NACH EINER UNRUHIGEN NACHT in einem billigen Hotel und dem mühsamen Aufstieg über die zweihundertsiebenundneunzig Stufen zur Kathedrale sind unsere Pilgernovizen um sieben Uhr morgens vor der Schwarzen Madonna wieder vereint.

Begeistert weist Guy sie darauf hin: »Das ist also die Madonna der Kathedrale von Puy mit dem Haupt Christi, das aus ihrem Leib kommt... Es ist eine schwarze Madonna.«

Pierre ist immer noch empört über das frugale Frühstück in dem »Scheißhotel«, wo er mehr wach gelegen als geschlafen hat, empört über diese viel zu frühe Messe und den Treppenaufstieg, bei dem ihm fast die Lungen geplatzt wären.

»Schon gut«, knurrt er zwischen den Zähnen. »Wir haben gesehen, dass sie schwarz ist, daraus muss man ja keine große Geschichte machen... Oder fängt sie jetzt auch noch an, für uns die Buschtrommeln zu schlagen?«

Clara: »Was kratzt dich das? Du bist doch nicht katholisch.«

Pierre: »Nein, ich bin nicht katholisch. Und stört das jemanden?«

Clara: »Nein, du bist nicht katholisch — deine Religion ist der Rassismus.«

Ramzi, der immer gleich voller Begeisterung ist, wenn jemand von Religion spricht, mischt sich ein: »Ich bin Muslim, das is meine Religion, vor allem die von meine Mutter.«

Pierre, säuerlich: »Dann gehen Sie doch in die Moschee, wenn Sie Muslim sind.«

Ramzi: »Da gehn wir ja hin, Said und ich, wir gehn nach Santiago-Mekka.«

Pierre zuckt mit den Schultern, er fragt sich ein wenig besorgt, ob dieser Ramzi eigentlich alle Tassen im Schrank hat.

Der Priester wendet sich an die Pilger, die sich vor der Statue des heiligen Jakobus versammelt haben. Nonnen umringen ihn mit engelhaftem Lächeln, mit dem sie die völlige Unterwerfung unter den Orden ausdrücken. Sie tragen weißgraue Kutten, ihr Haar ist mit einem christlich-islamischen Schleier bedeckt, der hier die gleiche Funktion hat wie anderswo: die Unterlegenheit der Frau für alle sichtbar zu machen.

Pierre und Claude hören dem Priester nur mit halbem Ohr zu, es ist ihnen egal, was er von sich gibt.

Guy wartet, bis es vorbei ist, er sitzt ein Stück entfernt, der Schwarzen Madonna gegenüber, und betrachtet sie liebevoll.

In unseren Kirchen gibt es zahlreiche Schwarze Madonnen, aus deren Leib der glorreiche Sohn sein Haupt streckt; grob behauene Holzstatuen, die möglicherweise aus Afrika, Ägypten oder Jerusalem stammen und Überbleibsel eines alten heidnischen Kults sind, in dem der Jungfrau als Fruchtbarkeitsgöttin gehuldigt wurde. Sie werden vom Volk verehrt und sind das Ziel inbrünstiger Wallfahrten.1

Der Priester: »Ich werde den Jakobspilgern nun den Segen erteilen... Doch zuerst wollen wir uns miteinander bekanntmachen. Wenn sich jetzt vielleicht ein jeder kurz vorstellen würde — woher er kommt und wohin er geht...«

Pierre verdreht die Augen — sich diesem Trottel auch noch vorstellen!

Said, Ramzi und Mathilde lauschen aufmerksam der Predigt. Einige gehorsame Pilger stellen sich vor, sie beten die Städte herunter, aus denen sie kommen und wo sie ihre Wallfahrt beenden werden. Kleine, ganz gewöhnliche Leute machen sich unbefangen auf diesen Weg. Für einige erfüllt sich ein Lebenstraum, manche brauchen dies zur inneren Genesung, andere erholen sich nach jahrelangem Arbeits- oder Familienstress, Jüngere sehen darin ein Abenteuer und eine Möglichkeit, andere Menschen kennenzulernen — jedenfalls ist es für alle eine Auszeit, verbunden mit der Hoffnung, verändert zurückzukehren.

Camille und Elsa sitzen ganz hinten in der Kirche, abseits von den anderen.

Hinter ihnen macht Clara in Selbstgesprächen ihrem Ärger über die Geistlichen Luft, noch angespornt von der Heiterkeit, die sie bei den beiden Frauen auslöst.

»Also wirklich! Jetzt seht euch doch nur mal diesen Pfaffen und seine Hausmütterchen an! Genau das ist die katholische Kirche: ein riesiger Verein von Pädophilen und unterwürfigen Frauen. Durchschnittsalter fünfundsiebzig, grob geschätzt... Präser sind verboten, auch wenn es mittlerweile weltweit bald fünfzig Millionen Aidstote gibt... Aber das juckt diesen Schwanz von Papst ja nicht. Er schwenkt sein Kruzifix, sammelt die Kohle ein, und die Banker des Vatikans zocken an der Börse...«

Elsa und Camille prusten vor Lachen.

Der Priester: »... und nun dürfen Sie Ihre Gebete in diese Urne legen, sie werden bei der nächsten Messe verlesen. Hier finden Sie Papier. Dann dürfen Sie in der Sakristei Ihre Pilgerausweise abholen.«

»Allahu akbar«, murmelt Ramzi ehrfürchtig.

Der Priester geht den Pilgern in die Sakristei voraus und erklärt, dass die Ausweise je fünf Euro kosten.

Mathilde nimmt ein Blatt Papier und schreibt ein Gebet nieder. Said tut dasselbe, er schreibt in Schönschrift. Ramzi tritt zu ihm.

»Was schreibste denn da?«

»Nichts, nur ein kleines Gebet, das später verlesen wird.«

»Kannste mir auch eins schreiben?«

»Ja, was soll ich denn schreiben?«

»Schreib: >Betet, dass meine Mutter am Ende vom Monat die Miete bezahlen kann, denn sie hat ihrem Sohn alles Geld gegeben, damit er nach Santiago-Mekka pilgern kann.< Haste das?«

»Ja. Am Monatsende die Miete...«

»Schreibste auch wirklich alles?«

»Ja, alles.«

Mathilde und Said legen die Gebete in die Urne und kehren zu ihrer Gruppe zurück, die auf dem Weg in die Sakristei ist.

Hinter einer Säule beobachtet Clara die Schreibenden aus den Augenwinkeln.

Als sie dann allein in der Kirche ist, vergewissert sie sich, dass niemand sie beobachtet, kritzelt einige Worte auf ein Stück Papier und steckt es verstohlen in die Urne.

Die Gruppe hat sich vor dem Portal der Kathedrale versammelt, die über Le Puy thront. Guy deutet nach Westen — dort liegt Santiago de Compostela.

Im fahlen Morgenlicht wirken die Hügel, die Le Puy im Westen umgeben und von dem dunklen Stein des Portalvorbaus eingerahmt werden, wie ein blaustichiges Gemälde mit grünen Weiden und alten Häusern. Jeder malt sich aus, was dahinter liegt, jenseits davon, immer weiter nach Westen, immer weiter in die Ferne, bis ans Ende des europäischen Kontinents. Jeder versucht sich die eintausendsechshundert Kilometer vorzustellen, die ihn von Santiago de Compostela trennen.

Doch der Weg, der sie nach Santiago führt, wird mit einem anderen Maß gemessen als in Kilometern.

Sie steigen die Stufen wieder in die Stadt hinunter.

In der Sakristei sitzen Schwester Odile und Schwester Claudette an einem alten Eichentisch, sie holen die Gebetszettel aus der Urne und lesen sie laut vor.

»>Betet für mich, die ich meine Mutter verloren habe, betet für meine Schüler, dass sie während meiner Abwesenheit gut lernen, betet für meinen Mann, dass er wieder Arbeit findet, denn wenn er weiterhin arbeitslos ist, wird er krank werden und sterben.< Können wir damit etwas anfangen?«

»Ich weiß nicht...«

»Sollen wir das mit der Arbeitslosigkeit streichen?«

»Ja, keine Politik. Es soll nur heißen: >Betet für meinen Mann...<«

»>Betet für meinen Mann, der...<?«

»>... der krank ist.<«

»Er ist aber nicht krank, er ist arbeitslos.«

»Das ist doch das Gleiche.«

»Na ja, noch nicht...«

»Das wird schon noch kommen.«

»Und die Schüler?«

»Hm, das mit den Schülern wird zu kompliziert. Lassen wir es einfach weg und lesen nur den Anfang vor.«

»>Betet für mich, die ich meine Mutter verloren habe<?«

»Nein: >Betet für die Seele meiner Mutter.< >Betet für mich< ist zu egoistisch.«

»Gut.«

Brav schreibt Schwester Claudette das Gebet neu.

»>Betet für die Seele meiner Mutter.< Ich schreibe alles in Großbuchstaben, weil Pater Dumas so schlecht sieht.«

Schwester Odile zieht das nächste Blatt heraus.

»>Lieber Pater, betet für Ramzi, dass er einmal lesen und schreiben lernt. Betet für Ramzis Mutter, dass sie die Miete bezahlen kann, obwohl sie mir alle ihre Ersparnisse gegeben hat, damit ich mit ihrem Sohn nach Santiago-Mekka pilgern kann. Betet, dass sie mich nicht in der Luft zerreißt, wenn wir zurückkommen. Betet vor allem dafür, dass das Mädchen, das ich liebe, mich auch liebt.< Oh la la, der ist ja wirklich völlig gestört.«

»Was ist denn das, Santiago-Mekka?«

»Weiß ich nicht.«

»Überspringen wir es?«

»Ja, überspringen wir es.«

Schwester Odile wirft den Zettel in den Papierkorb, Schwester Claudette fischt ein weiteres Gebet aus der Urne.

»>Betet dafür, dass mein Krebs nicht mehr zurückkommt und mein Mann auch nicht.<«

Heute sind die Gebete der Pilger wirklich ziemlich schräg.

»Das mit dem Krebs können wir vorlesen, aber das mit dem Mann...«

»Soll ich den Mann weglassen?«

»Ungern... Es sind ja wirklich arme Leute.«

»Ja, aber wir können doch bei der Messe nicht lesen: >Betet dafür, dass mein Mann nicht mehr zurückkommt<...«

»Hm, nein...«

»Vielleicht ist ihr Mann ja ein Taugenichts...«

»Vielleicht hat sie seinetwegen Krebs bekommen...«

»Ja, vielleicht... Was machen wir jetzt?«

»Schreiben wir: >Betet für meine Heilung, betet für meine Nächstens«

»Nein, zuerst: >Betet für meine Nächstem und dann: >Betet für meine Heilung.<«

Mit Großbuchstaben schreibt Schwester Claudette den ein wenig, aber nicht übermäßig, zensierten politisch korrekten Satz nieder, damit er bei der nächsten Pilgermesse von Pater Dumas, dem Pater mit den schlechten Augen, verlesen werden kann...

Als die Gruppe von der Kathedrale aus die gewundene Rue des Tables in die Stadt hinuntergeht, sieht Guy, dass Claude keinen Rucksack trägt.

Guy fragt nach, ob er ihn im Hotel vergessen hat, aber Claude hat nichts im Hotel vergessen. Claude trägt seinen alten schwarzen Leinenanzug, der einmal richtig schick war, nun aber aussieht wie ein Scheuerlappen; sonst trägt er gar nichts.

Guy ist entsetzt.

»Aber wie stellen Sie sich das vor?«

»Weiß auch nicht... Ich wusste das mit dem Rucksack nicht.«

»Aber die Liste zum Rucksackpacken — ich habe Ihnen doch die Liste gegeben.«

»Sie haben mir eine Liste gegeben?«

»Ja, damals beim Anwalt, beim Anwalt habe ich jedem von Ihnen eine Liste gegeben, allen dreien...«

»Hm, kann sein.«

»Aber Claude — das kann nicht nur sein, das war so! Ganz sicher. Sie wissen doch, dass wir zweieinhalb Monate unterwegs sind... Das ist ohne Rucksack unmöglich. Sie brauchen doch das eine oder andere Stück für unterwegs. Sie brauchen richtige Schuhe, in diesen werden Ihnen die Füße wehtun...«

»Ach nein. Das sind ganz tolle Turnschuhe, ich habe sie schon vier Jahre.«

»Und wenn es regnet — haben Sie ein Cape? Und Unterhosen zum Wechseln?«

»Hm, dann muss ich mir eben auf dem Weg etwas besorgen.«

»Claude, wir laufen nicht über die Landstraße, sondern über Pilgerwege, wo sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagen. Da gibt es nicht an jeder Ecke Läden und Supermärkte, verstehen Sie?«

»Vielleicht kann mir jemand etwas leihen.«

Zu solch himmelschreiendem Leichtsinn fällt Guy nichts mehr ein.

Said und Ramzi bilden die Nachhut und unterhalten sich leise.

Ramzi spürt, dass irgendetwas nicht ganz mit der Vorstellung übereinstimmt, die er sich von einer Pilgerreise nach Mekka gemacht hat.

»Sag mal, Said, warum sind denn außer uns zwei keine Araber in Gruppe?«

Getrieben von einem hehren und zwingenden Motiv, der Liebe, antwortet Said und lügt dabei, dass sich die Balken biegen.

»Aber wir sind doch gar nicht die einzigen Araber...«

Mathildes Anblick, die mit Kopftuch vor ihnen geht, beflügelt ihn zu wilden Behauptungen.

Said: »Da ist Mathilde, siehst du? Sie trägt einen Schleier.«

Ramzi: »Ja, aber eigentlich müssten doch viel mehr Araber nach Santiago-Mekka gehn, meinste nich auch?«

Said: »Nein, nein! Zurzeit wollen alle Leute dorthin.«

Ramzi: »Ja? Was is denn dort so toll?«

Ramzi fährt gern mit dem Schiff. Dann steht er an Deck und lässt sich die Meeresbrise um die Nase wehen, vor ihm erstreckt sich ein Ozean voll freundlicher Delfine, und die Dünung wiegt ihn wie einst die Arme seiner Mutter mit den kajalumrandeten Augen...

Auch Said lässt sich dazu hinreißen, vom Schlaraffenland zu träumen, von einem Land ohne Beton und ohne Demütigungen, einem Land, wo die Saids und Mohammeds dieser Welt unter sich sind.

»Weißt du, dort muss niemand Miete bezahlen, dort scheint immer die Sonne, es geht einem gut, man arbeitet ein bisschen, dann ruht man sich lange aus... Dort können alle lesen, auch diejenigen, die ein bisschen plemplem sind...«

Ramzis Gesicht verfinstert sich. Saids Traum ist wie ein Hammer auf den Pfahl in Ramzis Herz gesaust.

»Ich weiß, dass ich plemplem bin, das brauchste mir nich sagen.«

»Ich habe nie gesagt, dass du plemplem bist.«

»Haste doch.«

»Ich habe gesagt, dass dort alle Leute lesen können. Habe ich etwa was anderes gesagt? Dort gäbe es vielleicht jemanden, der es dir beibringen könnte, mehr habe ich nicht gesagt... Und überhaupt — wen sollte es denn stören, dass du nicht lesen kannst? Nein, ohne Spaß — wen stört es, dass ein Kerl wie du nicht lesen kann?«

Ramzi bleibt stehen und blickt Said fest in die Augen:

»Meine Mutter.«

Der kleine Trupp befindet sich nun außerhalb von Le Puy-en-Velay auf dem Hügel, den die Pilger zuvor vom Westportal der Kathedrale aus gesehen haben — ein Felskegel, der viel von seinem Liebreiz verliert und sich in eine beschwerliche Steigung von zwanzig Prozent verwandelt, wenn man sich erst einmal an den Aufstieg gemacht hat und einem die Zunge aus dem Hals hängt.

Ein schweißtreibender Beginn für ungeübte Neulinge.

Etwa zwanzig Meter hinter den anderen klebt Pierre keuchend mit dem Ohr am Handy.

Er fragt leise: »Sind Sie da, Robert?«

Robert ist bester Laune, er sitzt irgendwo in der Stadt im BMW seines Chefs und liest gerade sein Horoskop.

»Ja, ich bin da, Chef.«

»Und was machen Sie?«

»Ich suche Sie, Chef... Ich weiß nicht, wo Sie sind.«

»Dann sputen Sie sich mal, mein Alter! Erkundigen Sie sich, halten Sie sich ran!«

»Ich erkundige mich, ich halte mich ran, Chef.«

»Fragen Sie nach dem Weg, dem Jakobsweg.«

»Dem Jakobsweg...«

»Hier in Le Puy kennt den sicherlich jeder.«

»Ja, sicherlich kennt den in Le Puy jeder — aber kann man auf dem Jakobsweg auch mit dem Auto fahren?«

»Selbstverständlich kann man da mit dem Auto fahren, ich bin ja hier, ich stehe auf einer geteerten Straße an einem Hang. Machen Sie schnell, Robert, ich habe die Nase voll, das ist schrecklich steil.«

»Verstehe, Chef, der ist schrecklich steil.«

Roberts Taktik — »Wiederhole alles, was der Chef sagt« — erspart es ihm zwar meistens, tätig zu werden, dieses Mal aber muss er handeln und diesen verdammten Weg finden. Mit Bedauern legt er sein Horoskop zur Seite — dass er diesen Sommer unvergessliche Ferien in der Sonne verbringen und die Liebe seines Lebens finden werde — und macht sich auf die Suche nach seinem Chef.

Clara geht ein paar Schritte vor Pierre und unterhält sich mit Mathilde, kann aber immerzu nur an ihren Bruder und dessen Telefoniererei denken.

»Sehen Sie sich nur diesen Schwachkopf an, ständig hängt er am Telefon! Das ist mein Bruder. Er macht gerade Börsengeschäfte... Unternehmen Sie oft Pilgerreisen?«

»Ja, im Grunde schon. Aber ich war nun einige Monate nicht mehr unterwegs, weil ich...«

Gerade als Mathilde, die froh ist, eine Weggefährtin gefunden zu haben, sich ein wenig öffnen und über sich sprechen will, über ihre Krankheit, die monatelange Chemo, da unterbricht Clara sie brüsk.

»Also, schauen Sie sich das mal an! Ich glaub’s nicht! Da kommt sein Wagen. Er hat gar nicht an der Börse spekuliert, sondern seinen Chauffeur angerufen. Dieser Hund! Er will im BMW den Hügel hinauffahren.«

Mathilde steht allein da mit ihrem abgeschnittenen Wort, mit ihrem Satz, der mitten im Flug gebremst und im Sturm von Claras Hass mitgerissen wurde.

Robert hatte es tatsächlich geschafft, seinen Chef ausfindig zu machen, und fährt nun auf ihn zu. Erleichtert öffnet Pierre ganz leise die Wagentür und wirft seinen Rucksack auf die Rückbank.

Empört über so viel Trägheit und über Pierres widerwärtiges Schummeln, brüllt Clara ihm zu: »He, wenn du glaubst, ich hätte nicht gesehen, wie du deinen Rucksack ins Auto gelegt hast, bist du schiefgewickelt! Dir muss man wohl immer eine Extrawurst braten, was? Nicht mal einen Rucksack kannst du tragen, du Waschlappen!«

Pierre schlägt die Wagentür heftig zu und weist den Chauffeur an: »Warten Sie oben auf dem Hügel auf mich!«

Robert spürt in Gestalt dieser starken Frau, die es wagt, seinen Chef derartig zu beleidigen, eine große Gefahr auf sich zukommen und braust davon.

Pierre stellt sich mitten auf die Straße, holt tief Luft und feuert seine ganze Munition gezielt in sechs kurzen Worten ab: »Halt-die-Schnauze-du-fettes-Schwein!«

Diese Beleidigung trifft Clara mitten ins Herz; wahrscheinlich erinnert sie sich an die Beschimpfungen, die sie als Kind wegen gestohlener Murmeln oder schlecht geteilter Schokoladetafeln von ihrem Bruder anhören musste — von diesem Bruder, der stinkreich ist, der keine Kinder und keine Sorgen hat und von dem sie sich so oft ein wenig Trost gewünscht hätte.

Nun verspürt sie nur noch Wut. Und Lust zu töten.

Sie stürmt so schnell den Hang hinab, dass nichts auf der Welt sie noch aufhalten könnte.

Pierre steht wie erstarrt da und sieht die Furie auf sich zurasen, er ist wie gelähmt, wie damals, als er zehn Jahre alt war und Clara neun und sie ihn trotzdem noch bei jeder Rauferei besiegte.

Sie prallt gegen ihn und schlägt ihm mitten ins Gesicht. Und was für ein Hieb!

Pierre brüllt, der Kampf beginnt.

Die Kombattanten wälzen sich auf dem Asphalt, rollen ineinander verkeilt herum, sie wollen sich gegenseitig die Augen auskratzen, die Finger in die Nasenlöcher stecken. Unter lauten Flüchen und Beschimpfungen hagelt es Schläge, die Kleider reißen, die Haare auch. Wie auf dem Schulhof.

Der Rest der Gruppe ist bestürzt stehen geblieben.

Guy eilt auf die Streithähne zu, versucht sie zu trennen. Pierre und Clara aber wollen nicht getrennt werden, sie werfen Guy in hohem Bogen aus dem Ring raus.

Guy nimmt erneut Anlauf, geht dazwischen, fällt, und nun wälzt auch er sich herum, während er Clara aufhalten will, die auf dem Bauch ihres Bruders kniet und ihn mit den Fäusten bearbeitet.

Clara und Guy, beide behindert durch ihre Rucksäcke, die hin und her schwingen, sehen aus wie dicke Schildkröten. Dennoch gelingt es Guy, Bruder und Schwester zu trennen. Den einen hält er rechts, die andere links am ausgestreckten Arm. Doch Clara und Pierre sehen Guy in ihrem blinden Hass gar nicht, sie drohen einander.

»Ich schlag dir eine rein!«

»Dann komm doch, mach schon, du blöder Hund!«

Und der blöde Hund, mit bürgerlichem Namen Pierre, holt mit aller Kraft zu einem Schlag aus, der laut klatschend auf Guys Backe landet.

Da reißt der Film, etwas stimmt nicht, alle erstarren, das war so nicht vorgesehen.

Nach kurzer Erholung strafft sich Guy und explodiert.

»Das darf ja wohl nicht wahr sein, dass Sie sich derartig prügeln! Sind Sie eigentlich völlig übergeschnappt? Unter solchen Umständen mache ich Ihnen nicht den Coach, das kann ich Ihnen sagen! Verstanden? Sie können sich anschreien, wenn Ihnen das hilft, aber geschlagen wird hier nicht! Ich trage die Verantwortung, ich muss eine Gruppe nach Santiago führen, die Leute haben dafür bezahlt, und ich führe sie dorthin, basta. Ich lasse nicht zu, dass jemand in meiner Gruppe Chaos verbreitet. Wir müssen zweieinhalb Monate miteinander auskommen, und darum wird hier nicht schon am ersten Tag die Sau raugelassen — klar?!«

Schweigen im Walde.

Guy hat die Wogen mit seiner Autorität geglättet, mit Wut im Bauch marschiert er weiter und hält sich die Backe.

Clara und Pierre haben sich wieder gefasst, sie schämen sich und sind ganz zerknirscht.

Die Gruppe folgt Guy, die Reise beginnt.

Claude, ganz liebenswürdig, will sich bei Guy einschmeicheln.

Mit säuselnder Stimme fragt er: »Und wie machen wir das jetzt mit dem Essen?«