|165|KAPITEL VI

Aziza:

 

Als ich Paolo bat, ihn auf der Galeere nach Santa Maria begleiten zu dürfen, lehnte er zunächst ab. Dann entsann er sich, wie seefest ich gewesen war, als ich ihm seinerzeit an Bord der venezianischen Galeere gedient hatte; er ließ sich erweichen und stimmte zu. Das Angebot Lodovicos, ihn zu begleiten, nahm er ebenfalls an, aber widerwillig und, wie mir schien, mehr aus abergläubischem Respekt vor Familienbanden denn aus Freundschaft. Mein Verdacht bestätigte sich, als Paolo, kurz bevor er das Landungsboot bestieg, nicht Lodovico das Kommando über die Galeere anvertraute, sondern seinem Ersten Offizier, dem er seine Instruktionen so erteilte, daß die anderen sie nicht hören konnten.

Die Überfahrt von Neapel nach Santa Maria dauerte drei Tage, und je näher wir unserem Ziel kamen, um so wilder wurde das Meer und um so größer die Angst, die mir die Kehle zuschnürte, denn Paolos Unternehmen erschien mir sehr gewagt. Da ich jedoch wußte, wie unbeirrbar er dazu entschlossen war, sagte ich nichts. Ich verheimlichte ihm sogar meine quälende Furcht und blieb bis zuletzt so, wie er mich immer gekannt und gewünscht hatte: heiter, liebenswürdig und ihm gehorsam. Während der Überfahrt nahm Paolo zweimal meine Liebesdienste in Anspruch, was mich überglücklich machte, aber auch verwunderte und in gewisser Weise demütigte: offensichtlich bestand für ihn überhaupt keine Verbindung zwischen dem Vergnügen mit mir und seiner großen Liebe zu Vittoria.

Als wir uns Santa Maria näherten, ließ Lodovico durch Folletto um eine Unterredung mit Paolo bitten. Paolo willigte ein, befahl mir aber vorher, mich in sein Bett zu legen, die Bettvorhänge zuzuziehen und mich nicht bemerkbar zu machen, aber genau zuzuhören, was ich auch tat. Allerdings schlossen die Vorhänge nicht ganz dicht, so daß ich Lodovico beobachten konnte, der an dem im Boden verschraubten kleinen Tisch Platz genommen hatte, wo bei den Mahlzeiten Paolo saß. Von |166|Paolo konnte ich nur den Rücken und die rechte Schulter sehen. An seinem mir gut bekannten Tonfall erriet ich seinen Gesichtsausdruck. Während der Unterhaltung der beiden Männer mußte ich mich an der Bettkante festkrallen, denn die Galeere schlingerte und stampfte beängstigend, und ich hörte die heftigen Wellenschläge gegen den Schiffsrumpf, der bei jedem neuen Stoß ächzte und krachte.

»Paolo, du siehst, was für ein Wetter das ist«, begann Lodovico. »Sag nicht, daß du immer noch beabsichtigst, bei Einbruch der Nacht ein Boot zu Wasser zu lassen und zusammen mit diesem Intriganten an die Küste zu rudern. Das wäre Wahnsinn!«

»Würde Marcello diesen Wahnsinn mitmachen, wenn er ein Intrigant wäre? Normalerweise setzen Intriganten nicht ihr Leben aufs Spiel. Das müßtest du wissen.«

»Lassen wir Marcello beiseite. Du siehst doch selbst: das Meer ist außer Rand und Band. Du rast in dein Verderben.«

»Jeder muß einmal sterben«, sagte Paolo leichthin und scherzhaft. »Und bedenkt man’s recht: wofür sollte ich leben?«

»Für Virginio.«

»In meinem Testament ist er reich bedacht worden. Und im übrigen ist er auf Grund meiner langen Abwesenheit von seinen Onkeln erzogen worden und daher heute eher ein Medici denn ein Orsini.«

»Trotzdem bleibt er dein Sohn.«

»Und du mein leiblicher Vetter«, meinte Paolo ironisch, »und Medici mein Schwager. Wir sind eine einträchtige Familie.«

»Ach Paolo, bitte! Reden wir ernsthaft! Vergangene Nacht hatte ich einen schrecklichen Traum wegen deines wahnsinnigen Unterfangens: auf der Rückkehr zur Galeere kenterte dein Boot. Marcello, Vittoria und du selbst, ihr seid ertrunken.«

»Das wäre ziemlich traurig für uns drei«, sagte Paolo, immer noch leichthin. »Und traurig auch für dich, Lodovico.«

»Zweifelst du daran, Paolo?« fragte Lodovico mit einer Falschheit, die mir nicht entging.

»Keineswegs. Ich bin mir bewußt, dir immer ein guter Verwandter gewesen zu sein, carissimo: aufgeschlossen und großzügig. Virginio, fürchte ich, wird anders zu dir sein, sosehr du dir jetzt seine Interessen angelegen sein läßt.«

|167|»Warum sagst du das, Paolo?« fragte Lodovico mit sichtlichem Unbehagen.

»Weil Virginio jetzt ein Medici ist. Die Medicis sind Bankiers. Sie rücken nicht gern was raus.«

»Du bist ungerecht mir und ihnen gegenüber. Du liebst die Medicis nicht.«

»Im Gegenteil, ich liebe sie sehr. Aber ich kann ihnen nicht verzeihen, daß sie mich nach dem Ehebruch ihrer Schwester so sehr gedrängt haben, Isabella zu töten.«

»Am Ende hast du sie ja auch getötet – nur aus anderen Gründen, die vielleicht weniger ehrenhaft sind.«

»Carissimo, über die Ehre der älteren und über die der jüngeren Linie der Orsinis gäbe es gewiß sehr viel zu sagen.«

Ich konnte den Fürsten nicht sehen, aber ich wußte genau, daß er bei diesen Worten auf eine bestimmte Art lächelte, denn seine Stimme war scharf wie ein Peitschenhieb. Lodovico hat das gespürt, denn ein Zucken lief über sein Gesicht. Aber er behielt sich in der Kontrolle.

»Du kannst jedenfalls nicht abstreiten, Paolo«, sagte er kalt, »daß du den Entschluß, Isabella zu töten, nach deiner Begegnung mit Vittoria Peretti gefaßt hast.«

»Ja, das stimmt. Aber im Gegensatz zu deinen und Raimondos Vermutungen war er kein Resultat dieser Begegnung. Ich hatte den Entschluß gefaßt, bevor ich Vittoria schrieb und bevor sie mir ihren Ring als Zeichen ihrer Gefühle schickte. Der Majordomus von Bracciano hatte mir berichtet, daß Isabella so weit gesunken war, sich Küchenjungen und Maultiertreibern hinzugeben. Diesen Skandal durfte ich nicht länger dulden.«

Ich war sehr überrascht. Denn bisher hatte ich darin Lodovicos Meinung geteilt. Ich kannte indes die Wahrheitsliebe des Fürsten und zweifelte nicht an seiner Aufrichtigkeit. Lodovico dagegen glaubte ihm nicht, wie ich an seinem Gesicht ablesen konnte. Ein seltsames Gesicht übrigens. Auf den ersten Blick sehr hübsch. Doch bei näherem Hinsehen erscheint es einem häßlich ob der sich darin widerspiegelnden Gemeinheit.

»Ich glaube dir, Paolo, wenn du es mir so sagst«, sagte Lodovico endlich in einem Ton, der zwischen Frechheit und Schmeichelei schwankte. »Aber lassen wir Isabella ruhen. Weißt du, Paolo, ich will an deine Vernunft appellieren. Sieh dir das Meer an! Deine Chancen für eine glückliche Landung stehen nicht |168|einmal eins zu hundert. Wie kannst du nur zu einer solchen Torheit bereit sein?«

»Weil ich Vittoria liebe«, sagte Paolo mit ironisch-scherzhaftem Unterton.

»Und wie soll man sich diese Liebe erklären, wo du Vittoria nur zwei Minuten gesehen hast?«

»Hier rühren wir an eins der Mysterien des menschlichen Herzens.«

Er lachte, stand auf, legte den Arm mit allen Zeichen einer herzlichen Zuneigung um Lodovicos Schulter und begleitete ihn zur Tür, die er sofort hinter ihm verriegelte.

Wie war ich überrascht und dabei überglücklich, als ich Paolo auf das Bett zukommen, die Vorhänge beiseite schieben und sich zu mir legen sah; er schob den Arm unter meinen Nacken und zog meinen Kopf an seine mächtige Schulter.

»Na, Aziza, meine Wespe, was hältst du von meinen Cousins?« fragte er lächelnd.

»Zwei Blutegel. Zwei Taugenichtse. Aber man kann sie nicht in einen Sack stecken. Il bruto empfindet trotz seines Beinamens so etwas wie Sympathie und Zuneigung für dich. Lodovico dagegen ist eine richtige Schlange. Für deine Geschenke hat er dir niemals Dank gewußt. Und jetzt, wo du den Geldbeutel zuhältst, haßt er dich.«

»Und warum, glaubst du, hat er darauf bestanden, mich an Bord zu begleiten?«

»Um Medici und Virginio anschließend Bericht erstatten zu können.«

»Gut beobachtet, kleine Wespe. Du darfst nicht nur auf deine schöne Figur stolz sein, sondern auch auf dein kluges Köpfchen.«

»Trotzdem verstehe ich nicht alles, Paolo. Warum hast du ihn an Bord genommen, obwohl du wußtest, was du weißt?«

»Ich muß gewisse Rücksichten auf ihn nehmen. Falls es zum offenen Krieg gegen den Papst kommt, stellen er, sein Bruder und seine Gefolgsleute eine nicht unbeträchtliche Unterstützung dar. Außerdem genießt Lodovico Vertrauen beim einfachen Volk, ohne dessen Unterstützung eine Rebellion nicht möglich ist …«

Ich hörte ihm zu. Er sprach ruhig, beinahe heiter. Und doch wollte er bei Einbruch der Nacht sein Leben einer Nußschale |169|auf dem entfesselten Meer anvertrauen. »Deine Chancen stehen eins zu hundert«, hatte Lodovico gesagt. Was würde aus mir werden, wenn Paolo stirbt? Von Virginio an einen neuen Herrn verkauft zu werden, bei Gott dem Allmächtigen, das könnte ich nicht ertragen! Ich hatte noch immer Abensurs kleinen Dolch, von dem mein Beiname herrührt. Und ich schwor, den Kopf auf der Brust meines angebeteten Fürsten, ihn nicht zu überleben.

»Noch Fragen, Wespe?« wollte Paolo wissen.

»Ja.«

Ach, wie bereue ich heute dieses »ja«! Welche Qualen wären mir erspart geblieben, hätte ich es unterdrückt! Welcher Teufel hat mich wohl geritten, Paolos Gefühle ergründen zu wollen! Hätte ich statt mit »ja« mit »nein« geantwortet: ich weiß genau, was passiert wäre. Die stürmische See hätte uns auf seinem engen Bett gegeneinander geworfen. Das Begehren, das mich erschauern ließ, hätte auch das seine wachgerufen, zumal in Anbetracht der ungeheuren Gefahr, der er sich aussetzen wollte.

Statt dessen war ich dümmer als eine Wespe, die immer wieder gegen eine Scheibe prallt. Ich stellte ihm die gleiche absurde Frage, die ihm schon Lodovico gestellt hatte und der Paolo ausgewichen war: »Wie soll man sich deine Liebe zu Vittoria erklären, wo du sie nur zwei Minuten gesehen hast?«

Leider vermied es Paolo diesmal nicht, die Frage zu beantworten, sondern gab mir voller Elan und Begeisterung einen aufrichtigen, sehr detaillierten Bericht, ohne im mindesten zu bedenken, wie weh er mir damit tat. Denn er ist gewiß ein guter Herr, gerecht, geduldig, aufmerksam.

»Als ich Vittoria bei Montalto begegnete«, hub er an und stemmte dabei das rechte Bein (das mit der Wunde) gegen die Bettkante, »sah ich sie nicht zum ersten Mal: ich hatte sie bereits zehn Jahre früher in Gubbio gesehen. Ich ritt damals an der Spitze eines stattlichen Trupps durch die kleine Stadt, und da ich noch etwas Zeit hatte, fragte ich einen gutgekleideten Passanten nach den Sehenswürdigkeiten im Ort. Es war ein alter Mann, dessen schwarze Augen vor Vergnügen funkelten, als er mir sagte: ›Ein anderer würde den Herzogspalast nennen. Aber ich sage Ihnen: Vittoria Accoramboni. Ach, und heute ist gerade Dienstag. Dienstags und sonnabends, am zeitigen Nachmittag, wäscht Vittoria ihr wundervolles Haar, das sie bei Sonnenschein auf einer Terrasse trocknen läßt, und die liegt nach |170|Süden und geht zur Straße. Dieses Schauspiel sollte man nicht versäumen, und solange mich meine alten Füße tragen, lasse ich es nicht aus. Wenn Ihr Lust habt, Signore, dann folgt mir. Ich bin gerade auf dem Weg dorthin.‹

Ich fand den alten Kauz köstlich, der, schon dem Tode nahe, noch so viel Wert auf die platonische Betrachtung weiblicher Schönheit legte. Ich war neugierig und amüsiert, stieg ab, warf meinem Knappen die Zügel zu und folgte dem Alten, der mit kleinen, stolpernden Schritten vor mir herging. Unterwegs erzählte er mir, er heiße Pietro Muratore und fertige Bilderrahmen, die, wie er schelmisch versicherte, oft schöner seien als die Bilder selbst. Da er mich wegen meines Wamses aus Büffelleder für einen einfachen Kapitän hielt und so vertraulich mit mir schwatzte, verschwieg ich ihm meinen Namen, um ihn nicht in Verwirrung zu bringen.

Vittoria Accoramboni saß auf einem Schemel mit Rückenlehne, ihr unglaublich langes blondes Haar war hinter ihr auf einer Art Gestell in der Sonne ausgebreitet. Eine kleine maurische Sklavin beschattete Vittorias schönes Gesicht mit einem großen weißen Sonnenschirm, den sie abwechselnd mit der rechten oder linken Hand hielt, damit ihr die Arme nicht erlahmten. Ihre Herrin trug ein blaßblaues weites Hauskleid, dessen Falten wie bei ionischen Tuniken locker ihren statuenhaften Körper umflossen. Man hätte sie für eine griechische Göttin halten können, zumal sie barfuß war und man deutlich ihre vollendet geformten Füße sehen konnte, die sie bequem auf eine Fußbank stützte, so daß der Schirm sie nicht beschattete. Vittoria hielt ihre Füße wohlig in die Sonnenwärme, und es bekümmerte sie wenig, daß sie bräunen würden.

Muratore zufolge – der jetzt in stumme Betrachtung versenkt war – zählte Vittoria gerade fünfzehn Jahre, aber ihre frauliche Schönheit war bereits voll erblüht. Die kleine Maurin hielt ich für höchstens zehn. Auch sie war sehr hübsch: zierlich und gut gebaut, hellbrauner Teint, rabenschwarzes Haar, große schwarze Augen, kleine Nase, großer Mund.«

»Dann ähnelte sie ja mir«, sagte ich mit gemischten Gefühlen.

»Ja, Aziza, und du wirst sehen, daß diese Ähnlichkeit für den Fortgang der Geschichte Folgen hatte. Die Kleine erschien mir wie ein wichtiger Bestandteil des Bildes, das ich betrachtete. |171|Man hätte meinen können, ein großer Künstler habe sie an diesen Platz gestellt, nicht um Vittorias Teint zu schützen, sondern um – durch den Kontrast – Vittorias rosige Haut, ihr zum Trocknen ausgebreitetes goldenes Vlies und ihre blauen Augen zur Geltung zu bringen. Freilich konnte ich nur vermuten, daß Vittoria blaue Augen habe: sie hielt die Lider gesenkt und las.«

»Aber wie konntest du das alles sehen, Paolo? Sie saß auf der Terrasse, du warst auf der Straße.«

»Dem Haus gegenüber stand eine kleine Kirche, deren Vorhof, zu dem ein paar Stufen hinanführten, auf gleicher Höhe mit der Terrasse lag. Dort fanden sich ihre Bewunderer ein: Männer und Frauen jeden Alters verweilten in schweigender Verehrung, bis sie sich satt gesehen hatten und Neuankömmlingen Platz machten. Manche kamen andächtig vom Gebet aus der Kirche und blieben auf dem Vorhof stehen, um ebenfalls an dem heidnischen Kult um Vittorias Schönheit teilzunehmen.›Man sieht ihre Augen nicht‹, sagte ich zu Muratore. Ich hatte leise gesprochen wie an einem heiligen Ort. Trotzdem hatte ich die Anbeter gestört, wie ihre tadelnden Blicke mir zu verstehen gaben.›Warten Sie‹, flüsterte Muratore und zog mich gebieterisch am Ärmel, um mich an den Respekt zu erinnern, der dem Idol gebührte.

Und wirklich: Vittoria legte nach einer Weile ihr Buch in den Schoß, wo sie es mit der linken Hand aufgeschlagen hielt; sie drehte den Kopf zu uns, sah uns mit ihren großen blauen Augen an und grüßte mit einem leichten Kopfnicken. Das geschah ohne Hochmut und ohne plumpe Vertraulichkeit, aber mit wahrhaft königlicher Würde und Anmut. Durch unsere Gruppe ging eine Bewegung, die Frauen verneigten sich, die Männer zogen den Hut, was ich, dem Beispiel Muratores folgend, ebenfalls tat. Dann zupfte mich Muratore am Ärmel zum Zeichen des Aufbruchs; weil der Vorhof so klein sei, erklärte er mir, müsse man Platz für die anderen machen: ›Denn der Mensch braucht Schönheit genauso zum Leben wie das tägliche Brot.‹«

»Ein Weiser«, sagte ich, »was ist aus ihm geworden?«

»Bei meiner Rückkehr nach Venedig habe ich mich nach ihm erkundigt. Er starb kurz nach meinem Besuch in Gubbio, mir ist nur die Erinnerung an seinen Namen geblieben: Muratore, und an seine kleinen schwarzen Augen, die so lebendig |172|aus dem pergamentenen Gesicht strahlten. Ist es nicht seltsam, daß er in meinem Leben eine so große Rolle gespielt hat? Doch wie könnte ich es wagen, hier von göttlicher Vorsehung zu sprechen, ohne Gott den Herrn zu beleidigen und den Heiligen Vater zu ärgern? Vielleicht«, fuhr Paolo schalkhaft fort, »gibt es noch einen anderen Gott: den Zufall.«

»Ach, Paolo«, lachte ich (doch die Madonna weiß, wie wenig mir danach zumute war!), »du bist ein schlechter roumi! Und ein schlechter Mohammedaner dazu! Es gibt nur den einen Gott!«

»Der Zufall war auch weiter mit im Spiel«, sagte Paolo. »Bei meinem ersten Kampf gegen die Piraten kaperte ich Abensurs Feluke und kaufte der Mannschaft eine kleine Maurin ab, die Vittorias Sklavin aufs Haar glich.«

Ich schluckte und fragte mit erstickter Stimme:

»Deswegen hast du mich gekauft?«

Denn ich entsann mich genau, wie starr er mich vom ersten Augenblick an fixiert hatte.

»Nein, Aziza«, antwortete er, ohne auf den Unterton in meiner Frage zu achten, »ich hätte dich auf jeden Fall gekauft.« Und schnell fügte er hinzu: »Ich habe mich schon oft zu diesem Kauf beglückwünscht. Doch in all den Jahren, die wir zusammen die Meere befuhren, sah ich dich stets einen weißen Sonnenschirm über Vittorias Gesicht halten, wenn mein Blick auf dich fiel.«

»Aber das war ich doch gar nicht!«

»Ich weiß. Ich wußte es vom ersten Tag an, nachdem ich dich befragt hatte.«

»Kurz und gut, ich habe dir geholfen, dich an das anmutige Bild von Gubbio zu erinnern.«

»Ja, genau. Dir verdanke ich, daß es mir immer wieder so lebendig, frisch und zauberisch vor Augen trat.«

Ich schwieg. Was hätte ich auch sagen sollen? Da hatte ich Antwort auf meine Frage, und sie machte mir schwer zu schaffen. Gewiß, ich kannte von Anfang an meinen Platz in seinem Herzen und in seinem Leben, doch er war kleiner noch, als ich gedacht hatte: ich war nichts als eine braune Hand, die einen Sonnenschirm über Vittorias helles Gesicht hält.

 

 

|173|Paolo Giordano Orsini:

 

Die dreitägige Überfahrt nutzte ich, um vom Schiffszimmermann Bug und Heck des kleinen Landungsbootes mit einem Deck ausrüsten zu lassen. Unter diesem doppelten Deck befahl ich Kork anzubringen, soviel wie aufzutreiben war: um die Schwimmfestigkeit des Bootes zu erhöhen und um es im Falle des Kenterns schneller wieder aufrichten zu können. Aus dem gleichen Grund ließ ich auch den Loskiel verstärken, damit Marcello und ich uns beim Kentern mit beiden Füßen darauf abstützen und so unser beider Gewicht einbringen könnten, um das Boot wieder flottzumachen. Dieses Manöver, vom Prinzip her einfach, ist schwierig auszuführen und setzt voraus, daß das Boot leicht und die Besatzung gut aufeinander eingespielt ist. Ich habe es in jungen Jahren oft zum Zeitvertreib geübt, sogar bei stürmischer See, und stets mit gutem Erfolg. Für den Fall, daß wir wegen der hohen Brandungswellen die Ruder sichern müßten, begnügte ich mich nicht mit den Rojekollen. Um zu verhindern, daß die Ruder abgetrieben würden, wenn wir zu Wasser gingen, befestigte ich sie mit Hanfseilen, die mehr Zugbelastung aushalten als Ketten.

Ich achtete auch darauf, unsere Kleidung so leicht wie möglich zu halten, und verzichtete auf Stiefel und Degen, nur den Dolch nahmen wir mit. Mein Erster Offizier insistierte, daß wir Korkgürtel anlegen sollten, und ich folgte seinem Rat, ohne mich der Illusion hinzugeben, sie könnten bei dem hohen Seegang von Nutzen sein.

Das Schwierigste war, das Boot zu Wasser zu lassen, einzusteigen und so schnell wie möglich von der Galeere wegzurudern, damit es nicht von den Wellen gegen die Bordwand geschleudert und zerschellen würde. Deswegen führten wir die Operation im Windschatten des Schiffes durch; ich hatte außerdem befohlen, auf der Leeseite Öl auf das Wasser zu gießen – Nichtseeleute sind immer wieder erstaunt, daß die Wogen dadurch geglättet werden. Wir verhinderten so, daß das Boot schon bei der ersten Berührung mit der See kenterte. Wir mußten uns sehr beeilen, denn die Galeere, die unsere Einschiffung deckte, bekam Dwarswind und hatte schwer zu kämpfen. Sowie sich das Boot etwas entfernt hatte, richtete sie sich wieder aus den Wellen auf; und da wir nun nicht mehr in ihrem Windschatten |174|lagen, trieb uns der Sturm, der von der See in Richtung Land blies, der Küste entgegen. Die Ruder nutzten wir vor allem, um Kurs auf die Lichter zu halten, die ich, wenn ich mich umdrehte, hinter mir in den Fenstern des Häuschens leuchten sah, das il mancino mir beschrieben hatte.

Obwohl es fast Nacht war, lag ein fahlgrüner Schimmer über dem Wasser, und so konnte ich, wenn wir mit furchteinflößender Geschwindigkeit über einen Wellenberg glitten, vage die Konturen der Hütte erkennen, wo mich – die Kerzen bewiesen es – Vittoria Peretti erwartete. Diese Vorstellung machte mich trunken vor Glück, obwohl ich es immer noch nicht glauben konnte, so unerreichbar erschien mir mein Idol sogar in diesem Augenblick, da ich mein Leben riskierte, um zu ihr zu gelangen. Aber selbst wenn ich zehn Leben hätte statt des einen, würde ich sie alle für Vittoria wagen.

Ich behielt indes einen klaren Kopf und schrie Marcello auf der Bank vor mir knappe Befehle zu, entweder backbords oder steuerbords zu rudern oder gegenzuhalten, damit das Boot lotrecht zu den Wellen blieb und nicht schlingerte oder gar kenterte. Allerdings wußte ich, daß bei diesem Seegang die größte Gefahr nicht vom Meer ausging, sondern von der Küste, an der das Boot zu zerschellen drohte. Als die Lichter oben auf der Klippe verschwanden, begriff ich, daß wir sie nicht mehr sehen konnten, weil wir uns direkt unter der Steilwand befanden. Die nächsten Minuten würden über unser Leben entscheiden, je nachdem ob wir die Einfahrt zur Felsenbucht fanden oder nicht.

Im letzten Licht des Tages konnte ich gerade noch die hohe Schaumkrone der Wellen erkennen, die sich am Fuße des Felsens mit ohrenbetäubendem Tosen brachen. Wir flogen mit solcher Geschwindigkeit darauf zu, daß es schien, als käme uns der Fels entgegen, um uns zu zermalmen. Bei der schlechten Sicht und dem Sturm mußte ich mich schnell entscheiden und dann alles dem Zufall überlassen. Ich schrie einen Befehl und drehte mehr nach links; die vor uns aufragende Wand schien wunderbarerweise nach rechts auszuweichen. Zu meiner unendlichen Erleichterung hatte ich die Einfahrt gefunden.

Die Freude riß mich fast von der Bank, dauerte aber nicht lange an, denn das Wasser stürzte mit solcher Gewalt in die Bucht, daß wir trotz verzweifelter Anstrengung die Kontrolle |175|über das dahinrasende Boot verloren. Ich konnte noch das Riff an dem es umbrandenden Schaum erahnen. Es war nur einen Steinwurf weit weg, doch das Boot gehorchte unseren Rudern nicht mehr und wurde auf die Klippe geschleudert. Für einen Moment hatte ich die unsinnige Hoffnung, es könne ohne Schaden darüber hinwegkommen, doch es blieb hängen; eine zweite, noch höhere Welle riß uns von den Bänken und schleuderte uns in die enge Einfahrt, wo wir, halb schwimmend, halb willenlos getrieben, plötzlich Sand unter den Füßen spürten. Wir glaubten uns schon gerettet, da erlebten wir noch einen bangen Augenblick, denn die starke Brandung zog uns wieder seewärts, kaum daß wir Grundberührung gehabt hatten. Ich brüllte Marcello ins Ohr, möglichst tief unter der Brandungswelle in Richtung auf die Bucht zu tauchen und sich sofort mit beiden Händen in den Sand zu krallen. Der Sog der Brandung war jedoch so stark, daß er uns drei- oder viermal wieder wegriß, und wir wären sicher in diesem ungleichen Kampf unterlegen, hätte nicht das Toben der Wellen etwas nachgelassen, so daß wir schließlich die Grotte am Ende der Bucht erreichten.

Zum Glück führte die Grotte nicht geradeaus in den Felsen, in der Achse der Dünung, sondern verlief etwas schräg dazu, so daß wir vor der Brandung geschützt waren, unserer Erschöpfung nachgeben und uns auf dem Sand niederlegen konnten, auch wenn wir nicht im Trockenen waren. Das Wasser, in dem wir regungslos ausgestreckt lagen, war kaum einen Fuß hoch, und seine sanfte, langsame Bewegung im Rhythmus der Brandung erschien mir im Vergleich zu dem soeben Erlebten wie freundliches Streicheln. Kleine Wellen überspülten mich manchmal bis zum Hals und kamen mir viel kälter vor als die Wogen, die uns eben noch in der Einfahrt zur Bucht hin und her geschleudert hatten. Die Kälte tat jedoch dem Gefühl von Behaglichkeit und Erleichterung, das ich empfand, wie ich da der Länge nach bis zur Brust, mitunter sogar bis zum Hals im Wasser lag, keinen Abbruch. Seltsamerweise muß ich trotz Nässe und Kälte für wenige Minuten eingeschlafen sein, denn ich spürte, wie mich Marcello rüttelte und mir zurief, der Wellengang habe weiter nachgelassen und wir sollten das nutzen, um die Stufen in der Felswand zu erklimmen. Ich entsinne mich, daß ich die wartende Vittoria völlig vergessen hatte und nur schmerzlich bedauerte, die Grotte verlassen zu müssen, in der |176|ich Zuflucht vor der feindlichen Welt gefunden hatte wie in einer Mutter Schoß.

Sowie wir aus unserem Unterschlupf krochen, glaubten wir, in den Alptraum zurückzutauchen: Brecher von so ungeheurer Gewalt empfingen uns, daß es schien, als versuchten sie mit wütendem Haß, uns von den mühsam ertasteten Stufen herunterzureißen. Ich begriff instinktiv, daß ich mich nur mit den Wellen vorwärtsbewegen durfte, beim Zurückfluten des Wassers aber mit aller Kraft mich an den Fels krallen mußte, wie eine Napfschnecke an seinen Unebenheiten klebend, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren und von der Brandung in die Tiefe gezogen zu werden. Unser Aufstieg vollzog sich daher außerordentlich langsam, und ich erinnere mich, daß ich die ganze Zeit einen absurden, heftigen Unwillen gegen die Leute empfand, die zwar die Stufen gehauen, aber nicht daran gedacht hatten, einen eisernen Handlauf an der Felswand anzubringen. Es kam mir gar nicht in den Sinn, daß diese Treppe nur dem Zweck dienen sollte, bei schönem Wetter in die Bucht hinabzusteigen.

Auf halber Höhe konnten uns die Wellen nicht mehr erreichen, dafür trafen uns nun so heftige Sturmböen, daß wir nach wie vor in Gefahr schwebten, von der Steilwand gerissen zu werden. Die Gefahr hatte sich sogar noch vergrößert, zumal wir ganz durchnäßt waren und der Wind uns vor Kälte erstarren ließ: unsere Bewegungen wurden steif, unser Griff nach dem Felsen unsicher. Schwindelgefühle quälten mich so, daß ich zwei- oder dreimal versucht war, meinen Griff zu lösen und mich vom Sturm in die Tiefe schleudern zu lassen. Auch mein Geist war völlig erlahmt und desorientiert: wider alle Vernunft sah ich in diesem Sturz nicht die Vernichtung, sondern eine Ruhepause, die mir das Überleben ermöglichen könnte. Indes bewegte ich mich rein mechanisch weiter vorwärts, ich ahmte blind Marcellos Gesten nach, der vor mir kletterte. Und ich wunderte mich, daß er, der Jüngere, mir Untergebene, voranging: ich hatte ihn hinter mir gewähnt.

Was dann geschah, wurde mir gar nicht richtig bewußt. Ich hatte das Gefühl, nicht mehr den Felsboden, sondern weichen, glatten Rasen unter mir zu spüren. Als ich jedoch den Fuß hob, um die nächste Stufe zu ersteigen, trat ich ins Leere und fiel mit dem Gesicht zur Erde. Ich empfand einen heftigen Schmerz am |177|Schenkel und wurde – vielleicht auch durch meine Erschöpfung – ohnmächtig.

Obwohl ich mich nicht rühren, nicht sehen, nicht sprechen konnte, verlor ich das Bewußtsein nicht ganz. Ich hörte um mich her Gemurmel, ohne etwas zu verstehen, und merkte deutlich, wie ich von liebevollen Armen getragen und auf einem weichen Teppich vor einem Feuer niedergelegt wurde. Aber ich war, wie gesagt, nur mit Unterbrechungen bei Bewußtsein: bald sah ich etwas, bald sah ich nichts; in meinem Hirn wechselten unentwegt schwarze Löcher mit hellen Lichtflecken.

Ich fühlte jedenfalls, wie mein Kopf angehoben, wie ich ausgezogen wurde, und in dem Stimmengewirr um mich her erkannte ich die Stimmen zweier Frauen, eine hohe und eine tiefe. Das tröstete mich über die Maßen. Ich dachte nicht im entferntesten an Vittoria, sondern glaubte mich in die Kindheit zurückversetzt, als meine Mutter und ihre Zofe mich aus dem Badezuber hoben und mit warmen Handtüchern abtrockneten. Mir war, als durchlebte ich diesen köstlichen Augenblick noch einmal. Frauen, deren sanfte, musikalische Stimmen ich zwar vernahm, die ich aber nicht sah, rieben mich kräftig ab, so daß Wärme und Leben in meinen Körper zurückkehrten. Dann verband mir die eine mit viel Behutsamkeit den Schenkel; ich spürte nur einen durchaus erträglichen Schmerz, der mich zudem wieder etwas zu mir kommen ließ, und ich gewahrte nun zwei über mich gebeugte Köpfe, einen blonden und einen braunen, wenn auch die Konturen noch sehr verschwommen waren. Die Farbe der Augen konnte ich nicht erkennen, ihren Ausdruck dagegen nahm ich deutlich wahr: sie blickten sanft, ängstlich und liebevoll. Ich bemühte mich, den Frauen zuzulächeln, was mir aber leider nicht gelang. Meine Gesichtsmuskeln waren wie erfroren.

Eine der Frauen trocknete mein Haar und schob mir ein Kissen in den Nacken. Dann verschwanden beide. Ein Gefühl schmerzlicher Verlassenheit erfüllte mich, das aber nicht lange vorhielt, denn sogleich wurde mein Kopf wieder angehoben, und eine Männerstimme sagte: »Trinkt, Durchlaucht, das wird Euch guttun.« Meine Lider flatterten: diesmal erkannte ich deutlich Marcello, ohne zu begreifen, wo ich war und was ich hier tat. Zu meinem großen Erstaunen wurde mir der Becher |178|wieder entzogen, was mich sehr gegen Marcello aufbrachte. Ich runzelte die Stirn; doch als ich den Becherrand wieder zwischen den Lippen spürte und die herbe, gezuckerte warme Flüssigkeit von neuem durch meine Kehle rann, trank ich alles bis zur Neige mit geschlossenen Lidern. Dann schlug ich die Augen weit auf. Endlich war ich aus schwarzer Nacht in strahlende Helligkeit aufgetaucht: ich erkannte Vittoria.

Wäre ich ein Eremit gewesen, der in seiner Höhle betet – die plötzliche Erscheinung der Jungfrau Maria in ihrer himmlischen Glorie hätte keinen größeren Eindruck auf mich machen können. Vittorias Gesicht schien mir die Schönheit der ganzen Welt widerzuspiegeln. Ich betrachtete es mit einer Liebe, die sich zur Anbetung steigerte, als sich Vittoria sanft und mütterlich über mich beugte und mich ansprach. An ihrem Tonfall hörte ich, daß sie mir eine Frage stellte, verstand aber kein einziges Wort. Die Musik in ihrer Stimme erschien mir so einschmeichelnd und trostreich, daß ich allein vom Zuhören vor Glück dahinschmolz.

Mit rührender Geduld wiederholte sie ihre Frage, von der ich diesmal das erste Wort verstand: »Durchlaucht.« Ich schüttelte den Kopf zum Zeichen, daß sie mich mit meinem Vornamen anreden sollte, und sagte: »Paolo.« Allein dieses eine Wort kostete mich große Anstrengung. Das spürte sie offenbar, und weil sie mir in meinem gegenwärtigen Zustand keinen Widerstand leisten wollte, sagte sie lächelnd:

»Paolo.«

Sie wiederholte ihre Frage, die ich nun verstand: ob ich essen und trinken wolle. Ich nickte. Doch mit dieser Antwort begnügte sie sich nicht.

»Ihr müßt ›ja‹ sagen, Paolo.«

Ich formulierte mühsam:

»Ja.«

Sie beugte sich über mich und verbesserte:

»Ja, Vittoria.«

Ich hob meinen Blick zu ihren großen blauen Augen, die geduldig, nachsichtig und milde auf mich heruntersahen, und mit neuer Anstrengung sprach ich ihr nach:

»Ja, Vittoria.«

Meine Antwort schien sie befriedigt zu haben, denn sie schenkte mir ein hinreißendes Lächeln, entfernte sich und |179|machte sich am Kamin zu schaffen. Jetzt konnte ich auch ihren Körper sehen, der bisher durch die Nähe ihres Gesichts meinem Blick quasi entzogen war. Sie trug ein weites Hauskleid, ganz ähnlich wie damals in Gubbio auf der Terrasse. Mit den Augen verfolgte ich jeden ihrer Schritte, jede ihrer Bewegungen. Mir war, als verkörpere sie das gesamte lebende Universum und als existierte ich nur durch sie.

Nach kurzer Zeit kehrte sie mit einem Becher zurück, den sie mir reichte. Ich nahm ihn nicht. Ich wäre wohl dazu in der Lage gewesen, doch ich hoffte, sie würde meinen Kopf wieder mit ihrem Arm anheben und mir den Becher an die Lippen setzen. Was sie auch tat. Da mir inzwischen Kraft und Bewußtsein zurückgekehrt waren, erfüllten mich die Nähe ihres Gesichts und ihrer Brüste sowie ihr warmer Arm unter meinem Nacken mit einem noch größeren Glücksgefühl als beim ersten Mal, was sie irgendwie gespürt haben muß, denn sie atmete schneller.

Auch den Kuchen, den sie mir hinhielt, nahm ich nicht, obwohl mir bei seinem Anblick das Wasser im Munde zusammenlief, denn meine letzte Mahlzeit lag viele Stunden zurück (was auch meine Schwäche teilweise erklärte). Sie zerkrümelte den Kuchen in den Becher mit dem gezuckerten warmen Wein. Als der Kuchen aufgeweicht war, fütterte sie mich wie ein Kind mit einem kleinen Löffel, zunächst etwas ängstlich, dann immer beruhigter, weil sie sah, wie gierig ich schluckte.

So labte sie mich mit dem Kuchen und sah mir strahlend beim Essen zu. Dann stellte sie den Becher am Kamin ab, kam zurück, kniete sich hin und wischte meinen Mund mit einer kleinen Serviette ab. Da nahm ich ihre Hand und küßte sie inbrünstig.

»Oh, Paolo!« rief sie fröhlich. »Endlich bewegt Ihr Euch, Ihr blickt auch lebhafter und habt wieder Farbe.«

Sie neigte sich über mich und legte ihre Lippen leicht auf meinen Mund. Ich erwiderte ihren Kuß, voller Angst, sie könne den meinen zu begehrlich finden und erschrecken. Aber meine Arme taten unwillkürlich, wonach mein Herz verlangte: sie umschlangen ihren Leib, und mit unsagbarer Erleichterung spürte ich, wie Vittoria in meiner Umarmung dahinschmolz.

 

 

|180|Caterina Acquaviva:

 

Als ich am nächsten Tag im Morgengrauen erwache, weiß ich zunächst nicht, warum ich vor dem Kamin auf dem Teppich liege. Dann fällt mir alles wieder ein: Marcello war in meinem Bett eingeschlafen, und ich hatte es ihm allein überlassen, da es für zwei zu schmal ist.

Mir schmerzt der Rücken, weil ich auf dem harten Boden geschlafen habe; ich richte mich auf und sehe nach Marcello. Nicht einmal Kanonendonner würde ihn jetzt wecken. Jetzt könnte ich nach Herzenslust schreien, ohne ihn zu erzürnen. Andererseits habe ich gar keine Veranlassung mehr zu schreien, da er ja schläft.

Unter der Asche ist noch Glut, so daß ich das Feuer wieder anfachen kann. Es ist nicht eigentlich kalt, aber die Kälte wird mit Tagesanbruch kommen, und er soll sich beim Erwachen behaglich fühlen. Beinkleider und Wams, die er gestern abend zum Trocknen ausgebreitet hatte, sind trocken, aber vom Meersalz weiß verkrustet und schwer geworden. Man müßte sie in klarem Wasser ausspülen und noch einmal trocknen, was ich ohne seinen ausdrücklichen Befehl nicht wage. Vielleicht muß er sich schnell anziehen, um zu fliehen oder sich zu verstecken.

Ich bin’s zufrieden, diesen unzugänglichen Menschen hier zu haben, selbst wenn er grollt und schlecht gelaunt ist. Gleichzeitig sterbe ich fast vor Angst. Die beiden haben sich in die Höhle des Löwen begeben! Zwei Dolche gegen vierzig Arkebusen! Ich habe das Gefühl, daß alles ein schlechtes Ende nehmen wird. Meine armen Eltern: was werdet ihr für Augen machen, wenn euch der Pfarrer in der Kirche von Grottammare von der Kanzel herab verkündet, daß eure unglückliche Tochter wegen Beihilfe zum Ehebruch gehängt wurde. Und wer von den Leuten im Hafen wird dann noch mit euch reden?

Ein wenig Tageslicht dringt durch die Fensterläden, und da sie nach innen öffnen, mache ich sie einen Spalt breit auf, um nach dem Wetter zu sehen. Der Himmel ist klarer als gestern, Blau schimmert zwischen den Wolken hindurch, und im Osten kann man schon die Sonne am Horizont erahnen.

Sehr vorsichtig, um Marcello nicht zu wecken, öffne ich das Fenster und atme die Morgenluft ein. Ich höre ein leichtes Rascheln im Gras, beuge mich etwas vor und erblicke zu meiner |181|Überraschung die Signora. Sie hat einen leichten Mantel über ihr Hauskleid geworfen und wandelt auf dem Rasenstreifen auf und ab.

Sie wirft den Kopf in den Nacken (was sie nicht tun dürfte, denn die Spitzen ihres Haares schleifen hinter ihr über das feuchte Gras) und saugt die Morgenfrische in tiefen Zügen ein. Wie schön sie ist! Ein zum Leben erwecktes Götterbild!

Vielleicht wird sie mir zürnen, wenn ich mich zu ihr geselle. Doch bevor ich das tue, riskiere ich einen Blick auf die andere Seite des roten Vorhangs. Der Fürst schläft nackt auf Vittorias Bett. Ich betrachte ihn einen Moment. Was für Schultern er hat! Meine Mutter würde sagen, er sei un boccone da re1. Und noch dazu ein Fürst! Ich trete leise vors Haus. Vittoria erblickt mich, ist aber nicht böse, sondern scheint erfreut, mich zu sehen. Sie ist glücklich an diesem Morgen. Wie verzaubert.

»Caterina«, sagt sie mit leuchtenden Augen, »sieh nur, wie schön die Welt ist! Es riecht so gut: nach feuchtem Gras, nach Erde, nach Holzfeuer.«

Mit diesen Worten kommt sie auf mich zu und umarmt mich zum ersten Mal, seit ich ihr diene. Ich bin gerührt. Wer von uns beiden die andere mehr liebt, ist mir klar. Aber daran bin ich gewöhnt. Ich habe immer mehr gegeben als empfangen.

»Man riecht auch das Meer«, sage ich, um überhaupt etwas zu sagen.

»Das Meer, das ihn mir gebracht hat!« entgegnet sie leise mit Inbrunst.

Wenn man sie so hört, könnte man denken, das Meer sei zu keinem anderen Zweck erschaffen worden! Ich schaue sie von der Seite an. Mein Instinkt sagt mir: das ist nicht mehr die gleiche Frau wie gestern. Sie sieht aus wie jemand, der in der Hölle eingeschlafen und im Paradies erwacht ist. Es stimmt mich traurig: was sie in dieser Nacht kennengelernt hat, hätte sie schon seit Jahren empfinden können, wenn sie mit einem anderen als Peretti verheiratet wäre. Armer Signor Peretti! Selbst im Bett hat er noch dem Kardinal gehorchen müssen. Nun ist seine Signora für ihn verloren, und zwar auf immer.

Vittoria schweigt. In Gedanken wähnt sie sich wohl noch in den Armen des Fürsten. Wir schlendern stumm hin und her, |182|während unsere Männer schlafen, und atmen den Geruch von Erde und Feuchtigkeit und was weiß ich noch ein. Die Signora leuchtet förmlich vor Glück. Sie ist sich offenbar über die Situation überhaupt nicht im klaren. Und wenn ich ihr sagte, daß wir alle vier in der nächsten Stunde getötet werden können, würde sie mir nicht glauben.

Sie hat mich eingehakt, und da sie einen halben Kopf größer ist als ich, muß ich lange Schritte machen, um mitzuhalten. Doch als sie sich dem Felsvorsprung nähert, der über die Steilwand hinausragt, mache ich mich los und sage:

»Verzeihung, Signora! Doch dorthin bringt Ihr mich nicht für alles Gold der Welt! Dieser schreckliche Abgrund! Ein falscher Schritt auf dem feuchten Gras, und Ihr liegt zerschmettert in zehn Klafter Tiefe.«

»Come sei stupida, Caterina!« lacht sie. »Warum sollte ich einen falschen Schritt machen? Und wo siehst du Gras? Alles Felsboden. Los, komm!«

»Nein, nein, Signora, niemals! Vergebung, Signora! Der Felsvorsprung hängt so weit über! Wenn er nun unter Eurem Gewicht wegbricht!«

Sie lacht wieder.

»Er könnte hundertmal mein Gewicht aushalten. Komm doch, Caterina!«

»Vergebung, Signora, nein. Mir wird schon schlecht vom Hingucken. Seht nur, wie ich zittere.«

»Ja, stimmt, du zitterst, du Dummchen. Dabei ist das ganz ungefährlich.«

»Für Euch vielleicht‹, sage ich und ziehe mich schrittweise zum Haus zurück. »Aber nicht für mich: Abgründe ziehen mich an!«

»Komm doch«, lockt sie fröhlich. »Deine Einbildungskraft geht mit dir durch. Das Risiko ist gleich Null! Guck!«

Dabei wagt sie sich bis an den äußersten Rand des Felsvorsprungs, der nicht breiter als ein Schemel ist. Je weiter sie sich vorwagt, um so mehr ziehe ich mich zurück. Endlich stoße ich mit dem Rücken an die Haustür; ich zittere wie Espenlaub. Ganz bestimmt wird sie abstürzen! denke ich und verberge den Kopf in meinem Rock: ich will den Sturz nicht sehen noch ihren schrecklichen Schrei hören, wenn der Boden unter ihr nachgibt.

|183|Doch auch durch den Stoff hindurch höre ich ihr »Komm, komm, Caterina« und ihr schelmisches Lachen. Dann plötzlich Stille! Ich hebe den Kopf.

Die Signora steht aufrecht am Rande des Felsvorsprungs. Ihr langes blondes Haar wird von der aufgehenden Sonne vergoldet und weht hinter ihr im leichten Wind, der ihr Kleid um ihren Körper schmiegt. Aber sie lacht nicht mehr und ist sehr bleich. Sie hat die Stirn gerunzelt und ihre funkelnden blauen Augen mit hochmütigem Ausdruck auf jemanden zu meiner Linken geheftet. Ich wende den Kopf in die Richtung ihres Blickes und sehe Signor Peretti: barhäuptig, ganz außer sich, den blanken Degen in der Hand, an der Spitze von einem Dutzend Arkebusieren. Er bleibt stehen, und sofort halten auch die Soldaten in fünfzehn Schritt Entfernung hinter ihm an.

»Signora«, sagt er mit leiser, tonloser Stimme, »die Turmwache hat heute morgen die Trümmer eines Bootes in der Bucht entdeckt. Einer der Männer hat sie aus dem Wasser gefischt. Auf einem Bugteil hat er den Namen der Galeere gelesen, von der das Boot ausgesetzt wurde. Die Galeere gehört einem hohen Herrn, dessen Namen ich nicht nennen will. Ich möchte mich vergewissern, daß er sich nicht bei Euch verbirgt …«

Mit diesen Worten geht er auf die Tür zu, er scheint überrascht, mich dort zu finden, und guckt mich verstört an, als habe er mich noch nie gesehen.

»Signore«, sagt Vittoria, ohne die Stimme zu erheben, aber sehr deutlich, »ich dulde nicht, daß Ihr ohne meine Erlaubnis bei mir eindringt, noch dazu mit Soldaten! Hört mir gut zu: wenn Ihr diese Tür anrührt, stürze ich mich in den Abgrund.«

»Ihr stürzt Euch in den Abgrund?« murmelt Peretti erbleichend.

»Ihr habt es gehört.«

Was mich an diesem Schlagabtausch verwundert, ist, daß keiner von beiden schreit oder tobt. Sie sprechen beide mit leiser Stimme. Man hätte meinen können, sie geben sich Mühe, den Fürsten nicht zu wecken. In Wirklichkeit – doch das wird mir erst später klar – wollen sie nicht von den Soldaten gehört werden, die nur ein paar Schritte entfernt stehen und die Ohren spitzen.

Es folgt ein langes Schweigen. Peretti läßt die Hand sinken, die er schon nach der Klinke ausgestreckt hat. Er ist nicht nur |184|bleich, sein Gesicht ist völlig blutleer. Er schaut die Signora an. Er kennt seine Frau nur zu gut und weiß, sie würde genau das tun, was sie angedroht hat. Und natürlich hat er jetzt keinen Zweifel mehr, wen er im Haus antreffen würde, die Brust seinem Degen darbietend. Heilige Jungfrau! Er runzelt die Brauen, faßt wieder nach der Klinke und steht im Begriff, die Tür zu öffnen.

Doch nein! Er macht nicht auf! Er tritt einen Schritt zurück und schiebt seinen Degen mit zitternder Hand in die Scheide zurück. Dann bedeckt er sein Haupt, verneigt sich tief vor Vittoria und sagt mit Würde leise und fest:

»Beruhigt Euch, Vittoria. Ich bin nie unmenschlich zu Euch gewesen. Und will es auch heute nicht sein, sosehr die Umstände mich dazu drängen könnten.«

Danach macht er auf dem Absatz kehrt und führt die Soldaten weg. Vittoria folgt ihm mit den Augen und hat einen Gesichtsausdruck, den ich noch nie an ihr gesehen habe. Sie, die so tapfer gewesen ist, zittert am ganzen Körper und streckt wortlos beide Arme nach mir aus, als brauche sie meine Hilfe, um von dem Felsen herunterzukommen. Und ich gehe sie holen, obwohl ich mich so sehr vor dem Abgrund fürchte!

Endlich haben wir beide unversehrt die Tür erreicht – ich weiß nicht, wie wir dahin gelangt sind. Die Signora umarmt und drückt mich, legt ihre Wange an mein Gesicht und flüstert mir mit erstickter Stimme ins Ohr:

»Ach, Caterina, mit wieviel Haltung und Würde hat er gehandelt!«

 

 

Marcello Accoramboni:

 

Perettis schöne Geste hat alles verdorben. Sicher, wenn er sich anders verhalten hätte, wären der Fürst und ich nicht mehr am Leben und könnten seine Seelengröße nicht beklagen: Peretti hätte uns mit einem Degenstoß ins Herz im schönsten Schlaf getötet, und wir wären, wie Pfarrer Racasi sagen würde, »im Schmutz unserer Sünden« gestorben; Vittoria läge zerfetzt und zerschmettert am Fuße der Steilwand; Caterina, vorerst überlebend, wäre der weltlichen Gerichtsbarkeit ausgeliefert und bald darauf gehängt worden: die es am wenigsten verdiente, hätte am längsten leiden müssen.

|185|Peretti und seine Sbirren haben kaum Lärm gemacht, und die Unterhaltung zwischen ihm und Vittoria verlief noch leiser. Was mich geweckt hat, war das Schluchzen meiner Zwillingsschwester. Schon als Kind konnte ich sie nicht weinen hören, ohne daß mir die Tränen in die Augen stiegen, ob ich den Grund ihres Kummers kannte oder nicht.

Vittoria bemüht sich, ihr Schluchzen zu unterdrücken, und da sie draußen vor der Tür steht, dringt es nur sehr gedämpft zu mir herein, doch es hat mich geweckt und schnürt mir das Herz zusammen. Ich ziehe mich eilig an und bin kaum fertig, als Vittoria, von Caterina gefolgt, eintritt, den seidenen Vorhang wegschiebt und auf meine Seite kommt. Sie sieht mich schweigend an, legt ihr Hauskleid ab und beginnt, Toilette zu machen.

Was immer Tarquinia sagt: seit unserer frühesten Kindheit bis zum Erwachsenenalter haben Vittoria und ich uns nie voreinander geschämt. Die Superba hat nichts von den Beziehungen zwischen uns Zwillingen begriffen. Sie entrüstete sich, daß ich Vittoria weder anfassen noch umarmen wollte, nahm andererseits aber Anstoß daran, daß meine Schwester sich völlig ungeniert vor mir auszog. Tarquinia versteht nicht, daß diese alberne Heuchelei zwischen uns überflüssig ist.

Als Vittoria fertig ist, geht sie auf die andere Zimmerseite und setzt sich an ihren Frisiertisch, weist aber Caterinas Hilfe mit einer Handbewegung zurück. Ich weiß, was sie jetzt vorhat: die Tränenspuren mit Schminke abdecken. Nicht nur aus Eitelkeit, sondern weil sie sich schämt, geweint zu haben. Vittoria liebt Helden und hält sich ebenfalls für sehr tapfer. Ich bemerke, daß sie während dieser Verschönerung nicht ein einziges Mal zu dem schlafenden Fürsten hinsieht. Das finde ich sehr verwunderlich, denn ich habe noch keine Ahnung, was sich draußen zwischen Peretti und Vittoria abgespielt hat.

Nach dem Schminken winkt Vittoria ihre Zofe heran, die ihr das Haar bürsten soll, was Caterina wortlos tut. Es gibt zwei Gründe für Caterinas ungewöhnliches Schweigen: der Fürst schläft noch, und sie sieht im Spiegel Vittorias Gesicht. Ich mache inzwischen Feuer, und als es richtig brennt, setze ich mich an den Kamin. In dieser Stellung sehe ich Vittoria im »verlorenen Profil«, wie Raffael die Frauen gerne malte: die Schläfe, der Ansatz des Backenknochens, die Nase, die man mehr ahnt denn sieht, die hintere Kinnlinie … Das Profil, das ich betrachte, |186|scheint aus Marmor zu sein, und ich frage mich, was diese Strenge zu bedeuten hat.

Caterina macht mit ihrer Bürste kaum Geräusche, und was Orsini weckt, ist meiner Meinung nach nicht dieses leichte Kratzen, sondern die spannungsgeladene Atmosphäre im Raum. Beim Erwachen macht er – wie ich deutlich beobachten kann – eine freudige Bewegung, als er Vittoria in seiner Nähe erblickt. Er stützt sich auf, seine Augen glänzen, und über sein lächelndes Gesicht zieht ein Leuchten. Er wirkt plötzlich sehr viel jünger und sagt mit klarer, froher Stimme:

»Ich wünsche Euch einen guten Morgen, Vittoria.«

Ich blicke schnell zu Vittoria. Der fröhliche Gruß des Fürsten hat sie offensichtlich verstimmt, denn sie sagt nach kurzem Zögern in kühlem, fast teilnahmslosem Ton, ohne Orsini anzusehen:

»Der Morgen ist gar nicht so gut, Durchlaucht. Es hat nur wenig gefehlt, und er hätte mit einem Blutbad begonnen.«

Caterina hält im Bürsten inne, Orsini setzt sich auf und hüllt sich in ein Laken; Vittoria dreht sich zu ihm herum.

»Wie!« ruft er. »Was sagt Ihr, Vittoria? Waren wir nahe daran, entdeckt zu werden?«

»Nahe daran!« sagt Vittoria.

Und sie erzählt ihm völlig leidenschaftslos, was zwischen Peretti und ihr draußen vorgefallen ist. Ich vernehme den Bericht mit Bestürzung, und Orsini hört ihn, wie ich beobachte, mit wachsender Unruhe, denn ihm entgeht nicht, daß der Held dieser Geschichte nicht er ist, obzwar er sein Leben für die schöne Vittoria riskierte, sondern Peretti, der die schuldbeladenen Liebenden verschont hat, als sie ihm und seinem Degen auf Gnade und Ungnade ausgeliefert waren. Selbst wenn Peretti, so denke ich, ein sehr viel geschickterer Mann wäre, hätte er nicht besser reagieren können, denn seine Großmut hat die Situation total zu seinen Gunsten verändert. Und er hat, das fühlen wir alle drei, nicht aus Berechnung oder taktischen Gründen so gehandelt, sondern aus einer Regung seines Herzens heraus.

Vittoria spricht mit niedergeschlagenen Augen und gleichgültig-monotoner Stimme, und als sie ihren Bericht beendet hat, wendet sie sich wieder ihrem Spiegel zu und gibt Caterina ein Zeichen, weiter ihr Haar zu bürsten. Vittoria schweigt. Wir |187|schweigen ebenfalls, und in der Stille vernehmen wir nur das gleichmäßige Geräusch der Bürste auf Vittorias Haar. Alle drei sind wir von Perettis Großherzigkeit überwältigt. Gesetz, Sitte und Ehre hätten ihm geboten, uns zu töten. Er hat sich darüber hinweggesetzt, um seiner Frau und damit auch uns Gnade zu erweisen.

Ich blicke zum Fürsten. Er hält die Augen gesenkt; seine mächtige Brust hebt sich, als könne er nur mit Mühe atmen. Solange er gegen Meer, Unwetter, Felsenriffe oder gegen eine Übermacht von vierzig Soldaten kämpfte, war er ein Held. Sowie ihm aber Gnade geschenkt wird, ist er nichts als ein Dieb, der sich ein wenig Zuneigung gestohlen hat. Er fühlt sich vor Vittoria aufs äußerste gedemütigt. Und er ist es auch. Man braucht sie nur zu sehen, wie sie mit eisigem Gesicht an ihrem Frisiertisch sitzt und ihn förmlich mit »Durchlaucht« anspricht. Wo sind das zärtliche »Paolo«, ihr »carissimo mio« und die Seufzer dieser Nacht geblieben?

Der arme Orsini, der alles verloren hat in dem Moment, da er alles gewonnen zu haben glaubte, weiß, daß er nur noch eine Erinnerung liebt. Er ist außer sich vor Verzweiflung und Zorn. Und da Raserei ein schlechter Ratgeber ist, sagt er, der sonst so viel Feingefühl besitzt, zwischen zusammengebissenen Zähnen:

»Perettis Gnadenbeweis kann ich nicht annehmen. Mein Entschluß steht fest. Ich werde ihn stehenden Fußes zum Kampf herausfordern. Ich gehe zu ihm.«

Vittorias Reaktion ist niederschmetternd.

»Wenn ich Euch recht verstehe, Durchlaucht«, sagt sie mit eisiger Verachtung, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, »wollt Ihr von Peretti einen Degen erbetteln, um ihn, der Euch verschont hat, zu töten. Wie mutig! Welch Ruhm für Euch, die geschickteste Klinge in ganz Italien, einen mittelmäßigen Fechter in ehrenhaftem Kampf (sie betont grausam dieses ehrenhaft) zu besiegen! Und wie zartfühlend von Euch, damit urbi et orbi bekanntzumachen, daß ich mich Euch hingegeben habe.«

Sie wendet sich zu ihm um, schaut ihm fest in die Augen und fragt mit Nachdruck:

»Glaubt Ihr nicht, Durchlaucht, da wir von meiner Ehre sprechen, daß die Eure Euch gebietet, von heute an weder direkt noch indirekt Signor Peretti nach dem Leben zu trachten?«

|188|Der Fürst hat sich gottlob wieder in der Gewalt und antwortet auf diese Frage, die seine heimlichen Hoffnungen zunichte macht, mit fester Stimme:

»Ja, das glaube ich in der Tat.«

»Schwört Ihr, diesem Gebot zu folgen?«

»Ich schwöre es, da Ihr es verlangt.«

Er hat mit Kälte gesprochen. Er ist es nicht gewohnt, so behandelt zu werden, wie ihn Vittoria behandelt hat. Sein Ton und seine Haltung geben zu verstehen, daß er solches nicht länger hinnehmen wird. Er rafft sein Wams und seine Beinkleider von den Schemeln, auf denen sie zum Trocknen lagen, und geht hinter den Vorhang auf die andere Seite des Raumes, wo ich geschlafen habe.

Gleich darauf erhebe ich mich, stelle mich hinter Vittoria, lasse mir von Caterina die Bürste geben und übernehme ihr Amt. Diese Arbeit erfordert sehr viel Aufmerksamkeit und beide Hände: mit der einen muß man einige der goldenen Strähnen hochnehmen, mit der anderen die Bürste so geschickt handhaben, daß nicht durch ihr Gewicht die Last der Haare noch erhöht und der Kopf nach hinten gezogen wird. Seit meiner Kindheit bin ich in diesem Dienst bewandert, und ich versehe ihn gern. Es ist der einzige körperliche Kontakt, den es zwischen mir und Vittoria je gegeben hat. Von der Berührung dieser Goldfäden muß irgendein Zauber ausgehen, scheint es mir doch, als könnte ich mich nun besser im Labyrinth von Vittorias Gedanken zurechtfinden.

Ich sehe sie im Spiegel. Sie ist bleich, hält die Augen niedergeschlagen, und ihr Gesicht ist völlig ausdruckslos; doch sie ringt unentwegt ihre Hände im Schoß.

Ich sage leise zu ihr:

»Warst du nicht ein bißchen zu hart?«

Sie hebt die Lider, läßt sie aber sofort sinken, nachdem sie mir im Spiegel einen kurzen, aber deutlichen Blick zugeworfen hat. Nein, sie ist nicht hart; sie übt sich nur darin, es zu sein. Sie hat eine Entscheidung getroffen, unter der sie selbst in fast unerträglichem Maße leidet.

Der Fürst tritt hinter dem Vorhang vor und postiert sich rechts neben Vittoria. Er ist vollständig angezogen, das Wams bis zum Hals zugeknöpft; er sieht bleich, aber entschlossen aus.

|189|»Signora«, sagt er, »die schönsten Geschenke werden wertlos, wenn uns die Geber nicht mehr mögen. Erlaubt mir, Euch den Ring zurückzugeben, den Ihr mir geschenkt habt.«

Dabei legt er den Ring mit dem diamantenen V vor Vittoria hin. Sie hebt die Brauen und wirft mir im Spiegel einen finsteren Blick zu.

»Ich habe Euch nichts geschenkt, Durchlaucht.«

»Das beliebt Ihr jetzt zu sagen, Signora, und es macht mich unendlich traurig.«

Er hat mit erstickter Stimme gesprochen, und ich bemerke, wie Vittoria zittert. Doch ich weiß, daß sie Orsini nicht verraten wird, wie dieser Ring in seinen Besitz gelangt ist. Sie verhält sich so wie immer: sie deckt mich.

»Wieso habe ich, seit Ihr hier seid, den Ring nicht an Eurer Hand bemerkt?« fragt sie etwas sanfter.

»Aus Diskretion trage ich das V nach innen.«

Dieser Wortwechsel verläuft ganz einträchtig, beinahe freundschaftlich; doch beide wissen, daß es nur eine vorübergehende Windstille ist und neue Sturmböen über sie hereinbrechen werden.

»Durchlaucht«, bringt Vittoria mit Mühe hervor, »die vergangene Nacht wird sich nicht wiederholen. Eure Ehefrau kann ich nicht werden, weil ich schon verheiratet bin. Und Eure Metze will ich nicht sein.«

»Signora«, sagt Orsini unwillig, »ich habe nie in solchen Begriffen an Euch gedacht.«

»Also dann: Eure Geliebte, wenn Euch dieser Ausdruck besser gefällt.«

»Und das wollt Ihr nicht mehr sein?«

»Nein.«

»Kommt dieser Gesinnungswandel nicht etwas spät?« fragt er mit einem Zornesausbruch, den er sofort bereut, denn er stellt sich, zu Boden blickend, mit eingezogenem Kopf an den Kamin und nimmt die Hände auf den Rücken, die er so fest drückt, daß die Knöchel weiß werden.

»Es ist niemals zu spät, sich wieder in die Gewalt zu bekommen«, antwortet Vittoria hoheitsvoll.

»Das ist eine moralische Haltung, über die wir nicht streiten wollen«, entgegnet Orsini leise mit zornbebender Stimme.

Und er fährt fort:

|190|»Als ich gestern von Bord meiner Galeere ging, habe ich meinem Ersten Offizier gesagt, er solle, wenn ich im Morgengrauen nicht zurückkäme, dies als ein Zeichen werten, daß mein Boot zerschellt ist. Dann solle er den Anbruch der Nacht abwarten und, wenn er wieder Kerzen in Euren Fenstern sähe, ein anderes Boot schicken, uns abzuholen. Bis dahin wollet Ihr mir bitte Eure Gastfreundschaft gewähren. Ich werde alles tun, damit meine Anwesenheit Euch nicht behelligt.«

Sie erwidert nichts. Er verbeugt sich steif und geht in die andere Hälfte des Zimmers. Ich gebe Caterina die Bürste zurück und folge ihm; da er sich auf dem einzigen Sessel niedergelassen hat, setze ich mich aufs Bett. Er hat sich zurückgelehnt, die langen Beine von sich gestreckt, und starrt in die Flammen.

Auch ich sehe ins Feuer, und wenn ich es jetzt fertigbrächte, die Flammen zu bewundern, würde ich sie sehr schön finden. Es ist eine Bruyèrewurzel, die da sanft vor sich hin brennt – ohne die hochzüngelnden Flammen oder die gelbe Glut, die andere Hölzer zu entwickeln pflegen. Die Bruyerewurzel ist rund und fest wie ein Totenschädel, und an ihrer glühenden Außenlinie tanzen und züngeln gezackte kleine Irrlichter von bläulicher, beinahe durchsichtiger Farbe, nicht höher als zwei Zoll. Oh, nein, das ist nicht die große Leidenschaft, die hell auflodert und knistert. Das ist eher das kleine Feuer, an dem man sterben könnte. Doch für uns, wie wir da sitzen und ins Feuer blicken, weil wir nichts anderes zum Ansehen haben, ist keine Rede vom Sterben. Wir sind nur allzu lebendig und fühlen uns dadurch – wenn ich dem verschlossenen Gesichtsausdruck des Fürsten glauben darf – einigermaßen gedemütigt.

Eine Stunde später wird an die Tür geklopft. Orsini rührt sich nicht von der Stelle und ich mich auch nicht. Falls Peretti sich anders besonnen hat und diese Geschichte durch einen Degenstoß sofort ein ruhmloses Ende finden soll – in Gottes Namen! wenn es doch so wäre! Ich bin des fiebrigen Geschäfts, das da Leben heißt, müde. Welchen Sinn hat es denn schon?

Doch es erscheinen nur der Majordomus und ein paar Diener, die eine Erfrischung bringen. Der Majordomus kann uns nicht sehen, da uns der Vorhang vor ihm verbirgt. Und offensichtlich ahnt er nichts von unserer Anwesenheit, denn er verweilt sehr lange und schwatzt wie eine Elster.

Nachdem er gegangen ist, bringt uns Caterina unseren Teil. |191|Ich will ihr das Tablett abnehmen, und als sie es mir übergibt, streichelt sie schnell meine Hände. Unseren Teil: hat Caterina ihn sich vom Munde abgespart oder ihre Herrin? Oder hat Peretti größere Rationen befohlen? Wie ich sehe, brennt der Fürst darauf, diese Gabe zurückzuweisen – denn nach allem, was geschehen ist, sich von Peretti auch noch beköstigen zu lassen, das ist zuviel. Aber bei genauerer Überlegung empfindet er diese Ablehnung wohl als unrealistisch und kindisch, denn er beginnt wortlos und mit niedergeschlagenen Augen, aber mit Appetit zu essen. Der in Wein getränkte Kuchen, mit dem Vittoria ihn in der Nacht gefüttert hat, ist längst vergessen.

Caterina hat in der Nacht durch den Vorhang gelinst und mir die romantische Mahlzeit geschildert. Vittoria hat tatsächlich den Fürsten wie ein Baby mit dem Löffelchen gefüttert! Und jetzt stößt sie ihn von ihrer Brust, als habe er sie gebissen. Man stelle sich vor, wie viele Etappen der Unglückliche in wenigen Stunden durchlaufen hat. Erst ein Verwundeter, der liebevoll verbunden wird; dann ein Säugling; dann der sehnsüchtig erwartete Geliebte; und heute morgen nun der verstoßene Geliebte. Welch eine Komödie der menschlichen Gefühle! Jede Liebe beginnt und endet in unseren Köpfen. Und die sind genauso unberechenbar und hohl wie die Glöckchen, die am Hals der Ziegen bimmeln.

Dieser Tag will nicht enden, so scheint mir, und der Fürst in seinem Sessel empfindet das offensichtlich auch. Doch wo sollen wir hingehen? Vor dem Haus: das Meer; hinter dem Haus: ein Park, der von Soldaten wimmelt. Und warum sollte Orsini hinausgehen und jetzt, da Vittoria ihn verstoßen hat, noch sein Leben in die Schanze schlagen? Mir würde es, wenn ich die Liebe meiner Zwillingsschwester verlöre, überhaupt nichts ausmachen, auch das Leben zu verlieren. Doch der Fürst liebt Vittoria auf andere Art als ich. Zum Beweis: er hat sie vorhin, als sie ihn so grausam behandelt hat, gehaßt. Und nun sitzt er einsam am Feuer und kämpft mit widerstreitenden Gefühlen. Für einen Tag ist er nun im grausamsten aller denkbaren Kerker eingesperrt: er muß mit einer Frau zusammen wohnen, die ihn nicht mehr liebt. Zumindest glaubt er, daß sie ihn nicht mehr liebt.

Am Nachmittag bricht er das Schweigen und wendet sich an mich:

|192|»Marcello, auf der anderen Seite habe ich Bücher gesehen. Fragt bitte, ob man mir eines ausleiht.«

Ich lasse dieses »man« in mir nachklingen, erhebe mich vom Bett, schiebe den Vorhang beiseite, gehe »auf die andere Seite« und trage leise seine Bitte vor. Warum ich es mit leiser Stimme tue, weiß ich selber nicht zu sagen. Es sind insgesamt nur drei Bücher da, eines davon, ihren Petrarca, hält Vittoria in der Hand, die anderen beiden stehen auf dem Kaminsims. Vittoria hebt die Augen und sieht mich an, als käme ich von einem anderen Stern, und sie braucht ewig, bis sie antwortet. Inzwischen verschlingt mich Caterina mit den Augen. Sie jedenfalls ist ein einfaches Gemüt: bei ihr beginnt und endet die Liebe nicht im Kopf.

»Gib ihm ein Buch, Caterina«, befiehlt Vittoria tonlos.

»Welches, Signora?« Mit dieser Frage will Caterina mich vermutlich daran erinnern, daß sie lesen kann.

»Welches du willst.«

Das ist wenig freundlich dem Fürsten gegenüber, und Caterina bekommt keine Gelegenheit, ihre Talente als Leserin vorzuführen. Sie greift wahllos nach einem der beiden Bücher und streckt es mir hin: »Der rasende Roland« von Ariost.

Ich weiß nicht, was Orsini von dieser Wahl, die keine ist, denken wird; ich finde sie jedenfalls recht unglücklich. Früher, als Vittoria sich noch um meine Erziehung kümmerte, hat sie mich dieses Epos lesen lassen. Darin wird geschildert, wie sich Roland, der stolze Paladin von Karl dem Großen, unerhörten Gefahren aussetzt, um die Liebe der schönen Angelika zu erringen. Sie erteilt ihm eine Abfuhr, und er verfällt dem Wahnsinn. Keine sehr tröstliche Lektüre in unserer momentanen Lage! Aber Orsini ist gebildet und in den Künsten bewandert. Wenn ihm die Geschichte nicht zusagt, so mag er vielleicht den Stil.

Die Stunden wollen nicht vergehen. Die Zeit kriecht. Der Fürst liest, ohne aufzublicken. Vittoria, auf der anderen Seite des Vorhangs, liest ebenfalls. Welch groteske Situation! Würde Peretti zu dieser Stunde in unser Häuschen eindringen, er könnte sich an unserer unschuldigen Beschäftigung nur erbauen.

Ich stoße einen Seufzer der Erleichterung aus, als Caterina bei Anbruch der Dunkelheit soviel Kerzen wie möglich in die Fenster stellt und anzündet. Eine Stunde später biete ich dem |193|Fürsten an, in die Bucht hinabzusteigen, um die Ankunft des Bootes abzuwarten und ihm dann Bescheid zu geben. Er stimmt zu. Ich verabschiede mich von Vittoria, die meinen Gruß kühl entgegennimmt. Vielleicht ist sie mir wegen des Ringes böse. Womit sie nicht einmal unrecht hätte. Doch auch wenn ich meine Befugnisse überschritten habe, ihre Wünsche habe ich jedenfalls richtig interpretiert. Die vergangene Nacht hat es bewiesen.

Kaum bin ich draußen, öffnet sich hinter mir die Tür, und Caterina kommt mit einem Schnupftuch angerannt, das ich vergessen habe. Ich hege den Verdacht, daß sie es mir gestohlen hat, um mich unter diesem Vorwand allein zu sehen. Sie wirft sich in meine Arme, umschlingt mich und sucht meinen Mund. Sie fände es vermutlich hinreißend, wenn ich sie an Ort und Stelle umlegte. Sie weiß immer ganz genau, was sie will, und so wie sie gebaut ist, kann sie es sich auch mühelos verschaffen. Ich winde mich aus den Fangarmen dieses kleinen Kraken, aber ohne grob zu werden. Zu meinem Erstaunen bin ich gerührt.

Es wird von Minute zu Minute dunkler. Ich gelange unbehindert zu dem kleinen Strand und stelle mich vor die Grotte, die uns Unterschlupf gewährt hat. Die See – so wechselhaft wie die menschliche Seele – umspült an diesem zur Neige gehenden Abend kaum meine Füße. Und mit welcher Ausdauer und Wildheit hat sie uns gestern bekämpft!

Man kann fast nichts mehr sehen. Ich spitze die Ohren und vernehme ein regelmäßiges Plätschern: die Ruderschläge des von der Galeere entsandten Bootes. Es ist dem Riff entgangen, an dem unser Boot zerschellt ist, weil wir in der heftigen Brandung der vergangenen Nacht manövrierunfähig waren.

Die Dämmerung ist so weit fortgeschritten, daß das Boot neben mir landet, bevor ich überhaupt seine Umrisse habe erkennen können. Ein Schatten springt ins Wasser – vermutlich um zu verhindern, daß das Boot über den Sand schrapt. Ich trete näher, woraufhin sich der Schatten sofort zurückzieht.

»Ich bin’s: Marcello.«

»Ah, Ihr, Signore«, sagt der Schatten.

Ich erkenne ihn an der Stimme.

»Geronimo?«

»Ja, Signore.«

|194|Erst als unsere Gesichter sich beinahe berühren, erkenne ich seine Züge. Man sieht ihm die Angst an, in diese Gegend vordringen zu müssen.

»Ich hole den Fürsten.«

»Per l’amor di Dio, beeilt Euch, Signore!«

»Keine Gefahr!«

Ich taste mich die Stufen empor. Das geschieht nun erst zum zweiten Mal, und doch habe ich den seltsamen Eindruck, auf ewig zu dieser Kletterei verdammt zu sein, die mir, obwohl sie diesmal unter wesentlich günstigeren Bedingungen vonstatten geht, recht beschwerlich erscheint. Vielleicht verbinde ich sie in Gedanken mit dem Gefühl einer Niederlage.

Oben lasse ich mich auf die Knie fallen. Die Luke des Wachtturms, von dem aus man die Bucht überblicken kann, ist erleuchtet, und ich sehe deutlich den Kopf eines Soldaten. Es war vielleicht unüberlegt, Geronimo zu sagen, es bestünde keine Gefahr. Ich bin nicht sicher, ob mich das hohe Gestrüpp hinter dem Haus dem Blick des Postens verdeckt, zumal die vielen Kerzen in den Fenstern den kleinen Platz vor dem Haus hell beleuchten.

Ich lege mich flach auf den Bauch, robbe zur Tür und bin heilfroh über meine schwarze Kleidung. Ich klopfe gegen das Eichenholz der Tür und befehle gleichzeitig:

»Caterina, lösch die Kerzen aus, bevor du aufmachst, und schließ die Läden.«

Sie tut, was ich sage. Dunkelheit hüllt den Erdstreifen ein, ich stehe auf und gehe hinein. Gott sei Dank, die Kaminfeuer sind heruntergebrannt.

»Durchlaucht, das Boot ist da. Die Wache ist in Alarmbereitschaft. Es wird Zeit.«

Vittoria steht am Feuer, der Fürst ihr gegenüber. Ich habe den Eindruck, daß Orsini trotz seiner Weltgewandtheit und seines Selbstvertrauens eines Fürsten in diesem Augenblick nicht weiß, was er tun oder sagen soll. Er scheint im Begriff, Vittoria die Hand küssen zu wollen; doch es bleibt bei einer angedeuteten Bewegung, da Vittorias Hand der seinen nicht entgegenkommt.

»Signora …«, sagt er.

Doch er spricht nicht weiter. Ein Abschiedsgruß scheint ihm der Situation nicht angemessen.

|195|Endlich entschließt er sich zu einer Verbeugung, dreht sich mit einem gewissen Stolz um und geht abrupt aus dem Zimmer. Er ist schon an der Tür, als Vittoria – bisher reglos und unbewegt wie eine Marmorstatue – einen Schritt auf ihn zu macht, stehenbleibt und mit tonloser Stimme sagt:

»Lebt wohl, Paolo!«

Und dieses Lebewohl scheint endgültig zu sein. Dabei nennt sie ihn beim Vornamen, was sie seit Perettis Auftritt nicht mehr getan hat. Orsini wendet den Kopf nach ihr, sieht sie zögernd an, reißt sich aber los und geht energischen Schrittes hinaus. Es ist klar: er hat nicht gewagt, sie zu umarmen. Und daran hat er, glaube ich, nicht recht getan, so zartfühlend er ist. Wozu ist er ein großer Kapitän, wenn er die Ambivalenz der weiblichen Seele nicht besser durchschaut?