ÉDITH SITZT GEISTESABWESEND auf der Bettkante.

Pierre ist stinksauer.

»Ich gehe nicht, kommt gar nicht infrage.«

Er pfeffert eine Packung Unterhosen auf den hochflorigen beigefarbenen Teppichboden.

»Ich gehe nicht, ich brauche doch dieses Geld nicht!«

Und er schleudert seinen brandneuen Rucksack quer durch den Raum.

»Mit welchem Recht zwingt sie uns, das zu machen? Mit welchem Recht eigentlich?«

Er hebt die Unterhosen wieder auf, legt sie aufs Bett.

»Sie zwingt mich dazu — das treibt mich an der Wand hinauf!«

»Zwingt dich deine Schwester?«

»Nein, meine Schwester doch nicht — meine Mutter! Meine Mutter zwingt uns mit ihrem verfluchten Testament dazu...«

»Aber sie ist doch tot.«

»Selbst im Tod zwingt sie uns noch ihren Willen auf. Ich gehe nicht, ich gehe nicht! Die können mich mal mit ihrem ganzen Mist!«

Er leert einen Rucksack voll mit Campingausrüstung auf dem Boden aus und tritt mit dem Fuß in dem Haufen herum.

»Aber du hast gesagt, dass du gehst, dann musst du doch jetzt auch gehen, oder nicht?«

»Ja, ja, ich muss, ich muss! Und dann muss ich auch noch in irgendwelchen Billigherbergen schlafen! Aber ich werde gehen, und ich werde in Billigherbergen schlafen! Lieber sterbe ich, als dass ich diesen beiden Schmarotzern ein Hotel bezahle...«

Édith steht auf und wankt zu ihrem entzückenden Frisiertisch aus den Dreißigerjahren, der kein einziges Kosmetikfläschchen enthält, dafür eine ganze Batterie alkoholischer Getränke.

Das sind Édiths Parfüms.

Sie gießt sich ein großes Glas Gin ein, leert es in einem Zug, füllt das Glas noch einmal und setzt sich wieder neben Pierre. Sie trinkt in kleinen Schlucken wie ein schläfriges Kätzchen. Pierre bittet sie liebevoll, nicht so viel zu trinken. Und genauso liebevoll erwidert sie, er solle sich keine Sorgen machen, alles sei gut.

Pierre ringt ihr das Versprechen ab, nicht zu trinken, während er weg ist. Édith verspricht, nicht zu trinken, solange er weg ist, und schlürft ihren Gin.

Pierre sieht sie an, sagt nichts mehr.

Wie Tausende und Abertausende andere Menschen, die noch immer Zusammenleben, ein jeder in seiner eigenen Einsamkeit, verbindet die beiden etwas, vielleicht für immer, vielleicht nur für die nächste Viertelstunde: eine Kerbe, die so tief in ihre Herzen eingeschnitten ist, dass ihr Blut sich vermischt hat.

Sarah sieht aus wie Claude, nur als Mädchen. Die gleichen großen Augen, das gleiche lockige Haar, aber bei ihr ist alles noch fest, hübsch und zart, nicht so erschlafft wie bei Claude.

Wie kann ein so bildhübsches Mädchen diesem verwahrlosten Vater so ähnlich sehen? Im Café gegenüber dem Gymnasium wartet sie auf ihn, lauert ihm auf mit traurigem Blick, der in alle Richtungen schweift. Woher wird er kommen? Wird er überhaupt kommen? Warum hat er mich angerufen? Sicherlich soll ich ihm Geld leihen, wie immer. Wie kann es sein, dass ein Mann, der so darunter gelitten hat, dass sein Vater ihn verließ, nun seinerseits alle seine Kinder verlassen hat? Warum beginnt alles immer wieder von vorn? Wann wird das endlich aufhören?

Manchmal vergehen zwei Jahre, ohne dass sie ihn trifft, daher erwartet sie nichts mehr von ihm — nicht von ihm und nicht von anderen Menschen.

Doch da kommt er und lächelt glücklich, als er sie sieht. Sie fragt sich jedes Mal, wie er so lächeln und sich so verhalten kann. Er überschüttet sie derart mit Komplimenten wegen ihrer unvergleichlichen Schönheit, dass es ihr fast peinlich ist. Sie wartet darauf, dass er ihr die Summe nennt, um die er sie bitten will; sie empfindet keinen Hass, die Jugend ist unendlich nachsichtig. Sie liebt dieses Gesicht und diese Stimme, ihre Wut ist schon seit Langem verraucht.

»Wie geht’s?«

»Du kommst eine halbe Stunde zu spät, Papa.«

»Ich weiß, aber die Staus...«

Sarah regt sich nicht auf, aber ist es erniedrigend, dass er sie ständig für dumm verkaufen will.

»Du hast kein Auto, Papa.«

»Nein, aber der Bus...«

Der Kellner kommt. Sarah bestellt ein Perrier-Rondelle, Claude einen Whisky, ach was, warum nicht gleich einen doppelten...

Auf die Bestellung folgt beredtes Schweigen.

»Oma ist tot.«

»Ich weiß«, sagt Sarah.

Sie weiß auch, dass es ihm egal ist; dass er für seine Mutter nichts empfunden hat, dass er sie seit Jahren nicht mehr gesehen hat. Sie betrachtet seine gelichtete Stirn und fragt sich, ob auch sie eines Tages nichts mehr für ihren Vater empfinden wird und wie so etwas möglich sein kann.

Claude entschließt sich, die berühmte Frage zu stellen. Wenn es darum geht, dem Alkohol zu widerstehen, hat er alle Ausflüchte der Welt parat, doch wenn er sich Geld leihen will, legt er Entschlossenheit an den Tag.

»Du musst mir hundert Euro leihen, nur hundert. Ich brauche eine Bahnfahrkarte. In zwei Monaten bin ich reich, ich schwör’s dir.«

»Ich habe keine hundert Euro.«

»Frag deine Mutter.«

»Maman liehe dir nicht mal einen Cent.«

Sarah nimmt sich vor, ihrer Mutter nichts von diesem Treffen zu erzählen. Das wäre nur Öl ins Feuer. Der Kellner kommt mit den Getränken.

Sarah fragt ihren Vater, ob er denn Geld habe, um seinen Whisky zu bezahlen. Claude sagt: Nein, aber das sei nicht schlimm. Denn er wird reich, er erbt nämlich, und um an ebendieses Erbe zu kommen, muss er... Sarah hört nicht mehr zu, sie weiß, dass sie den Whisky bezahlen muss, sie fragt sich, wie viel er kostet — fünfzehn, zwanzig Euro? — und wie sie dieses Loch in ihrem ohnehin schmalen Geldbeutel wieder stopfen soll. Wenn sie am Donnerstag und Freitag aufs Mittagessen verzichtet, kann sie am Samstag trotzdem ins Kino gehen. Ihre Mutter wird jedenfalls nichts davon erfahren.

Das letzte Haus im Ort, am Ende der Straße, das ist Claras Haus.

Weder in der Stadt noch auf dem Land, irgendwo dazwischen. In der Nähe ein Flughafen. Ohrstöpsel.

Eindreiviertelstunde bis Paris. Viel Verkehr, wenn man irgendwohin fahren muss, tödliche Langeweile, wenn man Ablenkung und Unterhaltung sucht. Claras Mann Mingo ist arbeitslos; früher war er Buchhalter in einem kleinen Unternehmen, das der Konkurrenz aus der Dritten Welt zum Opfer fiel und pleiteging. Dieses Häuschen sparten sie sich vom Mund ab, Clara fand ganz in der Nähe eine Stelle an einem Technischen Gymnasium, und dann brach alles zusammen. Die Kinder gehen hier zur Schule, Clara darf ihre Stelle nicht verlieren, und Mingo findet keine Arbeit mehr. Die Falle ist zugeschnappt. Also ist Mingo Hausmann; ohne verbittert zu sein, übt er diese Tätigkeit aus wie einen richtigen Beruf. Ein großer, athletischer Typ, üppiges rotes Haar, ein Bäuchlein, weil er so gern isst — er kocht übrigens jeden Tag, und allen schmeckt’s.

Clara und die Kinder hinterlassen im Haus ständig und überall Unordnung, Mingo findet sich damit ab. Der Esstisch dient als Ablage; zur Essenszeit meckert Mingo gutmütig, dann nehmen alle ihre Sachen, stapeln sie anderswo hin und decken gut gelaunt den Tisch, weil sie sich schon auf Mingos Köstlichkeiten freuen. Das Leben dieser Familie ist zwar durch die Arbeitslosigkeit aus der Bahn geraten, doch im Grunde kommen alle gut zurecht, und eine brandende Woge der Liebe tränkt die Luft, die sie atmen.

Pierre und Lucie, beide rothaarig wie ihr Vater, stecken die Nase ständig in Bücher, wie ihre Mutter, und machen ihren Eltern keine größeren Sorgen.

Heute ist Clara total gestresst: Morgen verreist sie für länger als zwei Monate, sie hat noch nichts gepackt, hatte noch keine Zeit, die Hausarbeit ihrer Tochter durchzusehen; die Liste, die ihr der Coach gegeben hat, hat sie verlegt, und sie weiß nicht, wo ihr Rucksack ist. Völlig fertig rennt sie kreuz und quer durchs Wohnzimmer.

»Mingo, ich finde meinen Rucksack nicht mehr.«

Mingo, in einer Hand einen Topf mit Pilzen in Knoblauchsoße, auf der Schulter ein Küchentuch, hebt einen Stapel Decken und Bücher hoch.

»Er liegt hier auf dem Sofa, ich habe ihn schon gepackt. Nach der Liste des Coach. Alles erledigt. Fehlt nur noch die Marseiller Seife, ich gehe gleich auf den Markt und besorge dir welche. Pierrot, deckst du schnell den Tisch, solange das Essen noch warm ist? ... Lucie, nimm deine Bücher da weg und bring bitte das Brot mit!«

Mingo deutet auf einen Bücherstapel neben dem Rucksack und fragt Clara: »Willst du die wirklich alle mitnehmen?«

»Nein... eins vielleicht.«

»Alles in Ordnung, mein Engel.«

»Na ja...«