Seine Eminenz Kardinal di Medici:
D’Este, Alessandrino, Santa Severina, Cherubi, Rusticucci und ich hatten uns als erste darauf verständigt, Montalto zum Papst zu wählen – ein illustrer, aber kleiner Kreis. Wir würden mindestens sechsmal so viele Verbündete brauchen, um Montalto durch Akklamation zur Wahl zu verhelfen. Wir sechs bemühten uns daher, unsere kleine Schar durch Flüsterpropaganda und mit allen bei solchen Gelegenheiten üblichen Tricks zu vergrößern.
Allerdings wußte sich unser Kandidat, dem wir helfen wollten, auch selbst sehr gut zu helfen, denn er hatte von Beginn des Konklaves an große Vorsicht und außerordentliches Geschick bewiesen. Gleich am ersten Tag hatte er begonnen, alle Kardinäle in ihren Zellen zu besuchen. Er stellte sich ihnen mit lobenswerter Bescheidenheit vor, und ohne seine eigenen Ambitionen durchblicken zu lassen, versprach er ihnen, gegebenenfalls alles in seiner Macht Stehende für sie zu tun. Da er im Laufe der Jahre seine Confratres genau beobachtet und viele Informationen über sie eingeholt hatte, wußte er, wie man jeden einzelnen zu nehmen hatte.
Er versöhnte sich mit Cherubi, dem er früher hart zugesetzt hatte, entschuldigte sich dafür, daß er ihn »zu seinen Gondeln zurückgeschickt« hatte, und fügte beziehungsvoll hinzu, letzteres könne sich vielleicht als kluge Voraussicht erweisen, wenn sein Gesprächspartner, wie er hoffe, eines Tages die Geschicke der Kirche von Venedig leiten werde …
Montalto besaß einen Scharfblick, der an Prophetie grenzte. Während die meisten Kardinäle fälschlich annahmen, ich hegte die Hoffnung, unter dem künftigen Papst erneut Staatssekretär zu werden, hatte Montalto begriffen, daß ich dieses Amtes müde war. Als ich ihn in seiner Zelle besuchte, sprach er davon überhaupt nicht, sondern nur von seiner Sympathie für das Großherzogtum Toskana und von seinem lebhaften Wunsch, es seine Unabhängigkeit »allen Widersachern zum Trotz« (zweifellos |379|eine Anspielung auf Philipp II.) bewahren zu sehen. Ihm war natürlich bekannt, daß mein älterer Bruder, der Großherzog, keine Kinder hatte und ich ihm eines Tages auf dem Thron folgen würde – fortan mein einziges Streben.
Mit gleichem Geschick lavierte er zwischen der Skylla der spanischen und der Charybdis der französischen Partei. Farnese versprach er seine Stimme und gab sie ihm bei der Wahl auch wirklich, wo doch seine Kandidatur keinerlei Aussicht mehr auf Erfolg hatte. Zu d’Este hingegen sagte er über das Herzogtum Ferrara das gleiche, was er mir über das Großherzogtum Toskana gesagt hatte. Er zeigte sich freundlich, wenn auch von würdevoller Zurückhaltung zum Kardinal-Erzherzog von Österreich, dem er dank seiner Deutschkenntnisse einige Male gefällig sein konnte.
Da ihm bekannt war, wie sehr Kardinal Altemps seinen Bruder, den Marchese, liebte, gab er ihm zu verstehen, daß dieser alle erforderlichen Eigenschaften für einen Statthalter des Borgo1 zu besitzen scheine. Er lobte San Sisto gegenüber dessen Bruder Giacomo und äußerte den Wunsch, diesen nach der Papstwahl als General der vatikanischen Armee bestätigt zu sehen. Alessandrino machte er keine Versprechungen, zweifellos, weil ihn dessen Herrschsucht beunruhigte; er schmeichelte lediglich seinem übersteigerten Stolz mit ebenso übersteigerten Komplimenten. Gegenüber Rusticucci aber, den er für bescheidener und fähiger hielt, ging er größere Verpflichtungen ein, wenn auch nur in Andeutungen, denn ihm war seit langem klar, daß Rusticucci auf das Amt des Staatssekretärs hoffte.
Montaltos Taktik war so geschickt, und er trat dabei so bescheiden und einfach auf, daß sich die weniger Schlauen ködern ließen, ohne dessen gewahr zu werden. Die Klügeren unter uns, die ihn als einen Mann von Wort kannten, begnügten sich mit seinen Versprechungen und betrachteten seine erstaunliche Wendigkeit als eine zusätzliche Stärke, ohne sich davon übertölpeln zu lassen. Vor dem Konklave hatten wir Montalto für einen sehr tugendhaften und fähigen Prälaten gehalten. Aber als wir nun sahen, welch diplomatisches Geschick er während unserer Klausur an den Tag legte, stieg er noch mehr in unserer Achtung. Einen Mann, der so wie er für den |380|Erfolg geschaffen ist, wird man gern unterstützen und lieber zum Freund als zum Feind haben – sofern sein Erfolg einem nicht schadet.
Mir war bewußt, daß unsere kleine Gruppe niemals genügend Stimmen für Montalto zusammenbekommen würde, wenn es uns nicht gelänge, Kardinal San Sisto für unsere Sache zu gewinnen. So mittelmäßig sein Verstand und sein Gemüt auch sein mochten, genoß er doch große Autorität bei vielen Kardinälen, die ihre Ernennung seinem Einfluß auf Gregor XIII., seinen Onkel, verdankten.
San Sisto war lang, bleich und weich wie eine Wachskerze. Sein Wesen entsprach ganz und gar seinem Äußeren. Dem Mann fehlte jede Tatkraft, Entschlossenheit und Beständigkeit. Ich möchte meinen Vergleich nicht so weit treiben, zu behaupten, er schmelze weg wie eine Kerze, aber es war wirklich so. Eines Tages unterhielt ich mich unter vier Augen mit ihm, und als ich im Eifer des Gesprächs seinen Arm ergriff, spürte ich weder Knochen noch Muskeln unter meiner Hand. Und ich fragte mich verblüfft, woraus dieses substanzlose Wesen wohl bestehe.
Indem wir überlegten, wie wir San Sisto gewinnen könnten, verfielen wir schließlich auf eine kleine List, die ich kaum fromm zu nennen wage, obwohl sie doch das Wohl des Staates und der Christenheit zum Ziel hatte. Nachdem wir Cherubi eingeweiht hatten, schickten wir ihn zu San Sisto.
Cherubi ist redselig, umgänglich, von überschwenglicher Freundlichkeit; in seiner tolpatschigen Art gilt er als freimütig. Seine Worte waren ungeschminkt, jedoch verfänglich:
»Aus Freundschaft möchte ich Euch warnen, Monsignore, obwohl die Angelegenheit noch sehr geheim ist: Montaltos Kandidatur findet so viele Befürworter, daß man ihm allgemein die größten Chancen zubilligt.«
»Wie das?« fragte San Sisto. »Montalto ist doch so zurückhaltend! Er rührt in eigener Sache keinen Finger.«
»Das tut er auch nicht, Monsignore, dennoch kommt er voran, und seine Wahl ist schon so gut wie sicher. Wenn er an Euch noch nicht herangetreten ist, Eminenz, so deswegen, weil er vielleicht befürchtet, daß Ihr ihm feindlich gesinnt seid, wie Euer verehrter Onkel, der hochheilige und tief betrauerte Papst Gregor XIII., es war.«
»Aber nein!« rief San Sisto erschrocken. »Ich bin ihm überhaupt |381|nicht feindlich gesinnt! Ich halte ihn ob seiner Tugend und seiner Talente für einen sehr geeigneten Kandidaten.«
»Wie kommt es dann, daß er noch nicht Fühlung mit Euch aufgenommen hat?«
»Wenn ich es recht bedenke, hat er das getan«, sagte San Sisto. »Er hat sich sehr liebenswürdig über meinen Bruder geäußert. Ich glaube mich sogar zu erinnern, daß er die Hoffnung aussprach, mein Bruder möge auch unter dem künftigen Pontifikat General der vatikanischen Armee bleiben.«
»Aber Monsignore, das ist doch ein Anerbieten! Und wenn ich Euer Eminenz einen Rat geben darf, dann schlagt es nicht aus, sonst schadet Ihr Euch selbst.«
»Ich will darüber nachdenken«, sagte San Sisto, ganz verwirrt. »Und ich danke Euch sehr für Eure Freundlichkeit, Cherubi, die Eurer Offenheit in nichts nachsteht.«
Als uns Cherubi von dem glücklichen Ausgang dieser Unterredung berichtete, beschlossen wir, das Eisen zu schmieden, solange es heiß war, denn San Sisto war aus allzu weichem, allzu formbarem Stoff. Wir schickten sofort die Kardinäle Riario und Gustavillanio zu ihm, die wir für unsere Sache gewonnen hatten und die ihm gegenüber den gleichen Ton wie Cherubi anschlugen. Und schließlich entsandten wir Alessandrino, den letzten Schlag zu führen.
Ich wage in aller Bescheidenheit zu behaupten, daß ich mit diesem Abgesandten eine sehr gute Wahl getroffen hatte, die sowohl dem Charakter San Sistos als auch dem von Alessandrino Rechnung trug.
Alessandrino machte nämlich größten Eindruck auf die anderen Kardinäle. Daraus erklärt sich übrigens, weswegen er trotz seiner großen Talente niemals auch nur die geringste Chance hätte, selbst Papst zu werden. Er war groß, sehr kräftig, noch jung, geistreich – und sehr herrisch, ja sogar hochmütig. Dieselben Gründe, die ihn hinderten, jemals papabile zu sein, verhalfen ihm zu Ansehen und Einfluß in allen Konklaves, an denen er teilnahm.
San Sisto gegenüber war er – ganz anders als Cherubi – kurz angebunden, und er sparte sich jedes »Monsignore« und »Eminenz«, denn er sah nicht ein, warum er einen Mann, der den gleichen Rang hatte wie er selbst und dem er sich überlegen fühlte, mit solchen Titeln anreden sollte.
|382|»Auf ein Wort bitte, San Sisto«, sagte er, packte ihn beim Arm und nahm ihn in seiner gebieterischen Art beiseite. »Schätzt Ihr Montalto?«
»Aber ja, sehr!« antwortete San Sisto hastig.
»Dann hier mein Rat: Wacht endlich auf, mein Lieber, und tut etwas für ihn. Auf jeden Fall eilt Ihr damit nur noch dem Sieger zu Hilfe. Denn Montaltos Kandidatur ist so gut eingefädelt, daß sein Erfolg sicher ist. Oder wollt Ihr den Groll des künftigen Papstes auf Euch lenken? Wollt Ihr, daß es Euch unter seinem Pontifikat genauso ergeht, wie es ihm unter Eurem Onkel ergangen ist?«
»Wie denn, wie?« stotterte San Sisto. »Ist sein Erfolg schon so sicher?«
»Davon könnt Ihr ausgehen, mein Lieber«, sagte Alessandrino und heftete seine schwarzen Augen fest auf ihn. »Es ist an Euch, einen Entschluß zu fassen und zu handeln. Das sage ich Euch rundheraus, als Euer Freund.«
»Handeln? Einen Entschluß fassen?« fragte San Sisto. »Wie soll ich mich für ihn entscheiden, ohne vorher die von meinem Onkel ernannten Kardinäle zu konsultieren?«
»Wollt Ihr damit sagen, daß Ihr als deren Führer Euch nach ihnen richten wollt?« erwiderte Alessandrino. »Solltet Ihr nicht eher das Gegenteil tun?«
»Auf jeden Fall muß ich sie konsultieren«, sagte San Sisto, der völlig verwirrt schien. »Wo ist da der Unterschied?«
»In der Art, wie Ihr die Frage formuliert. Wenn Ihr zum Beispiel sagt: ›Was haltet Ihr von der Kandidatur Montaltos?‹, überlaßt Ihr jedem die freie Entscheidung. Wenn Ihr aber sagt: ›Ich beabsichtige, für Montalto zu stimmen. Wie denkt Ihr darüber?‹, so beeinflußt Ihr damit die Entscheidung der Kardinäle.«
»Das ist eine glückliche Formulierung«, sagte San Sisto, »ich werde sie mir merken.«
Als mir Alessandrino diese Worte hinterbrachte, entsann ich mich, daß der Kardinal-Erzherzog nicht nur der Cousin Philipps II. war, sondern auch zu den Kardinälen gehörte, die Gregor XIII. auf Betreiben seines Neffen ernannt hatte. Ich mobilisierte meine bescheidenen Deutschkenntnisse, suchte ihn in seiner Zelle auf und begann, ihn auszuforschen, sehr vorsichtig und bedachtsam.
|383|»Monsignore, einige von uns, darunter Kardinal San Sisto und ich selbst, wollen für Montalto stimmen, den wir für einen sehr gottesfürchtigen und fähigen Kardinal halten. Was denkt Ihr über ihn?«
»Über wen? Wer ist das? Wie habt Ihr gesagt?« fragte der Kardinal-Erzherzog.
»Montalto.«
»Und wer ist das?« sagte der Erzherzog und gähnte hinter vorgehaltenem Handschuh. Dabei musterte mich dieser homo germanicus mit seinen blaßblauen Augen von oben herab, was ihm nicht schwerfiel, da mein Kopf gerade bis zur Höhe seines Magens reichte.
»Euer Eminenz kennen Montalto bestimmt! Er ist etwa fünfundsechzig Jahre alt und geht auf …«
Da ich das deutsche Wort für »Krücken« nicht wußte, mimte ich den Gang Montaltos.
»Ach, der!« rief der Kardinal-Erzherzog. »Den kenne ich natürlich. Ein charmanter alter Herr! Er hat mir große Dienste erwiesen. Wie könnte ich vergessen, daß mir dank seiner Vermittlung ein Sessel in die Zelle gestellt wurde? Wie, sagt Ihr, war sein Name?«
»Montalto.«
»Ach richtig, Montalto! Den Namen werde ich mir merken. Montalto. Warum nicht Montalto? Ein so liebenswürdiger alter Herr! Von San Sisto protegiert! Und spricht zudem noch Deutsch! Ein Papst, der Deutsch spricht – welche Ehre für Österreich!«
Und er begann – ohne ersichtlichen Grund – zu lachen oder vielmehr zu glucksen, und sein dicker Bauch wackelte. Ich lachte höflich mit. Ganz offensichtlich nahm der österreichische Erzherzog unsere unbedeutenden italienischen Angelegenheiten nicht allzu ernst.
»Ich wüßte gern, Euer Eminenz«, fuhr ich fort, »was Spanien zu einer Kandidatur Montaltos sagen würde.«
Der Kardinal-Erzherzog wurde wieder ernst, zog ein Papier aus der Innentasche seiner Robe und faltete es auseinander.
»Hier habe ich eine Liste der Kardinäle, die mein Cousin (so bezeichnete er Philipp II.) auf keinen Fall als Papst sehen will.«
Es verschlug mir die Sprache, wie wenig diplomatisch er sich ausdrückte, und ich staunte noch mehr, als er seine Brille |384|zurechtrückte und die schwarze Liste laut vorzulesen begann. Ich fand es pikant, wenn auch wenig überraschend, daß ich darauf stand, ebenso wie d’Este, die französischen Kardinäle – mit Ausnahme von Pellevé – und mehrere andere, die ich aber, diskreter als der Kardinal-Erzherzog, nicht nennen möchte.
»Nun gut«, sagte er, »so viel ist klar: Montalto ist keine Persona non grata für meinen Cousin. Es spricht also nichts gegen Montalto.«
»Darf ich dann meinem Freund San Sisto sagen, daß Euer Eminenz eine Kandidatur Montaltos wohlwollend aufnehmen?«
»Gewiß.«
»Ich danke Euch, Eminenz.«
Ich verneigte mich tief, wandte mich um und war schon an der Tür, als er mir nachrief:
»Darf ich nach Euerm Namen fragen, mein Freund?«
»Ich bin Kardinal San Gregorio, Euer Eminenz, und Euer allerergebenster Diener«, sagte ich, ohne mit der Wimper zu zucken.
Das war eine Eingebung des Augenblicks, und der Herr möge mir die muntere Lüge vergeben. Aber hätte ich dem Erzherzog sagen sollen, daß ich jener Medici bin, der schwarz auf weiß auf seinem Index steht? Im übrigen war es belanglos, denn seit seinem Eintritt ins Konklave verwechselte er alle Namen, und falls er mich zitieren sollte, würde niemand ihm zu sagen wagen, daß es gar keinen Kardinal San Gregorio gibt.
Am Abend des 23. April kamen die sechs Parteigänger Montaltos, die sich als erste für seine Kandidatur ausgesprochen hatten, in meiner Zelle zusammen und berieten den Gang der Dinge. Der bisherige Verlauf erschien uns sehr erfolgversprechend. Alessandrino hatte mit seiner letzten Attacke die Zustimmung San Sistos erreicht, der inzwischen die von seinem Onkel ernannten Kardinäle konsultiert hatte – mit sehr gutem Erfolg. Ich berichtete, daß ich mit dem Kardinal-Erzherzog gesprochen und die Kandidatur Montaltos nach der spanischen Seite hin abgesichert hatte. D’Este hatte inzwischen zwei der französischen Kardinäle für unsere Sache gewonnen; an den dritten, einen begriffsstutzigen Anhänger der Liga, war er allerdings nicht herangekommen. Santa Severina – il putto-papa, wie wir ihn nun nannten – ging von Gruppe zu Gruppe und |385|verbreitete, daß Montaltos Chancen zusehends stiegen. Der verläßliche und redliche Rusticucci hatte noch etwas Besseres getan: er hatte Farnese aufgesucht und ihn freiheraus gefragt, ob er gegebenenfalls für Montalto stimmen würde.
Farnese hatte sich verbittert gezeigt und sich gleichzeitig sehr kollegial verhalten: »Für mich haben elf Kardinäle gestimmt – habt Ihr gehört: nur elf! Ist das nicht eine Schande, wenn man bedenkt, wer ich bin? Aber Montalto war einer von diesen elf. Sagt ihm, ich werde ihm das nicht vergessen. Zumindest falls Torres nicht inzwischen eintrifft.«
Diese Aussage bewog uns, gleich am nächsten Tag, dem 24. April, zu handeln, obwohl wir noch nicht alle Stimmen beisammen hatten und nur auf die knappe Hälfte des Konklaves zählen konnten. In letzter Minute trat jedoch eine Schwierigkeit ein, denn San Sisto erklärte mit seiner kraftlosen Stimme, er werde für Montalto nur unter der Bedingung stimmen, daß dieser den Papstnamen Sisto (Sixtus) annehmen würde. Ich fand seine Forderung unglaublich kindisch, aber da ich wußte, daß niemand halsstarriger ist als ein willenloser Mensch, widersprach ich nicht. Eilig schickte ich Rusticucci zu Montalto, um ihn zu fragen, primo, ob er bereit sei, als Papst den Namen Sixtus anzunehmen, und secundo, ob er etwas dagegen habe, daß wir ihn am nächsten Tag nach der Messe zum Papst ausrufen.
Seine Antwort ließ nicht auf sich warten:
»Erstens. Sixtus I. und Sixtus II. waren heilige Märtyrer im alten Rom, und ich werde mit Freuden ihren Namen führen. Zweitens. Der 24. April ist ein Mittwoch, und der Mittwoch ist mein Glückstag: an einem Mittwoch habe ich die Mönchskutte angezogen, und an einem Mittwoch bin ich zum Kardinal ernannt worden.«
Bestärkt durch dieses gute Omen, beschlossen wir, am kommenden Tag nach der Messe die Entscheidung herbeizuzwingen.
Unglücklicherweise wurde gegen Ende der Messe die Ankunft Kardinal Vercellis und eines spanischen Kardinals gemeldet. Als alle zur Tür eilten, die beiden zu empfangen, fragten wir uns bestürzt, ob der spanische Clan sich die allgemeine Verwirrung zunutze machen und Torres zum Papst proklamieren werde.
Doch beim Anblick der Neuankömmlinge atmeten wir erleichtert auf: tatsächlich stand Vercelli leibhaftig in der Tür – sein Leib war wahrlich nicht zu übersehen –, aber der Spanier |386|war Madruccio und nicht Torres. Madruccio, den wir kaum kannten, hat vermutlich nie begriffen, warum wir uns damals über seine Ankunft alle so freuten.
Wir kehrten in die Kapelle zurück, wo der Zeremonienmeister in üblicher Weise begann, den Neuankömmlingen die Bullen mit der Wahlordnung zu verlesen.
Aus Höflichkeit wohnten die anderen Kardinäle freiwillig der ermüdenden Lesung bei. Unser Augenblick war gekommen!
Ich nickte Alessandrino zu, und er ging hinaus mit San Sisto, der seinerseits im Vorbeigehen den Kardinälen seiner Gruppe einen vielsagenden Blick zuwarf. Einer nach dem anderen schloß sich ihm an. Dann erhob sich d’Este und ging, wie vereinbart, allein hinaus, denn er wurde von dem spanischen Clan scharf überwacht. Danach verließen Cherubi, Santa Severina, Rusticucci, Riario und Gustavillanio in regelmäßigen Abständen die Kapelle, und jeder nahm die Kardinäle mit, die er überzeugt hatte.
Die nichteingeweihten Kardinäle wunderten sich nicht, daß nach und nach so viele weggingen. Denn es war schon immer so gewesen: je länger die Lesung dauerte, um so spärlicher wurde die Zuhörerschaft, schließlich hatte jeder von uns schon fünf- oder sechsmal diesen endlosen Vortrag mit angehört.
Wir trafen uns im Königssaal, und unsere erste Sorge war, unsere Häupter zu zählen. Wir wurden angenehm überrascht: seit dem Vortag war unsere Zahl gewachsen. Wir verfügten jetzt über die Mehrheit im Konklave, wenn auch knapp, mit nur zwei Stimmen. Zudem waren nicht alle Anwesenden gleichermaßen entschlossen, nach der Besorgnis und Unsicherheit auf manchen Gesichtern zu urteilen.
San Sisto, wankelmütig wie stets, drohte ein weiteres Mal, alles zu verderben, indem er erklärte, er werde nicht für Montalto stimmen, wenn nicht der Kardinal-Erzherzog persönlich ihm versichere, daß Montaltos Wahl nicht das Mißfallen Spaniens finde.
Ich nahm Santa Severina und Alessandrino beiseite und bat sie, in die Kapelle zurückzukehren: ersteren, weil er ein wenig Deutsch sprach und den Erzherzog holen sollte, letzteren, weil er Farnese bitten sollte, sich uns anzuschließen.
Farnese kam als erster und begriff sofort, worum es ging. Da er weder für noch gegen diese Wahl war, schwieg er und betrachtete |387|hochmütig all diese Kardinäle, die ihm die Stimme verweigert hatten, sie aber nun einem ehemaligen Schweinehirten zu geben bereit waren. Andererseits ging es dem großen Fürsten, der er war, gegen die Ehre, Montalto seine Stimme vorzuenthalten, nachdem dieser für ihn votiert hatte.
Santa Severina hatte die größte Mühe, den Kardinal-Erzherzog, der über der Verlesung der Bullen eingenickt war, zu wecken und ihm verständlich zu machen, daß wir im Königssaal auf ihn warteten. Endlich erschien er, die Hand auf Santa Severinas Schulter gestützt. Als er unser ansichtig wurde, ließ er seine farblosen Augen erstaunt über unsere Versammlung wandern, und sowie er mich erblickte (gottlob ohne sich an den Namen zu erinnern, den ich ihm genannt hatte), fragte er:
»Worum geht es, Kardinal?«
Alessandrino kam meiner Antwort zuvor:
»Euer Eminenz, wir wollen Kardinal Montalto zum Papst wählen.«
»Montalto!« rief der Erzherzog, nun völlig wach, und hob beide Hände. »Ja, Montalto!« wiederholte er mit Stentorstimme.
Dieses »Ja, Montalto!« aus dem Munde eines Österreichers war entscheidend. Das letzte Zaudern war damit geschwunden, und beflügelt begab sich unsere Schar wie bei einer Prozession in die Kapelle, an der Spitze der Erzherzog, Farnese, San Sisto und Alessandrino; ich selbst hielt mich in der dritten Reihe, denn ich wollte bei dieser Wahl nicht zu sehr in Erscheinung treten, bevor nicht ihr erfolgreicher Ausgang feststand.
Als wir in die Kapelle einzogen, unterbrach der Zeremonienmeister verblüfft seine Lesung, und die Kardinäle, die noch auf ihren Plätzen saßen und von unserer Intrige nichts ahnten, sahen uns an, stumm, wie versteinert; die einen erblaßten, die anderen wurden rot. Alessandrino, San Sisto, Farnese und der Erzherzog schritten nun auf Montalto zu, und San Sisto sagte mit lauter Stimme:
»Eminenz, wir haben Euch zum Papst gemacht, und ich möchte Euch bitten, den Namen Sixtus anzunehmen.«
»Das werde ich gewißlich tun«, erwiderte Montalto.
Mehr konnte er nicht sagen. Seine Parteigänger schnitten ihm mit dem Ruf »Papa! Papa!« das Wort ab. Sie hatten ihn umringt, um ihn der Reihe nach auf den Mund zu küssen, wie es die Sitte verlangt.
|388|Alessandrino wandte sich an die noch sitzenden Kardinäle, musterte sie mit seinen schwarzen Augen und sagte gebieterisch, beinahe drohend:
»Wollt Ihr abstimmen und Eure Stimmen zählen? Oder wollt Ihr ihn mit uns per acclamationem wählen?«
Die Kardinäle erhoben sich, manche in großer Hast, andere langsamer, aber alle wandten sich schließlich Montalto zu, riefen »Papa! Papa!« und gesellten sich zu den anderen, die ihm bereits huldigten.
Daraufhin wandte ich mich an den Zeremonienmeister, der sprachlos auf seinem Podium stand, noch immer mit den Bullen in der Hand, und flüsterte ihm zu, was er sagen mußte, denn er war so verstört, daß er daran gar nicht gedacht hatte.
Sein Verstand kam langsam in Gang, und er schmetterte sein »Papa! Papa!« so laut und energisch, daß es in der Kapelle widerhallte.
»Eminenzen, ich stelle fest, Ihr habt einstimmig per acclamationem den erlauchten, hochverehrten Kardinal di Montalto zum Papst gewählt. Sowie Seine Heiligkeit einen Papstnamen gewählt hat, wird Seine Eminenz Staatssekretär Kardinal di Medici ihn dem Volke verkünden.«
In dem darauffolgenden allgemeinen Schweigen sagte der Papst fest und deutlich:
»Ich nenne mich Sisto Quinto1.«
Seine Exzellenz Armando Veniero,
Botschafter Venedigs in Rom:
Als das Konklave zu Ende war und die Kardinäle, von ihrer Klausur befreit, mit einem Seufzer der Erleichterung in ihre Marmorpaläste zurückkehrten, packte mich noch nachträglich Entsetzen bei der Vorstellung, daß wir beinahe einen spanischen Papst bekommen hätten. Der Gedanke allein ließ mich erzittern. Wie sollte sich ein spanischer Papst widersetzen, wenn Philipp II. sich anschickte, unsere Halbinsel, von der ihm schon mehr als die Hälfte gehörte, vollends in Besitz zu nehmen? Venedig würde das gleiche Schicksal erleiden wie Mailand, |389|das Königreich Neapel und Sizilien. Und mein geliebtes Vaterland hätte seine verlorene Freiheit, seine Handelsflotte, seinen blühenden Handel mit der ganzen Welt zu beweinen und würde unter dem Joch Spaniens und der österreichischen Generäle stöhnen wie die Niederlande.
Das Ende eines Konklaves ist der Beginn der Indiskretionen. Sowie die Kardinäle in ihre gewohnte Bequemlichkeit zurückgekehrt sind, nehmen sie es offenbar mit der Geheimhaltung nicht mehr so genau. Ich erfuhr von mancherlei Dingen; einige waren von großem politischem Interesse – darüber werde ich schweigen –, andere warfen ein bezeichnendes Licht auf Sitten und Personen. Am meisten amüsierte mich die Bemerkung des hochmütigen Kardinals Alessandrino, als er sich entschloß, Montaltos Kandidatur zu unterstützen: »Warum sollten wir gegen diesen armen Alten stimmen? Er wird in uns seine Meister finden.«
Ich teilte dies – neben anderen, gewichtigeren Dingen – dem Dogen und den Senatoren Venedigs mit, wußte ich doch, wie gern man sich dort auf Kosten der Römer belustigte. Man ergötzte sich so sehr über Alessandrinos Ausspruch, daß ich während des ganzen fünfjährigen Pontifikats von Papst Sixtus V. jedesmal lachend gefragt wurde: »Na, Armando, wie geht es dem armen Alten?«, sobald ich nach Venedig kam, um die Luft der Lagune zu atmen und dem Dogen Bericht zu erstatten.
Der »arme Alte« war nämlich von der ersten Minute seiner Regentschaft an der wahre Meister, und zwar ein gestrenger Meister, vor dem alle zitterten: der Gauner in der Spelunke, die Dirne in der Taverne, der Bandit im Gebirge, der erpresserische Richter, der mit geistlichen Ämtern schachernde Priester, der Ablaßhändler, der unredliche Bankier, der Bischof, der sich nie in seiner Diözese blicken ließ, der Adlige, der den Verbannten Asyl gewährte.
Noch vor seiner Krönung drohte der neue Papst allen die Todesstrafe an, die bei Tage oder nachts in den Straßen Roms mit Feuerwaffen angetroffen wurden. Und als zwei junge Adlige – Brüder – mit umgehängten Radschloßarkebusen herausfordernd durch die Straßen stolzierten, ließ er sie in den Kerker werfen und befahl, auf der Engelsbrücke zwei Galgen zu errichten, an denen die beiden trotz der flehentlichen Bitten der Kardinäle und der einflußreichsten römischen Familien gehängt wurden.
|390|Seine Unnachgiebigkeit blieb nicht ohne Wirkung, und ich konnte ihre Folgen vom Fenster meines Zimmers aus sehen. Es lag nämlich zum Tiber hinaus, und zu Zeiten Gregors XIII. rief mein venezianischer Kammerdiener jeden Morgen beim Aufziehen der Vorhänge: »Wieder eine Leiche im Wasser, Exzellenz! Noch eine! Und noch eine! Diese Stadt ist eine Mördergrube!« Ich weiß nicht, wohin die Mörder nach dem Regierungsantritt Sixtus’ V. verschwunden sind, aber die Zahl der im Tiber Ertränkten ist tatsächlich bedeutend zurückgegangen, wenngleich es immer noch einige gibt.
Kurz nach der Thronbesteigung des neuen Papstes erzählte mir Kardinal di Medici von einer Begebenheit, die ihm für den neuen Herrn bezeichnend zu sein schien. Als er eines Tages in seiner offenen Kutsche durch Rom fuhr, sah er, wie sich zwei anständig gekleidete Männer mit seltener Wildheit auf offener Straße prügelten. Er ließ halten, erkundigte sich nach dem Grund des Streites und erfuhr, daß es sich um zwei Diener Kardinal San Sistos handelte. Sie waren aneinandergeraten, weil sie sich in dieselbe Frau verliebt hatten. Medici, der die Frauen so erbittert haßt, daß er ihren bloßen Anblick kaum erträgt, zumal wenn sie schön sind, erschien der Anlaß für diesen erbarmungslosen Zweikampf geradezu lächerlich. Er nutzte eine Verschnaufpause der beiden Kontrahenten, die sich mit haßerfüllten Blicken maßen, um jedem von ihnen zehn Piaster anbieten zu lassen, wenn sie sich versöhnen oder zumindest von der Schlägerei ablassen würden. Der Vorschlag wurde von beiden sofort abgelehnt, und der Kampf begann aufs neue.
Schließlich warf einer den Gegner zu Boden, preßte dem Unglücklichen das Knie auf die Brust, packte ihn an der Gurgel und bedrohte ihn mit dem vorgehaltenen Stilett. Die Umstehenden schrien entsetzt auf, alles hielt den Atem an. Da ließ der Mann plötzlich von seinem Opfer ab, steckte das Messer in die Scheide zurück und sagte:
»Bedanke dich bei Papst Sixtus! Ich habe zu große Angst vor ihm, sonst hätte ich dir jetzt die Kehle aufgeschlitzt.«
»Wäre dir das eher eingefallen«, sagte Medici, bei dem unter dem großen Herrn immer wieder der Bankier zum Vorschein kam, »so hättest du jetzt zehn Piaster gewonnen …«
Er verweilte noch, um die Kommentare der Zuschauer zu hören, die ihm sehr bezeichnend erschienen. Alle gaben dem |391|Manne recht, der das Leben seines Feindes verschont hatte. Ein Papst, der zwei junge Adlige hängen läßt, weil sie mit einer Arkebuse angetroffen werden, wird nicht nur gefürchtet, sondern auch respektiert. Aus tiefstem Herzen bewunderte das Volk einen so schnellen Urteilsspruch ohne Ansehen der Person.
Medici war einer von den Kardinälen, die für die Wahl Sixtus’ V. am meisten getan hatten. Unfähig, einen Charakter dieses Kalibers wirklich zu verstehen, war er aber gleichwohl von der Kraft und Strenge dieses großen Papstes überrascht, der rigoros den Verfall der Sitten bekämpfte, wie er für den Zustand von Staat und Kirche unter dem letzten Pontifikat so bezeichnend gewesen war.
Medici war sehr scharfsinnig. Doch da er hartherzig und gefühlsarm war, liebte er nichts und niemanden. Das Gute war ihm ebenso gleichgültig wie das Böse. Er betrachtete beides nur als Mittel zum Zweck, und sein einziger Lebenszweck war die Macht, oder das Geld – jene andere Form der Macht. Er hatte überhaupt kein Verständnis für einen Mann wie Sixtus V., der sein Amt nur dazu nutzte, Mißbrauch und Ungerechtigkeit wirksamer zu bekämpfen. Der fünfundsechzigjährige Sixtus war immer noch der Franziskaner mit dem reinen Herzen, der im Alter von zwanzig Jahren in dem festen Entschluß Mönch geworden war, dem Guten auf Erden zum Siege zu verhelfen, wo immer die göttliche Vorsehung ihn hinstellen würde.
Es war noch keine Woche seit der Thronbesteigung des neuen Papstes vergangen, als mir ein Diener aus Montegiordano ein Billett des Fürsten Orsini überbrachte, der mich bat, ihn zu empfangen. Wie ich hörte, konnte er nur unter großen Schmerzen laufen, und so sandte ich ihm ein paar Zeilen des Inhalts, ich würde noch selbigen Tages nach Montegiordano kommen.
Bei seinem Anblick erschrak ich: wie sehr hatten sich seine Züge verändert, wie mühsam bewegte er sich!
»Armando«, sagte er, nachdem er mir zu trinken angeboten hatte (obwohl wir erst Anfang Mai schrieben, war es sehr heiß), »ich möchte, daß du eine Audienz bei Sixtus V. für mich erbittest.«
»Verzeih, Paolo«, antwortete ich, »du bist ein großer Fürst im Staat. Warum bittest du nicht selbst darum?«
»Ich möchte, daß du bei der Unterredung zugegen bist, |392|Armando, als mein Beschützer, zumindest solange wir im Vatikan sind.«
»Aber warum gerade ich, Paolo?«
Der Schatten eines Lächelns umspielte seine Lippen.
»Möchtest du, daß ich Graf Olivares bitte, mich zu begleiten, carissimo?«
»Gottbewahre!« lachte ich. »Im Klartext also: du erwartest Bürgschaft und Geleitschutz vom Botschafter Venedigs, ja? Du befürchtest, wenn du erst einmal im Vatikan bist, ihn nicht wieder ungehindert verlassen zu können?«
»So ist es.«
»Ich sehe das anders. Sixtus V. hat zweifellos Della Paces Bericht gelesen. Wie könnte er danach noch glauben, du trügest Schuld an der Ermordung seines Neffen?«
»Das ist es auch nicht, was ich fürchte. Doch ich habe gegen seinen Vorgänger zu den Waffen gegriffen. Sixtus V. hat einigen Grund, mich als einen Rebellen anzusehen. Und vor allem habe ich, trotz seiner Strafandrohung, die Verbannten noch nicht von meinem Hof gewiesen.«
»Verzeih, carissimo, aber ist das nicht ein bißchen unvernünftig?«
»Ich fühle mich diesen Leuten in gewisser Weise verpflichtet, denn ich habe ihnen meinen Schutz zugesichert.«
»Den aber nicht alle verdienen …«
»Das ist richtig. Doch wie soll ich sie jetzt vor die Tür setzen, ohne die Zusicherung zu haben, daß sie nicht sogleich eingekerkert werden?«
»Und diese Zusicherung hast du vom Papst verlangt?«
»Ja, in einem Brief, den er nicht beantwortet hat. Außerdem hat es ihm gewiß nicht sehr gefallen, daß ich die Zeit des Interregnums genutzt habe, um Vittoria wieder zu heiraten.«
Ich überlegte einen Moment. Dann sagte ich:
»Deine Befürchtungen, Paolo, scheinen mir unbegründet zu sein. Wenn du jedoch auf deiner Bitte bestehst …«
»Ich bleibe dabei.«
»… muß ich sie in Venedig vortragen.«
»Aber dann geht so viel Zeit verloren!« rief er.
Und plötzlich erschienen mir sein Blick und seine Stimme so herzzerreißend traurig, daß ich mich fragte, ob er nicht seine Tage für gezählt halte. Um meine Bestürzung zu verbergen, |393|steckte ich die Nase in meinen Becher und trank in kleinen Schlückchen meinen Wein.
»Du hast recht«, sagte ich nach einer Weile. »Die Angelegenheit der Serenissima zu unterbreiten würde zuviel Zeit kosten. Und ich vermute, daß es dich bei dieser Hitze drängt, Rom zu verlassen und mit deiner Gattin den kühlen Schatten von Bracciano zu genießen. Also gut, Paolo, die Sache ist abgemacht. Noch heute werde ich beim Heiligen Vater um eine Audienz für uns nachsuchen.«
Ich trug meine Bitte am 2. Mai – dem Morgen nach meinem Gespräch mit dem Fürsten – vor, und noch am selben Tag, um fünf Uhr nachmittags, überbrachte mir ein Bote des Vatikans die Antwort: der Heilige Vater werde mich und den Fürsten Paolo Giordano Orsini am 3. Mai um zehn Uhr vormittags empfangen.
Eilig schickte ich einen Diener zu Paolo, um ihn zu informieren und ihm ausrichten zu lassen, ich würde ihn am 3. Mai um neun Uhr morgens mit meiner Kutsche in Montegiordano abholen. In seiner eigenen Kutsche konnte nämlich der Fürst seit seiner Rückkehr aus Bracciano nicht mehr durch Rom fahren, ohne mit Steinen beworfen zu werden, so groß war der Volkszorn. Gewiß, unter dem neuen Papst herrschte wieder Ordnung auf den Straßen Roms, und Steinwürfe waren nicht mehr zu gewärtigen. Aber wer könnte wohl die Römer – und erst recht die Römerinnen – je daran hindern, dem vorbeifahrenden Fürsten Schimpfwörter oder gar faule Früchte an den Kopf zu werfen?
Wir fuhren also in meiner Kutsche zum Vatikan, die Fenster geschlossen, die Vorhänge zugezogen. Paolo war bleich. Die geringste Bewegung strengte ihn sehr an, und beim Treppensteigen mußte er sich auf mich und seinen Sekretär stützen.
Es war noch keine Woche seit der Krönung des Papstes vergangen, doch sein Regierungsstil war schon deutlich zu spüren. Im Gegensatz zu seinem lässigen Vorgänger schob Sixtus V. keine Entscheidung jemals auf die lange Bank. Und war sie einmal getroffen, nahm er sie nie mehr zurück. Audienzersuchen wurden innerhalb von achtundvierzig Stunden beschieden. Fiel die Antwort negativ aus, war es zwecklos, den Antrag zu wiederholen. War sie jedoch positiv, begann die Audienz pünktlich zur festgesetzten Stunde, und man wurde vom Kammerherrn |394|darauf hingewiesen, daß die zugemessene Zeit nicht überschritten werden dürfe.
Sixtus V. änderte zwar nicht das umständliche Begrüßungszeremoniell, kürzte es jedoch ab. Und wie ich bei diesem ersten Empfang feststellen konnte, hatte er seine ganz eigene Art, den sinnentleerten, langatmigen Beteuerungen und geschraubten Komplimenten Einhalt zu gebieten.
Er empfing uns am 3. Mai Schlag zehn Uhr. In sich zusammengesunken, saß er in eindrucksvoller Bewegungslosigkeit auf seinem Thron; im Kontrast dazu wirkte sein scharfer Blick, den er vom Fürsten Paolo zu mir wandern ließ, um so lebhafter.
»Herzog«, sagte er laut und sehr deutlich, »mit Rücksicht auf den Zustand Eures Beines erlasse ich Euch das Niederknien und das Küssen meines Pantoffels. Setzt Euch auf diesen Schemel und tragt mir Euer Anliegen vor.«
Den Dispens hätte man für eine Aufmerksamkeit halten können, wäre er in einem anderen Ton erteilt worden, von einem anderen Blick begleitet gewesen. Im Klartext hieß dieser Dispens nichts anderes als: hinknien in Euerm Zustand, das würde zuviel von meiner kostbaren Zeit in Anspruch nehmen, kommen wir also zur Sache.
Dieser Beginn verwirrte den Fürsten, und er zögerte kurz, ehe er, so unverblümt dazu aufgefordert, »sein Anliegen vortrug«. Er hatte wahrscheinlich eine kleine höfliche Ansprache auswendig gelernt, und als er nun spürte, daß sie nicht mehr angebracht war, wußte er nicht, wie er beginnen sollte.
Er drückte dem Papst eingangs seine aufrichtigsten und respektvollsten Wünsche für das »sehr hohe und sehr erhabene Amt aus, das Euch zuteil geworden«, und fuhr dann fort:
»Allerheiligster Vater, ich bin gekommen, Euch als dem Herrn der Christenheit und meinem Herrscher Treue und Gehorsam zu geloben und als Euer ergebener Diener und Vasall Euch all meine Güter und meine ganze Kraft zur Verfügung zu stellen …«
»So viel verlange ich gar nicht von Euch, Herzog«, sagte Sixtus V.
Diese Unterbrechung bereitete dem Fürsten großes Unbehagen; er schwieg bestürzt, und auf seiner Stirn perlte der Schweiß.
»Fahrt fort!« befahl der Papst.
»Die Beziehungen des Hauses Orsini zum Herrscher über |395|Rom sind so alt und so gut bekannt, daß sie keiner Erwähnung bedürfen«, sagte der Fürst, als ob er eine Lektion herbete. »Ich möchte jedoch mit Dankbarkeit daran erinnern, daß meine Besitzung Bracciano durch Euern erlauchten Vorgänger zum Herzogtum erhoben worden ist.«
»Eure Dankbarkeit habt Ihr damit bewiesen, daß Ihr eine Revolte gegen ihn angezettelt habt«, sagte der Papst mit beißender Ironie.
Der Schlag war so direkt und so brutal, daß der Fürst endlich begriff: er muß die »Formen« beiseite lassen und dem Papst mit Fakten die Stirn bieten.
»Allerheiligster Vater«, sagte er, nicht ohne Festigkeit, »ich habe keine Revolte angezettelt. Ich habe mich der Revolte der Nobili angeschlossen, um eine Ungerechtigkeit zu beheben; und sowie das geschehen war, habe ich die Rebellion des Pöbels niedergeschlagen.«
»Das stimmt«, sagte Sixtus V. »Aber Ihr wart gar nicht befugt, das Unrecht, von dem Ihr sprecht, zu beheben, da Ihr in keinem Verwandtschaftsverhältnis zu der eingekerkerten Person standet.«
»Dennoch gab es eine Bindung zwischen dieser Person und mir«, erwiderte der Fürst mutig. »Wir wurden beide eines Verbrechens beschuldigt, das wir nicht begangen hatten.«
»Von Eurer Unschuld reden wir später«, sagte der Papst und schaute auf die Uhr. »Tragt jetzt Eure Bitte vor, und faßt Euch kurz.«
»Nun gut«, sagte der Fürst, dem dieses Wortgefecht einiges von seiner Kraft zurückgegeben hatte. »Nach dem Tode Gregors XIII. waren mehrere Theologen der Meinung, das mir im precetto auferlegte Verbot einer Wiederheirat sei nicht mehr gültig. Daher habe ich Vittoria Accoramboni zum zweiten Mal geehelicht. Ich bitte Euer Heiligkeit untertänigst, es bei dieser Sachlage zu belassen.«
»Nehmt meine Antwort darauf«, sagte Sixtus V. laut und entschieden mit einem gebieterischen Blick auf den Fürsten. »Primo, die Theologen, von denen Ihr sprecht, haben teils aus Überzeugung, teils aus Habgier eine Meinung bekundet, für die sie sich heute mit der Beschwerde entschuldigen, sie seien eingesperrt gewesen. Das nenne ich scheinheilig. Denn sie hätten diesem Zwang leicht entgehen können, wenn sie gar nicht erst |396|dem Rufe nach Montegiordano gefolgt wären, war doch der Zweck dieser Zusammenkunft nur allzu offensichtlich. Secundo, sie waren in keiner Weise befugt, über diese Angelegenheit zu urteilen, und ich werde ihren Rat nicht berücksichtigen.«
Ich sah den Fürsten auf seinem Schemel schwanken und so bleich werden, daß ich eine Ohnmacht befürchtete. Leider saß ich zu weit von ihm entfernt, um einen Sturz verhindern zu können, der wegen seines kranken Beins zweifellos fatal gewesen wäre. In diesem Moment empfand ich großes Mitleid mit ihm: die Worte des Heiligen Vaters schienen alle seine Hoffnungen zunichte zu machen.
»Was das precetto betrifft«, fuhr der Papst fort, »so muß man unterscheiden zwischen denen, die das Gesuch zur Auflösung des Ehebundes eingereicht haben, und demjenigen, der es bewilligt hat. Erstere taten es wegen einer schmutzigen Erbschaftsangelegenheit, und letzterer hat sich von Ressentiments leiten lassen. Mehr sage ich dazu nicht.«
Meiner Meinung nach hatte er schon genug gesagt! Er hatte, ohne ihre Namen zu nennen, Medici und Gregor XIII. nicht geschont. Natürlich, Gregor war tot, und Medici brauchte den Papst viel zu nötig, als daß er versuchen würde, ihm zu schaden. Je länger ich den Charakter Sixtus’ V. beobachtete, um so größer wurde meine Bewunderung für ihn. Er erinnerte mich an meinen eigenen Vater, der ein knappes Jahr vor seinem Tode Doge von Venedig geworden war und es verstanden hatte, je nach Gelegenheit mit subtiler Diplomatie oder mit brutaler Offenheit vorzugehen.
Das Gesicht des Fürsten hatte wieder Farbe bekommen; offensichtlich schöpfte er neuen Mut, als er aus allerhöchstem Munde so harsche Kritik an seinen Feinden vernahm.
»Nun zu Eurer Unschuld, Herzog«, fuhr der Papst fort, »einer Unschuld, die Ihr ein weiteres Mal beteuert habt und die zwei Seiten hat – eine helle und eine dunkle.«
»Eine dunkle, Euer Heiligkeit?« fragte der Fürst unwillig.
»Ihr werdet alsbald Gelegenheit zur Antwort haben, Herzog«, schnitt ihm Sixtus das Wort ab. »In einem Punkt stimme ich Euch zu: es fehlt in der Tat jeder Beweis dafür, daß Ihr etwas zu tun hattet mit der Ermordung von …«
Zweifellos wollte er sagen »von meinem Neffen« oder »von meinem unglücklichen Neffen«, aber er fuhr unbewegt fort:
|397|»… von Francesco Peretti. In diesem Punkt werdet Ihr in dem Bericht des armen Della Pace ausdrücklich entlastet. Und aus der Aussage des vormaligen Mönchs, den Ihr zu mir geschickt habt und der mir ein umfassendes Geständnis abgelegt hat – viel umfassender, als Ihr ahnen konntet –, geht hervor, daß dieser Mord von einem Eurer Verwandten, einem Erztaugenichts, skrupellos geplant worden war mit der Absicht, meiner ...«
Auch an dieser Stelle bewahrte der Papst seine Fassung und fuhr mit Anstrengung fort:
»… Vittoria Peretti zu schaden. Soweit zur hellen Seite. Und nun zu der dunklen Seite. Es steht leider außer Zweifel, daß der von mir erwähnte Bandit die Ermordung Perettis niemals geplant hätte, wenn er nicht von Eurer verhängnisvollen Leidenschaft für dessen Frau gewußt hätte. Denn Ihr habt – um den Dekalog zu zitieren – Eures Nächsten Weib begehrt, Herzog, Ihr habt sie mit Briefen umworben, habt sie mit Eurer nicht nachlassenden Aufdringlichkeit verfolgt und habt sie schließlich in ihrer Schwachheit zu schuldhaften Begegnungen verleitet: erst in Santa Maria, dann in der Villa Sorghini in Rom …«
Sixtus V. sah den Fürsten durchdringend an und machte eine Pause, als wolle er ihm Zeit zum Antworten lassen. Doch das Schweigen dauerte eine gute halbe Minute – und das ist lange, wenn es auf konkrete Anschuldigungen folgt –, ohne daß der Fürst das Wort ergriff. Er schien verwirrt. Wie er mir später sagte, erkannte er in diesem Moment, daß der entlaufene Mönch im Dienste Lodovicos nicht nur Peretti in die Falle gelockt, sondern zuvor schon seine eigenen Rendezvous mit Vittoria ausspioniert hatte. Die Zeugenaussage des Mönchs war mithin eine zweischneidige Sache: sie hatte den Fürsten zwar von dem Mordverdacht entlastet, ihn zugleich aber des Ehebruchs überführt.
»Wir haben nicht mehr viel Zeit«, fuhr der Papst nach einem zweiten Blick auf die Uhr fort. »Deswegen möchte ich abschließend feststellen: Ihr seid nicht schuldig an der Ermordung Francesco Perettis, aber Ihr seid mit Sicherheit indirekt dafür verantwortlich, Herzog.«
Sixtus V. machte abermals eine kleine Pause, damit der Fürst ihm antworten könne. Doch dieser war wie gelähmt und keines Wortes mächtig. Nach den Theologen, nach Medici und nach |398|Gregor XIII. war nun er an der Reihe, abgekanzelt zu werden, so daß er das Schlimmste befürchten mußte – nicht nur die Annullierung seiner zweiten Ehe.
»Wir sprechen nicht als Euer Feind zu Euch, Herzog«, fuhr der Papst mit lauter Stimme fort, jedes Wort betonend. »Wir wollen weder Euren Besitz noch Eure Titel, wir trachten nicht nach Eurer Freiheit und schon gar nicht nach Eurem Leben. Wir meinen, daß das Sakrament der Ehe in dem Willen der beiden Gatten, einander anzugehören, begründet liegt – ein Wille, der in vorliegendem Fall auf beiden Seiten nicht angezweifelt werden kann – und werden kein precetto zur Annullierung Eurer zweiten Ehe erlassen. Aber wir erwarten, daß Ihr uns ein ›getreuer und gehorsamer Diener‹ seid, um Euch zu zitieren. Wir nehmen Euch beim Wort! Wir hatten Euch befohlen, diejenigen Personen aus Montegiordano zu verweisen, denen Ihr kraft eines Rechts, das wir niemandem zubilligen, Asyl gewährt habt. Wir wiederholen diesen Befehl hiermit und erwarten, daß Ihr ihm innerhalb von vierundzwanzig Stunden Folge leistet.«
»Allerheiligster Vater, ich habe Euch zu diesem Problem geschrieben: es scheint mir mit meiner Ehre unvereinbar, diese Männer dem Bargello auszuliefern«, sagte der Fürst fest.
»Herzog«, rief Sixtus V. noch lauter und sah ihn mit einem schrecklichen Blick an, »vor allem wäre es mit Eurer Ehre unvereinbar, Euerm Herrscher den Gehorsam zu verweigern! Seid um die Leute, die bei Euch Asyl gefunden haben, unbesorgt; wir wissen zwischen den Verbannten und den Banditen genau zu unterscheiden. Erstere sind im allgemeinen ehrenhafte Personen, die das Unglück hatten, aus verschiedenen Gründen das Mißfallen meines Vorgängers zu erregen. Die meisten wird man nach gründlicher Prüfung ihres Falles amnestieren. Die Banditen aber werden, falls ihre Verbrechen sich bestätigen, mit einer Schlinge um den Hals zum letzten Mal ihren Blick gen Himmel richten.«
»Euer Wille geschehe, Allerheiligster Vater«, sagte der Fürst und senkte den Kopf zum Zeichen der Unterwerfung.
»Wann?«
»Schon morgen, noch vor Mittag.«
»Sehr gut. Ein letztes Wort: Wir haben gehört, daß eine Wunde am Bein Euch heftige Schmerzen verursacht. Wir raten Euch zu einer Badekur in Albano bei Padua; die Stadt gehört zu |399|Venedig, und auf Grund Eurer ruhmvollen Vergangenheit im Dienste der Serenissima werdet Ihr dort nur Freunde antreffen.«
Der Fürst fuhr hoch: »Wie darf ich Eure Worte verstehen, Allerheiligster Vater? Heißt das: Exil?«
»Mitnichten. Es ist ein dringlicher Rat, dessen Befolgung wir von Euch erwarten. Wir verabscheuen nicht Euch als Person, Herzog, doch wir verabscheuen die Unordnung, die Eure Leidenschaft in den Staat hineingetragen hat. Und wir möchten, daß diese Unordnung ein wenig in Vergessenheit gerät.«
Sixtus V. straffte seinen mächtigen Oberkörper, die Hände auf die Armlehnen des Sessels gestützt. Er hob den schweren Kopf, sah den Fürsten scharf an und sagte in einem Ton, der unmißverständlich ausdrückte, daß er am Ende dieser Audienz weder Dankesbezeigungen noch Ergebenheitsbekundungen noch ehrerbietige Abschiedsfloskeln erwarte:
»Unsere Unterredung ist beendet, Herzog.«
Giuseppe Giacobbe,
Vorsteher des römischen Gettos:
Als im Jahre 1585 Sixtus V. den Thron bestieg, dieser große, dieser edle Papst, der wahrlich vom Geiste Adonais erfüllt ist, obgleich er sich wie sein ganzes Volk zur christlichen Irrlehre bekennt, da waren wir Juden im Kirchenstaat ein Vierteljahrhundert lang schlimmer verfolgt worden als je zuvor. Papst Pius V. war 1569 sogar so weit gegangen, alle Juden zu vertreiben – nur in Rom und Ancona durften wir bleiben –, und hatte seine beispiellose Härte auf die Spitze getrieben, indem er ihnen eine Frist von nur drei Monaten setzte; wer bis dahin nicht gegangen war, riskierte Bestrafung, Enteignung und Kerker.
Dieses schlechte Beispiel seines höchsten Herrschers weckte im Volk die jahrhundertealte Feindseligkeit gegen uns Juden. Und man soll nicht etwa glauben, daß wir in Ancona und Rom, wo wir geduldet wurden, vor den Diskriminierungen, Beschimpfungen und Erniedrigungen, wie wir sie seit jeher unter den Gojim erleiden, sicher waren.
Wer nicht Besitzer seines Wohnhauses war, mußte von einem Tag auf den anderen den doppelten Mietzins zahlen. Das Gelände für unsere Friedhöfe wurde uns fortan noch knapper zugemessen. |400|Das Recht, unseren Glauben auszuüben, wurde weiter eingeschränkt. Der gelbe Kaftan war Vorschrift, sowie wir das Getto verließen. Unsere Steuern wurden erhöht. Unsere jüdischen Ärzte – gewiß die besten in Rom – waren in christlichen Häusern nicht zugelassen; unser Handel wurde auf jede erdenkliche Weise behindert; unsere Streitfälle wurden vor Sondergerichten behandelt, die unweigerlich unserem Gegner recht gaben, sofern er ein Christ war.
Schikanen waren unser täglich Brot. Die Fleischer weigerten sich, uns Fleisch zu verkaufen, oder gaben uns Schweinefleisch statt des verlangten Rindfleisches und riefen, wenn wir es zurückwiesen, die Sbirren. Man machte in Rom sogar noch boshafte Witze darüber: »Was ist der Unterschied zwischen einem jüdischen und einem christlichen Hund?« – »Der jüdische ist fetter, weil er das ganze Schweinefleisch frißt, das sein Herr zu kaufen gezwungen wird.«
Gregors XIII. war uns nicht besser gesinnt als Pius V., aber da er von Natur aus träge war und alles schleifen ließ, wurden die uns Juden betreffenden Sondermaßnahmen unter seinem Pontifikat etwas lockerer gehandhabt. Was nun den neuen Papst anbelangt, so will ich hier berichten, auf welch ungewöhnliche Art ich ihn kennenlernte.
Es ist typisch für die Juden, daß es immer welche gibt, die jüdischer sein wollen als die anderen. Und so beschlossen einige kurz nach der Thronbesteigung des neuen Papstes, den Talmud zu drucken und zu verbreiten – an sich eine gute Sache; weniger gut war jedoch, daß dafür die Erlaubnis des Vatikans eingeholt werden mußte …
Ich wies vergebens auf die Unsinnigkeit dieses Unterfangens hin. Wie konnte der Vatikan, der die Ausübung unserer Religion verboten hatte, die Verbreitung eines unserer heiligen Bücher genehmigen, hatte er doch anläßlich des Rombesuchs von Michel de Montaigne dessen ganz und gar nicht ketzerische »Essais« beschlagnahmen und zensieren lassen.
Es war alles umsonst. Meine Warnungen fruchteten nichts. Je mehr ich argumentierte, desto mehr erhitzten sich die Eiferer. Schließlich beschuldigten sie mich geradezu: »Paß auf, Giacobbe, daß dir nicht aus lauter Vorsicht und Feigheit noch dein jüdischer Glauben abhanden kommt!«
Gegen meinen Willen und ohne mich stellten sie ihren unsinnigen |401|Antrag im Vatikan. Der junge Kardinal Santa Severina nahm ihn entgegen und empörte sich so sehr über die »unglaubliche Kühnheit« der Juden, wie er es nannte, daß er den neuen Papst aufforderte, die Bittsteller der Inquisition zu übergeben.
Ich und alle anderen Bewohner des Gettos erschraken zutiefst. So dumm die Eiferer waren, sie blieben unsere Brüder. Und wenn sie auf dem Scheiterhaufen verbrannt würden, könnte das leicht zu neuerlichen Judenverfolgungen führen. Die Erfahrung hat es zur Genüge bewiesen: auf jeden Juden, der öffentlich den lodernden Flammen überantwortet wird, kommen zehn weitere, die von Fanatikern auf dunkler Straße erdolcht werden.
Selbst unsere Eiferer waren von Entsetzen gepackt, kamen mit eingezogenem Schwanz zu mir und baten, ich möge mich beim Papst für sie verwenden. Diese gute Gelegenheit, sie zurechtzuweisen, ließ ich mir nicht entgehen.
»Was mußtet ihr armen Dummköpfe auch solch ein großes Risiko mit so wenig Aussicht auf Erfolg eingehen? Wir haben noch zwanzig Exemplare des Talmud in der hervorragenden venezianischen Ausgabe. Und wer von uns beherrscht das Hebräische oder Aramäische gut genug, um das Buch lesen zu können? Vielleicht ein Dutzend Rabbiner und Doktoren! Mit eurem Antrag für eine Neuausgabe habt ihr den Vatikan nur auf den Gedanken gebracht, wir wollten andere zu unserem Glauben bekehren – was wir nicht tun und nie getan haben! Der einzige Grund, weswegen die Gojim uns unter sich dulden! Sonst hätte uns schon lange das gleiche Schicksal ereilt wie die Lutheraner.«
Da hub großes Wehklagen, Weinen und Jammern an. »Giacobbe! Giacobbe! Du darfst uns jetzt in unserem Unglück nicht verlassen! Du bist unser Vorsteher!«
»Ein Vorsteher, den ihr einen Feigling genannt habt! Und was verlangt ihr nun von mir? Vor den Papst zu treten, mich als Sündenbock darzubieten und alle Konsequenzen eurer Dummheit auf mich zu nehmen! Noch dazu, wo von diesem Papst bekannt ist, daß er Großinquisitor in Venedig war und sein Leben lang dem Gericht des Heiligen Offiziums angehört hat: das spricht für seine Milde, nicht wahr!«
Nach dieser Strafpredigt verdoppelten sie ihr Flehen, in das auch die Eltern, Frauen, Kinder, Verwandten und Nachbarn mit |402|einstimmten und warum nicht gar – da man schon einmal dabei war – die Säuglinge an der Mutterbrust; all die Leute fielen plötzlich in mein Haus ein, schrien, weinten, rissen sich das Haar aus, rauften sich den Bart, zerfetzten ihre Kleider (oder taten wenigstens so), warfen sich mir zu Füßen, ergriffen meine Hände und versicherten mich ihrer ewigen Dankbarkeit.
Da tat ich das, wozu ich von Anfang an entschlossen war – und im Grunde ihres Herzens wußten alle, daß ich dazu entschlossen war –, denn ich bin ihr Vorsteher und habe meine Pflichten ihnen gegenüber niemals verletzt: ich bat um eine Audienz beim Papst.
Sie wurde mir achtundvierzig Stunden später mit der Maßgabe gewährt, daß Sixtus V. mich nicht öffentlich, sondern privat empfangen werde und ich durch einen Seiteneingang eintreten solle, was ich mit Zittern und Zagen tat, ahnte ich doch nicht, welches Schicksal mich in der Hochburg meiner Glaubensfeinde erwartete. Denn wer war ich schon in diesem Augenblick, verloren in dem Labyrinth des gewaltigen Palastes, in dem mir selbst die Mauern feindlich schienen: ein furchterfüllter kleiner alter Jude im langen gelben Kaftan, mit graumeliertem Bart, der Schädel unter meinem Käppchen feucht von Angstschweiß.
Sixtus V. empfing mich in einem einfachen kleinen Raum, in dem wir uns allein befanden, abgesehen von einem Monsignore, einem recht gutaussehenden Mann, der offenbar stumm war, denn er verständigte sich mit dem Papst nur durch Zeichen. »Seine Heiligkeit«, wie ihn die Gojim nennen, saß nicht auf einem Thron, sondern auf einem einfachen Sessel, der Monsignore stand zu seiner Rechten.
»Nehmt auf diesem Schemel Platz, Giacobbe!« befahl mir der Papst in barschem Ton. »Und hört bitte auf zu zittern! Ich bin kein gefräßiges Ungeheuer, sondern ein Mensch wie Ihr! Ich friere, wenn es schneit; mir ist heiß in den Hundstagen; wenn meine Hand mit einer Flamme in Berührung kommt, verbrenne ich mich! Ich leide an den gleichen Krankheiten wie Ihr! Und ich bin genauso sterblich wie Ihr! Sagt mir also in kurzen Worten Euer Anliegen.«
Ich berichtete ihm von dem Antrag unserer Eiferer.
»Welchen Talmud?« fragte er lebhaft. »Den aus Jerusalem oder den aus Babylon?«
»Den aus Babylon.«
|403|»Wenn ich mich nicht irre, wurde er 1520 bereits von einem christlichen Verleger in Venedig herausgegeben?«
»Ja, aber diese Ausgabe ist vergriffen, Allerheiligster Vater.«
»Dann bittet den Verleger oder seine Nachkommen, einen Neudruck herauszubringen. Wenn die Serenissima es Euch erlaubt, sehen wir keinen Hinderungsgrund. Nur Ignoranten behaupten, es gebe im Talmud Passagen gegen die christliche Lehre. Wir berufen uns auf die Meinung des Gelehrten Reuchlin, der, weil er Hebräisch und Aramäisch beherrscht, die beiden Fassungen des Talmud sehr aufmerksam gelesen und nie irgend etwas darin entdeckt hat, das den christlichen Glauben verletzen könnte.«
»Wollte der Himmel, Allerheiligster Vater, daß Seine Eminenz Kardinal Santa Severina Eure Sicht der Dinge teilen möge!« wagte ich daraufhin zu sagen.
»Unwichtig, ob er sie teilt oder nicht«, sagte Sixtus V. und tauschte ein Lächeln mit dem stummen Monsignore. »Wir haben ihm diese Sache aus den Händen genommen. Und um zu verhindern, daß der Großinquisitor sich damit befaßt, haben wir den Talmud der Kongregation für den Index zur Prüfung überantwortet. Will heißen, wir haben ihn Blinden zu lesen gegeben, denn kein Mitglied der Kongregation kann Hebräisch …«
Diese Worte begeisterten mich in zweifacher Hinsicht: zunächst, weil sie meine Befürchtungen ob einer neuen Verfolgung zerstreuten, und zweitens, weil mir der Papst mit seiner List – »das Buch Blinden zu lesen zu geben« – an eine bestimmte biblische Tradition anzuknüpfen schien. Von nun an setzte ich die größten Hoffnungen in diesen Herrscher, der unter seinem rauhen Äußeren so viel Geist und so viel Menschlichkeit verbarg – und Wissen, sollte ich hinzufügen, denn im Unterschied zu Santa Severina hatte Sixtus V. den Christen Reuchlin gelesen und fiel deshalb nicht auf die von den Böswilligen erfundenen und von den Unwissenden kolportierten Lügen über den Talmud herein.
Meine Hoffnungen wurden nicht enttäuscht: kurze Zeit später verkündete der Papst seine Bulle »Christiana Pietas«, die den Status der jüdischen Gemeinde im Kirchenstaat in mehrfacher Hinsicht zu unserem Vorteil veränderte. Das Wohnrecht wurde uns für alle Städte, nicht nur für Rom und Ancona, zugestanden. Noch erstaunlicher war, daß uns die Bulle die Freiheit der Religionsausübung |404|zuerkannte und uns die Möglichkeit gab, Synagogen zu bauen und neue Friedhöfe anzulegen. Unsere Prozesse und Streitsachen wurden nicht mehr einem Sondergerichtshof, sondern normalen Gerichten übertragen. Zu unserer großen Erleichterung wurde es uns erlassen, auf Reisen oder Messen und Märkten den gelben Kaftan tragen zu müssen, wo er uns zur Zielscheibe der übelsten und unfreundlichsten Behandlung seitens der Kunden und unserer Konkurrenten machte. Und schließlich erhielten die jüdischen Ärzte, die die Lehre von Galenus und Hippokrates nicht nur durch die traditionelle jüdische, sondern auch durch die arabische Medizin aus Andalusien bereichert hatten, die seit langem erbetene, bisher aber stets verweigerte Genehmigung, christliche Kranke zu behandeln.
Diese Bulle wurde durch ein bando1 ergänzt, von Staatssekretär Rusticucci verfaßt, aber von Sixtus V. inspiriert, das es den Untertanen des Papstes unter Androhung von Geldstrafen verbot, uns zu beschimpfen, zu demütigen, zu schlagen oder zu bespucken. Zwei weitere Bestimmungen dieses bando nahmen eine große Last von mir: den Hausbesitzern wurde untersagt, den Mietzins zu verdoppeln, wenn sie an Juden vermieten, und den Fleischern, uns anderes als das von uns verlangte Fleisch zu verkaufen. Wer das bando umgehen und uns weiter schikanieren wollte, wurde von uns beim Bargello angezeigt und sofort bestraft.
Da wir im Getto über alles unsere Witze machen, war es damals üblich, auf die Frage »Wie geht’s?« zu antworten: »Gut! Wie du siehst, magert mein Hund ab.«
Wir waren sehr froh, daß die Zeit der schlimmen Heimsuchungen vorbei war, und die Honoratioren des Gettos versammelten sich unter meinem Vorsitz, um zu überlegen, was wir diesem aufgeklärten Papst zum Zeichen unserer Dankbarkeit schenken könnten.
Da unser Volk für Erörterungen und Streitgespräche eine besondere Begabung hat, wurde leidenschaftlich palavert, aber nachdem wir das Für und Wider lange abgewogen hatten, kamen wir zu dem Schluß, das einzige Geschenk, welches das Oberhaupt der Christen von uns annehmen könnte, wäre ein reich verziertes Brustkreuz.
|405|Sobald diese Entscheidung – ohne mein Zutun! – gefallen war, erhielt ich den Auftrag, das Kreuz mit der ganzen Sorgfalt und Kunstfertigkeit auszuführen, die ich auch sonst auf die Gestaltung meiner Schmuckstücke und Kleinodien verwende, denn im Unterschied zu vielen anderen handle ich nicht nur mit Juwelen, sondern bin selbst Goldschmied. Ich ließ mich lange bitten, und als meine Brüder mich endlich überredet hatten, bestand ich darauf, sie sollten zunächst die notwendige Summe zusammenbringen, da ich ihren Wankelmut kannte. Da hoben sie wieder an zu palavern, und es sah ganz so aus, als würden sie sich nie einigen. Jeder wollte sich nur entsprechend seinen Einkünften beteiligen; weil aber deren Höhe nur sehr vage angegeben wurde – alle versuchten, soviel wie möglich zu verheimlichen, um die römischen Steuerbehörden hinters Licht zu führen –, mußte in erbitterten Auseinandersetzungen geklärt werden, wer wirklich reich oder, was auf das gleiche hinauslief, wirklich so arm war, wie er behauptete. Als jedoch nach unzähligen Schwierigkeiten zu guter Letzt die Kollekte gezählt wurde, stellte sich paradoxerweise heraus, daß die enorme Summe von hunderttausend Piastern zusammengekommen war: so geizig der einzelne Gettobewohner ist oder zu sein scheint, so großzügig ist die Gemeinde, als Ganzes.
Um Argwohn und Verleumdungen zu vermeiden, wollte ich diesen Schatz nicht bei mir aufbewahren, ihn auch nicht verwalten. Ich ließ Schatzmeister wählen, die mir nach und nach das Gold und die Edelsteine für das Kreuz bezahlen sollten. Trotzdem war einer im Rat so unverschämt, mich zu fragen:
»Und du, Giacobbe, du steuerst gar nichts bei?«
»Ich gebe meine Arbeit und mein Talent!« sagte ich zornig.
Da ich im Unterschied zu so manch anderem mich nicht mit Eigenlob aufplustern mag, verzichte ich auf eine Beschreibung des Kreuzes, das mir viel Mühe gemacht hat. Es sei nur erwähnt, daß das ganze Getto an meinem Schaufenster vorbeizog und fasziniert die Schönheit des ausgestellten Kreuzes bewunderte. Der alte Rabbi Simone saß bei mir im Hinterzimmer und sagte kopfschüttelnd:
»So sind wir Juden! Immer diese Götzendienerei! Gestern noch haben sie das Kreuz verspottet und Christus sogar ›den kleinen Gehängten‹ genannt (ein geschmackloser Scherz!), heute bestaunen sie es mit offenem Mund, bloß weil es aus |406|Gold ist und besetzt mit Diamanten, Rubinen, Saphiren und was weiß ich noch. Es fehlt nicht viel, und sie beten es an! Daß ich so etwas auf meine alten Tage noch erleben muß! Ein Kreuz als angebetetes Idol in einem Getto!«
Als ich Sixtus V. im Verlaufe der Audienz, um die ich gebeten hatte, das Kreuz überreichte, war er voller Bewunderung, zugleich aber auch in einer gewissen Verlegenheit.
»Was für eine herrliche Arbeit!« sagte er und drehte das Kreuz in seinen Händen, die in frappierendem Gegensatz zu seinen groben, unschönen Gesichtszügen schmal und wohlgeformt waren. »Es freut uns zu sehen, daß es im Getto von Rom genauso gute Künstler wie in Florenz gibt. Zudem ist dieses Kreuz durch die guten Gefühle für Euern Herrscher geheiligt, die Euch und Eure Brüder zu diesem Vorhaben bewogen und bei seiner Ausführung geleitet haben. Deshalb nehmen wir dieses Geschenk mit Freuden an als Zeichen der Treue und Dankbarkeit unserer Untertanen im Getto, die wir gegen die Eiferer schützen wollen, denn sie sind fleißig, erfinderisch, friedlich und gesetzestreu und mehren den Wohlstand unserer Stadt und unseres Staates. Dennoch müssen wir Euch und Euren Brüdern erklären, Giacobbe, daß wir als Oberhaupt der Christenheit unmöglich ein Kreuz tragen können, das uns von Untertanen, die keine Christen sind, verehrt wird. Trotzdem wird dieses Kreuz in meiner Familie bleiben, ich will es meinen Nachfahren vererben.«
Hernach sprach er freundlich und in großer Offenheit mit mir über die Reform des Status der Juden und sagte, als die Rede auf den gelben Kaftan kam:
»Müßten wir nicht befürchten, ein zu großes Ärgernis bei unseren christlichen Untertanen und der katholischen Hierarchie zu erregen, so würden wir ihn ganz abschaffen.«
»Allerheiligster Vater«, antwortete ich, »es bedeutet schon sehr viel, daß wir ihn auf Reisen nicht mehr tragen müssen. Für mich ist es eine große Erleichterung, denn auf den Landstraßen Italiens den Kaftan zu tragen war eine stillschweigende Aufforderung für jedermann, uns übers Ohr zu hauen, uns überhöhte Wegegelder und Zechen abzuverlangen, ja sogar uns zu mißhandeln und auszurauben.«
»Reist Ihr oft, Giacobbe?«
»Zweimal im Jahr; zu Beginn des Sommers und zu Weihnachten |407|begebe ich mich in Geschäften nach Brescia, Padua und Venedig.«
»Nach Brescia? Das ist ja interessant.«
Mehr sagte er nicht, und nach einem Blick auf die Uhr entließ er mich.
Als ich im Getto über dieses Gespräch berichtete, fand ich zu meiner Überraschung unsere größten Glaubenseiferer recht abgekühlt in ihren Gefühlen für den Papst, weil sie beim neuerlichen Studium der Bulle »Christiana Pietas« entdeckt hatten, daß sie dreimal im Jahr von einem Pfarrer in einer Kirche zusammengerufen werden sollten, um das Wort des Gottes der Christen zu hören. Einige der hitzigsten Gemüter drängten sogar darauf, einer solchen Vorladung nicht Folge zu leisten. Ich glaubte meinen Ohren nicht zu trauen.
»Ihr seid unverbesserliche Dummköpfe!« rief ich. »Ihr habt eine seltsame Krankheit: ihr seid niemals zufrieden! Fünfundzwanzig Jahre lang habt ihr unter zwei schlechten Päpsten schwer gelitten, und jetzt, da ihr einen guten habt, wollt ihr ihm trotzen. Was kann es euch schon ausmachen, euch in eine christliche Kirche zu setzen und das dumme Gerede eines Pfarrers über Christus anzuhören? Fürchtet ihr für euer Seelenheil, nur weil ihr euch auf Bänke setzt, die schon Generationen von Gojim abgewetzt haben? Ist euer jüdischer Hintern mehr wert als ein christlicher? Oder steht euer Glaube an den Gott Israels auf so schwachen Füßen, daß er in sich zusammenfällt, sobald ein Pfaffe euch von Christus spricht? Werdet ihr nach einer Stunde soweit sein, Maria und die Heiligen anzubeten? Soll ich euch was sagen? Ihr seid wahrlich die Nachfahren jener ausgemachten Dummköpfe, die lauthals den Tod Christi gefordert haben! Habt ihr je überlegt, daß heute niemand mehr von diesem sanftmütigen, weltfremden Schwärmer sprechen würde, wenn er nicht gekreuzigt worden wäre? Und daß wir dann nicht als Gottesmörder behandelt würden?«
Es gab ein schönes Spektakel nach diesen Worten! Christus hatte den Tod verdient, weil er das Gesetz Mosis angegriffen hatte, das er angeblich verteidigte, schrien einige. Das verschlug mir die Sprache. Ihre Rachsucht war grenzenlos! Anderthalb Jahrtausende nach Christi Tod verübelten sie ihm noch immer seine Lehre!
Glücklicherweise ergriff nun der alte Rabbi Simone das |408|Wort, pflichtete mir bei und sagte, daß diejenigen, welche der Aufforderung des Pfarrers nicht nachkämen, die jüdische Gemeinde in Rom schwer gefährdeten. Sein Gesicht war schrumpliger als ein alter Apfel, er sprach mit leiser und zittriger Stimme, doch seine funkelnden schwarzen Augen waren jung geblieben. Als er geendet hatte, wagte keiner mehr, den Mund aufzumachen.
Eine Woche nach dieser Debatte, deren heftige Töne noch in meinen Ohren dröhnten, bestellte mich der Papst in den Vatikan. Ich trat durch die nämliche Seitentür ein und traf Sixtus V. wieder in demselben Raum, auf einem Sessel sitzend, ein Tischchen zu seiner Linken und zu seiner Rechten denselben stummen, bewegungslosen Monsignore, von dem ich inzwischen wußte, daß er Rossellino hieß. Sixtus V. kürzte wie üblich das Begrüßungszeremoniell ab.
»Giacobbe«, sagte er schnell und deutlich zu mir, »wann gedenkt Ihr, in diesem Jahr gen Norden zu reisen?«
»In zwei Wochen, Allerheiligster Vater.«
»Wenn Ihr Eure Reise um eine Woche vorzieht, könnten wir Euch eine Eskorte geben aus einem Dutzend unserer Schweizer, die zum Jahresurlaub in ihre Berge ziehen, und Euch bei dieser Gelegenheit einen persönlichen Auftrag anvertrauen.«
»Ich wäre sehr froh über die Eskorte und sehr geehrt durch den Auftrag, Allerheiligster Vater«, sagte ich mit einer Verbeugung.
»Unser Auftrag wird Euch nicht zu weit von Brescia entfernen, wohin Ihr Euch, wenn ich mich recht entsinne, in Geschäften begeben wollt. Es geht darum, der Herzogin von Bracciano, die sich derzeit am Gardasee aufhält, diese Kassette hier und einen Brief von mir zu überbringen. Könntet Ihr auch einen jüdischen Arzt mit Euch nehmen, der sich mit Wunden auskennt?«
»Mit Schußwunden, Allerheiligster Vater?«
»Nein, mit Pfeilwunden. Doch ich vermute, daß das keinen großen Unterschied macht. Die Wunde, die dem Herzog von Bracciano vor sehr langer Zeit zugefügt worden ist, hat sich in letzter Zeit verschlimmert, wie ich erfahren habe.«
»Ein Freund von mir, Doktor Isacco, ist auf diesem Gebiet sehr kompetent. Er hat an der Medizinischen Akademie in Salerno studiert und das Buch von Ambroise Paré über die Wunden |409|ins Lateinische übersetzt, weil Paré – er war Chirurg – des Lateinischen nicht mächtig war. Die Übersetzung, die Isacco durch eigene Beobachtungen ergänzt hat, wird derzeit im ganzen Land benutzt.«
»Und meint Ihr, Giacobbe, Ihr könntet ihn bewegen, Euch zu begleiten?«
»Ich denke, ja, Allerheiligster Vater.«
Auf dem Gesicht des Papstes malte sich Genugtuung. Er machte Rossellino ein Zeichen, wobei ich beobachtete, daß er mit dem Monsignore – der stumm, aber nicht taub war – oft in einer Zeichensprache redete, die er, wie mir zu Ohren gekommen war, selbst erfunden hatte, damit sein Kämmerer sich ihm verständlich machen könnte. Rossellino nahm sogleich eine kleine silberne Kassette vom Tisch und übergab sie mir mit einem gesiegelten Brief, der an die »Duchessa di Bracciano, Palazzo Sforza, Barbarano, Lago di Garda« adressiert war. Ich verabschiedete mich und verließ den Vatikan wieder durch die Seitentür; als ich den Brief befühlte, merkte ich, daß er den Schlüssel für die Kassette enthielt.
Meine Söhne, meine Neffen und ich, alles in allem acht Personen, stürzten uns in einige Unkosten, um uns für die Reise auszustaffieren, die uns in so würdiger Begleitung zu einem so großen Fürsten führen sollte. Ich mietete auch tüchtige Pferde, in deren Zaumzeug wir ein paar gute Sattelpistolen versteckten; sie offen zu tragen, hätte man einem Juden als eine zu große Herausforderung ausgelegt. Wir mußten schließlich an unsere Rückkehr ohne die Schweizer denken. Es waren ihrer ein gutes Dutzend, und ihr Sergeant übergab mir einen Geleitbrief, der in für mich sehr schmeichelhaften Worten abgefaßt, von Kardinal Rusticucci unterzeichnet und mit dem päpstlichen Siegel versehen war. Ich habe diese kostbare Reliquie aufbewahrt, weil ich mir sagte, sie könnte mir von Nutzen sein, wenn eines Tages wieder die Verfolgungen einsetzen würden1.
Die guten Schweizer, die uns vierzehn Tage lang begleiteten, hatten ungefähr das Alter meiner Söhne und Neffen, aber sie waren bestimmt doppelt so schwer und so breit, ganz zu schweigen von ihrer Körpergröße: lange, starke Kerle, aufgewachsen in der guten Luft und mit der guten Milch ihrer |410|Schweizer Berge, von Kindheit an durch schwere Arbeit gestählt, wohingegen wir Juden zusammengepfercht in der lichtlosen Enge unseres Stadtgettos aufwachsen, denn es ist uns streng untersagt, auf dem Lande zu leben oder dort gar ein Stück Boden zu erwerben. Der Gerechtigkeit halber muß ich jedoch erwähnen, daß in den ausdruckslosen Gesichtern der Schweizer jener Funke Scharfsinn fehlte, der aus den Augen meiner Jungen leuchtete.
Als wir nach Salò kamen, waren wir sehr enttäuscht von der schlechten Sicht; über dem See lag dichter Nebel, und die Wirtin, bei der wir unser Mittagsmahl einnahmen, machte uns keine Hoffnung, daß er sich noch heben würde. »Zu dieser Jahreszeit ist das normal«, sagte sie, »und das kann einen ganzen Monat andauern.«
Reist man von Salò nach Barbarano, wird der Raum zwischen dem See und den immer steiler werdenden Bergen allmählich so eng, daß nur noch ein schmaler Weg am Ufer entlangführt. Nach einer knappen halben Stunde sahen wir zu unserer Rechten ein Gebäude, das wir nach der Beschreibung der Wirtin für den Palazzo Sforza hielten. Da wir uns nicht sicher waren, klopfte ich an die Pforte eines Klosters, das auf der anderen Seite des Weges an den Berghang gebaut war. Nur das Guckfenster in der Tür öffnete sich, und ein Kapuzinermönch musterte mich mißtrauisch, als hätte er in mir das räudige Schaf gewittert. Doch nachdem ich ihm meinen Geleitbrief mit dem päpstlichen Siegel gezeigt hatte, geruhte er mir zu sagen, das Gebäude vor uns sei in der Tat der Palazzo Sforza. Durch die Gitterstäbe des Fensters schob ich ihm daraufhin einen Obolus zu – nicht, daß ich die geringste Lust dazu verspürte, sondern weil seine Haltung diese Erwartung ausdrückte und auch weil ich, wie mein ganzes Volk, eine unbestimmte Furcht vor Priestern empfinde. Zum Dank öffnete er noch einmal seinen schmalen Mund – so schmal wie der Schlitz eines Opferstocks in der Kirche –, um mir mitzuteilen, daß Admiral Sforza vor knapp acht Jahren mit dem Bau des Palastes fertig geworden sei. Das glaubte ich ihm gern: die Steine waren noch weiß.
Auch im Palazzo Sforza wirkten der Geleitbrief und das päpstliche Siegel Wunder, doch es brauchte seine Zeit, um den Majordomus zu holen, der als einziger den Befehl zum Herunterlassen der Zugbrücke erteilen durfte. Es war deutlich zu sehen, |411|daß hier ein Admiral gewohnt hatte; die Anlage war eher eine Festung denn ein Palazzo: eine lange, schmucklose Fassade mit wenigen, dicht vergitterten kleinen Fenstern, an beiden Enden von großen viereckigen Türmen flankiert. Das Ganze war von einem breiten, tiefen Wassergraben umgeben, der aus dem See gespeist wurde.
Nachdem wir eingelassen worden waren, erklärte mir der Majordomus, ich müsse mich gedulden, denn das Fürstenpaar sei in einer der Galeassen unterwegs, um Freunde auf Schloß Sirmione zu besuchen, und komme erst am späten Nachmittag zurück. Und da ich mich wunderte, wie man in dieser Watte mit einer Sichtweite von höchstens einer Viertelmeile Kurs halten könne, sagte er mir, die Schiffer des Sees würden sich nach der Sonne orientieren, die sich durch den Nebel erahnen lasse, selbst wenn sie ihn nicht zu durchdringen vermöge.
Wie schon erwähnt, flankierten zwei große viereckige Türme das Gebäude; den Grundriß der Anlage begriff ich jedoch erst, als ich dem Majordomus in den Hof folgte. An den beiden Enden des Haupttrakts schlossen sich, im rechten Winkel zu den Türmen, zwei Seitenflügel an, die bis zum See hinunterreichten. Ein dritter Flügel – ich weiß nicht, ob diese Bezeichnung zutrifft, denn er ging seltsamerweise von der Gebäudemitte ab – zog sich parallel zu den beiden anderen bis zum Ufer und teilte den Hof in zwei Hälften. An seiner Giebelfassade befand sich in Höhe des ersten Stockwerks eine Terrasse. Diese Terrasse nebst den beiden Fenstertüren, die zu ihr führten, und den drei Rundbögen, die sie im Erdgeschoß stützten, waren das einzig wirklich Elegante und Prunkvolle an diesem insgesamt recht ungeschlachten Bauwerk.
Die drei Rundbögen erhoben sich auf einem Vorhof, von dem aus man über ein paar Stufen zu einem kleinen Hafen gelangte. Dort ankerte eine Galeasse des Typs, wie er sich in der Schlacht von Lepanto gegen die Türken bewährt hatte, nur war sie sehr viel kleiner. Sie hatte eine Ruderkammer, die aber – ganz anders als sonst üblich – unter Deck lag, so daß man ungehindert mit den Segeln manövrieren konnte.
Meine Frage, ob die Galeasse am Ort gebaut oder aus Venedig herbeigeschafft worden sei, beantwortete der Majordomus so langstilig und konfus, daß ich noch müder wurde, als ich von der langen Reise ohnehin schon war. Hinzu kam, daß mich |412|der Nebel über dem See mit seinem faden Geruch benommen machte, so daß mir plötzlich übel wurde. Ich setzte mich auf die Stufen und verlor das Bewußtsein.
Allerdings nicht völlig, denn ich spürte, wie jemand – ich erkannte an seinem Wohlgeruch Isacco – meine Halskrause lockerte, mir leicht auf die Wangen klopfte und mir gezuckerten Wein einflößte, den ich erst nur mit Mühe trinken konnte, dann aber gierig hinunterschluckte. Meine Lider zuckten, ich konnte sie nur noch nicht ganz aufmachen, da hörte ich Isacco mit seiner sonoren Baßstimme sagen, vermutlich zu einem meiner Söhne:
»Sorg dich nicht. Er ist robust und wird hundert Jahre leben!«
Allmählich konnte ich wieder klarer sehen, und das erste, was ich erblickte, waren zu meiner Linken ein halbes Dutzend großer Magnolien entlang dem Ufer. Sie wirkten nicht wie Bäume, sondern wie riesige runde Buketts aus zartrosa schimmernden weißen Blüten. Beim Betreten des Hofes hätte ich sie eigentlich nicht übersehen dürfen, aber mein Blick war über sie hingeglitten, ohne sie wirklich wahrzunehmen, während nun, in meinem Schwächezustand, mein Geist – ebenso verschwommen wie der neblige See – sich auf sie konzentrierte und aus ihrem Anblick unendliche Freude schöpfte.
»Was schaust du so, Giuseppe?« fragte Isacco.
»Die Magnolien!«
»Ach so, die Magnolien«, sagte er erstaunt. »Die gibt’s überall am Seeufer.«
Das Sprechen fiel mir sehr schwer. Wie sollte ich ihm also erklären, daß ich mich vor zwei Minuten noch dem Tode nahe gefühlt hatte, nun aber – beim Anblick der herrlichen Buketts – ins Leben zurückkehrte?
»Die ganze Schönheit der Schöpfung liegt darin«, sagte ich mühsam.
»Oho, Giuseppe, du bist ja ein richtiger Dichter!« lachte Isacco.
Und mit einer Mischung aus Zuneigung und Nachsicht fügte er hinzu:
»Das mußt du ja wohl auch sein, um so schöne Schmuckstücke fertigen zu können.«
Unterdessen waren Diener mit einer Erfrischung gekommen, |413|die vermutlich der Majordomus bestellt hatte, er muß geglaubt haben, ich wäre vor Hunger schwach geworden.
Leicht amüsiert registrierte ich, daß zum ersten Mal ein Goi so freundlich zu mir war. Rusticucci hatte mir den Geleitbrief auf einen christlichen Namen ausgestellt, und der Papst hatte dem Juden erlaubt, in gewöhnlicher Kleidung zu reisen – dies allein reichte aus, daß jedermann sich freundlicher zu meinesgleichen verhielt! Und doch, was sind schon Namen oder Kleider? Nichts als vergängliche Äußerlichkeiten! War ich nicht immer noch derselbe Mensch?
Nur widerwillig und aus Höflichkeit gegenüber dem Majordomus nahm ich etwas zu mir, meine Söhne und Neffen und Isacco aßen mit einer Gier, als wäre das Mittagsmahl nur mehr eine sehr ferne Erinnerung. Vor allem Isacco war ein großer Esser; er war überhaupt ungeheuer lebenshungrig, ganz im Gegensatz zu seinem pessimistischen Geschwätz bei jeder sich bietenden Gelegenheit.
»Die Herrschaften kommen«, sagte der Majordomus. Alle blickten zum See, doch man sah nur weißen Nebel, in dem nach kaum zweihundert Schritt der Horizont versank.
»Ich kann noch nichts erkennen«, sagte ich.
»Wenn Ihr genau hinhört, Signore, vernehmt Ihr die Ruderschläge. Der Wind hat sich gelegt. Man hat die Segel eingeholt, und unter Deck legen sich die Ruderknechte in die Riemen.«
Und tatsächlich vernahm ich das gleichmäßige Geräusch der eintauchenden Ruder und das Knirschen der Dollen. Plötzlich löste sich die Silhouette der Galeasse wie ein Geisterschiff aus dem Nebel und gewann allmählich immer deutlichere Konturen. Ein knapper Befehl, und sie schien sich kaum noch zu bewegen, glitt langsam über die Wasserfläche, drehte bei, fuhr still und majestätisch in den kleinen Hafen ein und legte, während die Ruder alle gleichzeitig eingezogen wurden, neben ihrer schon am Kai vertäuten Zwillingsschwester an.
Gefolgt von einer Kammerzofe, ging die Herzogin leichtfüßig von Bord, während der Fürst, wie ich bemerkte, nur mit Hilfe zweier Edelleute den Kai erreichen konnte, wo ihn seine Gemahlin erwartete, ein Lächeln auf den Lippen, aber mit sorgenvollem Blick. Es war das erste Mal, daß ich diese berühmte Schönheit sah, und obwohl ich durch zahlreiche Beschreibungen vorbereitet war, wurden sie von der Wirklichkeit weit übertroffen. |414|Ihre Zofe hielt sich hinter ihr und wich keinen Schritt von ihrer Seite, wie ich später feststellen konnte. Im Gegensatz zu ihrer strahlend blonden Herrin war das Mädchen genauso brünett wie eine Tochter Israels, lebhaft, mit schwarzen Augen, keck und mit großen, apfelrunden Brüsten, derentwegen ich den Blick senken mußte, denn selbst in meinem Alter noch ist man für solche Reize nur allzu empfänglich.
Der Majordomus trat zu dem Fürsten, sprach lange sotto voce mit ihm – sicher erklärte er, wer wir waren – und zeigte ihm meinen Geleitbrief, während wir ehrerbietig in einiger Entfernung warteten, die Augen respektvoll auf den Fürsten gerichtet und aus den Augenwinkeln nach der Herzogin und ihrer schmucken Zofe schielend.
»Herzlich willkommen, liebe Freunde«, sagte der Fürst und kam auf uns zu, während wir uns allesamt tief verneigten.
Auf ein Zeichen des Majordomus hin brachten zwei Diener einen Sessel, den sie vor den drei Arkaden des Hauptgebäudes abstellten und auf dem der Fürst Platz nahm, immer noch von seinen beiden Edelleuten gestützt, davon der eine sehr schön und das genaue Ebenbild der Herzogin war, allerdings brünett statt blond: zweifellos ihr berüchtigter Zwillingsbruder, der am hellichten Tag mitten in Rom den vornehmen Herrn Recanati in einer offenen Kutsche niedergestochen hatte. Man brachte auch einen Sessel für die Herzogin, die ihn aber verschmähte und sich mit einem Schemel zu Füßen des Fürsten begnügte. Ihr langes Haar auf dem Schoß zusammenraffend, ließ sie sich anmutig auf dem Schemel nieder. Die Kammerzofe setzte sich auf eine Treppenstufe hinter ihr und musterte – da ihre Herrin sie nicht sehen konnte – unsere Gruppe mit dreisten Blicken, nicht einmal mich ließ sie aus. Signor Marcello, der das bemerkte, stieg zu ihr hinauf und gab ihr im Vorbeigehen heimlich einen kleinen Tritt, bei dem sie das Gesicht verzog, aber nicht aufschrie. Danach setzte er sich in lässiger Haltung zwei Stufen höher auf die Treppe.
»Meister Goldschmied«, sagte der Fürst, der mich nicht mit meinem richtigen Namen anreden wollte – er kannte ihn genau, denn er hatte mehrere Schmuckstücke für seine erste Gemahlin bei mir arbeiten lassen –, der aber auch den christlichen Namen aus dem Geleitbrief nicht verwenden mochte (vielleicht hatte er ihn schon wieder vergessen), »ich bin erstaunt, |415|Euch hier, so weit von Rom entfernt, zu sehen, und ich bin begierig zu erfahren, was Seine Heiligkeit Euch für uns aufgetragen hat.«
Ich erklärte ihm, was es mit dem Brief, der Kassette und der Anwesenheit von Isacco auf sich habe.
»Meister Goldschmied, übergebt uns bitte, was der Heilige Vater für uns bestimmt hat«, sagte der Fürst, und Traurigkeit verdüsterte sein Gesicht. »Und Ihr, Vittoria, wollt Euch vielleicht in Eure Gemächer zurückziehen, um in Ruhe das Sendschreiben zu lesen und den Inhalt der Kassette zu untersuchen.«
»Wie Ihr wollt, Durchlaucht«, sagte die Herzogin und erhob sich.
Ich übergab dem Fürsten Kassette und Brief. Er legte beides in Vittorias Hände, mit einem zärtlichen Lächeln, das sofort erlosch, als sie die Stufen zu den Arkaden hinaufstieg und, gefolgt von ihrer Zofe, im Haus verschwand. Nachdem die Frauen in ihrem prächtigen Staat – die Zofe war kaum weniger elegant gekleidet denn ihre Herrin – sich entfernt hatten, erschien der Hof mit einemmal glanzlos und viel kälter.
»Dottore«, wandte sich der Fürst mit ernster Miene an Isacco, »nehmt mir bitte nicht übel, was ich Euch jetzt sage: ich bin der Ärzte und der Medizin auf den Tod überdrüssig, und wenn ich sage ›auf den Tod‹, dann ist das Wort wohl genau zutreffend, fürchte ich. Vor vierzehn Jahren, in der Schlacht von Lepanto, hat mich ein Pfeil am Oberschenkel getroffen, und seit vierzehn Jahren hat mir diese Wunde nur selten Ruhe gegönnt. Ich habe Dutzende von Ärzten konsultiert, einer berühmter als der andere – ich bin nicht geheilt worden, im Gegenteil, mein Leiden hat sich beständig verschlimmert. Erst unlängst hat meine Gattin, die Herzogin, zwei berühmte Gelehrte eigens aus Venedig hergebeten, um meine Wunde untersuchen zu lassen. Sie haben sich zunächst gefragt, wie man das Übel wohl nennen müßte. Wenn ich richtig verstanden habe, schien ihnen dieser Name sehr wichtig zu sein. Eine geschlagene Stunde lang haben sie diskutiert, bis sie sich schließlich auf lupa einigten, was ›die Wölfin‹ heißt. Als ich sie fragte: ›Warum die ‚Wölfin‘?‹, erwiderten sie: ›Weil sie das Fleisch rund um die Wunde auffrißt.‹ – ›Das ist ein hübscher Name für mein schönes Bein!‹ sagte ich. ›Was schlagt Ihr vor als Therapie?‹ Darauf sagte der |416|eine, ich müsse morgens und abends zur Ader gelassen werden, und antwortete auf meine Frage nach dem Nutzen: ›Wenn das Wasser eines Brunnens trübe geworden ist, wird so lange Wasser abgeschöpft, bis es wieder klar ist. Das gleiche gilt für Euer Blut, Durchlaucht. Wenn wir Euch zur Ader lassen, entziehen wir Euerm Körper das schlechte Blut. Und Eure Wunde wird aufhören, Euch zu verschlingen.‹«
Der Fürst lächelte mit bitterem Hohn. Anscheinend wartete er auf eine Bemerkung von Isacco, doch als diese ausblieb, fuhr er fort:
»Ich stimmte dem Aderlaß morgens und abends zu, aber nach einer Woche fühlte ich mich sehr geschwächt, ohne daß meine Wunde sich gebessert hatte. Ich schloß daraus, daß die Aderlässe zwischen gesundem und schlechtem Blut nicht zu unterscheiden vermochten und nur das gesunde Blut aus meinem Körper zogen, ohne das schlechte zu beseitigen. Da gab ich dem Arzt sein Honorar und schickte ihn nach Venedig zurück. Blieb noch der zweite, der über die Abreise seines Kollegen höchlich zufrieden schien und zu mir sagte: ›Ihr habt tausendmal recht, Durchlaucht. Dieser Mann ist ein Nichtskönner, um nicht zu sagen ein Scharlatan. Er verwendet für alles immer nur dasjenige Heilmittel, das gerade in Mode ist. Meine Therapie dagegen richtet sich nach dem einzelnen Fall.‹ – ›Und worin besteht sie?‹ fragte ich. – ›Legt täglich eine Kompresse aus frischem Fleisch auf die Wunde. So findet die lupa ihre Nahrung woanders und wird nicht mehr das Fleisch Eures Beines verschlingen.‹«
»Und Ihr habt es probiert, Durchlaucht?« fragte Isacco, die Augen vor Staunen weit aufreißend.
»Ich habe es probiert, und das Resultat nach einer Woche war eine deutliche Verschlechterung meines Leidens. Ich schloß daraus, daß die Wölfin lieber mein eigenes Fleisch frißt als jedes noch so appetitliche andere, und ich entließ auch diesen Hippokrates. Und Ihr, dottore, welches Mittel schlagt Ihr vor?« fragte er Isacco, halb mißtrauisch, halb hoffnungsvoll.
»Das kann ich erst sagen, wenn ich Eure Wunde untersucht habe, Durchlaucht.«
»Gut«, sagte der Fürst, »sowie sich die Herzogin zur Nacht zurückgezogen hat, will ich sie Euch zeigen.« Isacco war im Palazzo in einem Zimmer neben dem meinen untergebracht, |417|und als ich ihn gegen elf Uhr von der Konsultation zurückkommen hörte, ging ich zu ihm und fragte ihn nach dem Ergebnis. Isacco schien sehr schlechter Laune und sagte mürrisch, seine tiefe Stimme dämpfend:
»Leider ist der Fürst bisher stets an Ignoranten geraten, deren medizinische Kunst verbaler Natur war und nur auf Metaphern beruhte: schlechtes Blut wie trübes Wasser in einem Brunnen! die Wunde eine fleischfressende Wölfin!«
»Auch im Getto gibt es Ärzte, die so argumentieren …«
»Wer wüßte das besser als ich! Kurzum, der Unglückliche hat so viele sinnlose Kuren hinter sich, daß er das richtige Heilmittel nun nicht mehr will, wenn man es ihm vorschlägt.«
»Und was ist das richtige Heilmittel?«
»Das Bein amputieren, ehe es zu spät ist.«
»Er willigt nicht ein?«
»Er lehnt es rundweg ab«, sagte Isacco ärgerlich. »Er beteuert, lieber sterben zu wollen als verstümmelt leben zu müssen.«
»Verständlich!« rief ich. »So ein schöner Mann! So ein Held! So ein Fürst! Dazu noch verliebt!«
»Was hat denn das damit zu tun?« fragte Isacco, der aus Prinzip nicht verstehen wollte, was er doch sehr gut verstand. »Würdest du lieber sterben als ein Bein verlieren?«
»Ich bin auch nicht mit der schönsten Frau von Rom verheiratet!«
»Und was würdest du tun?« fragte Isacco, der stolz auf seine Potenz war, seiner Frau jedes Jahr ein Kind machte und auch seine Mägde schwängerte.
»Was kann man denn anderes für den Fürsten tun?« fragte ich nach einem Moment.
»Du meinst, außer der Amputation?«
»Ja.«
»Nichts.«
»Er wird also sterben?«
»Ja. Dieser Sommer wird sein letzter sein.«
»Ach, Isacco, was für ein schrecklicher Satz«, sagte ich vorwurfsvoll.
Meine Bemerkung erbitterte ihn aufs äußerste.
»Zum Teufel mit deiner Gefühlsduselei, Giuseppe! Soll ich Tränen vergießen über das Schicksal des Fürsten? Er ist mit einem goldenen Löffel im Mund geboren worden! Er hat alles |418|gehabt in seinem Leben – Ehre, Reichtum, Ruhm, Liebe! Und nun ereilt ihn unser aller Schicksal. Goi oder Jude, es trifft jeden! Nein, nein, sag nichts! Laß mich, bitte, Giuseppe, ich bin müde. Ich wollte, es wäre schon morgen und ich könnte weg von hier. Ich mag diesen See nicht. Ich kann seinen Geruch nicht ausstehen. Und nicht diesen Nebel! Es heißt, dies hier sei ein kleines Paradies. Vielleicht stimmt das sogar, nur müßte man es sehen können. Ich mag auch diesen Palast nicht. Wie kann man in so hohen Räumen schlafen! Diese Leute hier möchten uns glauben machen, sie seien fünf- oder sechsmal größer als wir. Soll ich dir was sagen: ich will schleunigst in mein Getto zurück! Und vor allem, vor allem verabscheue ich diese Art von Patienten, die noch Ansprüche stellen, wenn es um Leben oder Tod geht. Hätte er durchgemacht, was wir in Rom seit Pius V. durchgemacht haben, vielleicht würde er dann mehr am Leben hängen. Und kannst du mir vielleicht sagen, wozu ich gut sein soll, wenn der Kranke nicht mit allen Fasern am Leben hängt?«