die Herberge und macht sich auf den Weg zum Netzbaum.
Kaum hat er den Vorhof verlassen, ist er von einer Rinderherde umzingelt, etwa sechzig Tiere haben sich vor der Herberge versammelt. Nachts halten sie sich gern in der Nähe von Behausungen auf.
Erst hat Pierre Angst, dann aber spricht er leise zu den Tieren, sie machen Platz und lassen ihn zum Baum durch.
Zweimal hintereinander tritt er in frische, warme Kuhfladen. Fluchend rennt er zum Baum, gibt eine Nummer ein und schüttelt die Füße ab.
Im Krankenhauszimmer geht Édith ans Telefon und führt den Hörer langsam ans Ohr.
»Ach, du bist’s... Nein, ich bin nicht mehr im Koma, ich darf morgen nach Hause, Robert holt mich ab... Ja, ich grüße die Krankenschwestern, die du kennst... Nein, du musst nicht extra kommen, es geht mir ausgezeichnet... Ja, ich trinke nicht mehr, ich verspreche es dir.«
Pierre spricht mit jener vorsichtigen Freundlichkeit, mit der er auch auf die Kühe eingeredet hat.
»Geh nicht, bitte bleib!«
Édith schweigt am anderen Ende der Leitung.
»Bleib!«
»Aber ich will nach Hause.«
»Ich habe nur dich.«
»Das ist lange her.«
Pierre hält die Luft an.
»Es ist viel zu lange her.«
»Soll ich dich morgen wieder anrufen?«
Édith legt auf, ihr Blick irrt zu der Straßenlaterne hinüber, die die menschenleere Straße in Neuilly beleuchtet.
Pierre kehrt zur Herberge zurück. Ein Dutzend Kühe sind durch das Tor, das er offen gelassen hat, in den Hof gekommen. Der Rest der Herde hält sich ganz in der Nähe auf.
Pierre setzt sich auf eine Bank und versucht, seine Füße zu säubern, die Kühe glotzen ihn wiederkäuend an. Ein kapitaler Stier, ein Muskelpaket mit Hörnern, stellt sich vor ihn hin. Pierre erstarrt. Doch in der stillen Nacht vergeht seine Angst und die des Stiers auch. Freundlich beäugen sie sich. Pierre lauscht der Musik ihres Atems, des lang gezogenen oder kurzen Muhens, Schnaubens, Kauens, Furzens, der platschenden Fladen und der tosenden Wasserfälle, die unter den Schwänzen der Tiere hervorschießen und den Enzian wässern.
Er weiß nicht mehr, wer er ist; in diesem Moment, im Mondschein und inmitten einer Rinderherde weiß er nur, dass er glücklich ist und dass er Édith liebt.