Pfarrer Racasi:
Jeden Freitag begebe ich mich mit meinem Zweiten Vikar in den Palazzo Rusticucci, um den Damen Camilla Peretti, Tarquinia Accoramboni und Vittoria Peretti sowie der Kammerzofe Caterina Acquaviva die Beichte abzunehmen. Alle übrigen Bewohner des Palazzo beichten bei meinem Zweiten Vikar. Seitdem Francesco Peretti – vermutlich auf Anraten des Kardinals – eine so strenge Klausur über sein Haus verhängt hat, nehme ich meinen Ersten Vikar mit, um auch Francesco und Flamineo die Beichte zu ermöglichen. Marcello ist freitags nie da, beichtet aber laut Tarquinia bei einem Bettelmönch, der bei der Witwe Sorghini ein und aus geht.
Am nächsten Tag habe ich stets die Ehre, bei Kardinal Montalto, dem ich sehr verpflichtet bin, beichten zu dürfen; und bei dieser Gelegenheit unterbreite ich ihm die heiklen Probleme, vor die mich die Sorge um die mir anvertrauten Seelen mitunter stellt. Seine Eminenz hört mich immer sehr aufmerksam an, und ich bewundere, mit welchem Scharfblick und welcher Subtilität es ihm gelingt, mir aus meinen Schwierigkeiten herauszuhelfen.
Der Kardinal steht in dem Ruf, finster, ja hart zu sein, doch zu mir ist er allezeit außerordentlich milde gewesen. Es gibt zwar einen Beichtstuhl in der Hauskapelle neben seinem Arbeitszimmer, doch dessen Benutzung ist ihm wegen seiner Krücken zu beschwerlich. Er bleibt daher wie gewohnt in seinem Sessel sitzen, während ich zu seinen Füßen knie. Aber er ist so aufmerksam – wofür ich ihm Dank weiß –, dem bello muto zu befehlen, ein Kissen unter meine Knie zu schieben, bevor er sich zurückzieht.
Der Kardinal zeigt viel Nachsicht mit den Sünden, deren ich mich anklage. Freilich, ihre Liste wird in dem Maße kürzer, wie in mir die Kräfte abnehmen, die mich in Versuchung führen. Die Sünde der Fleischeslust ist mir sehr ferngerückt, sowohl die aktiven Handlungen wie auch der bloße Gedanke |128|daran. Die Sünde der Völlerei, die sie abgelöst hat, wird um so gegenstandsloser, je mehr sich meine Magenbeschwerden verschlimmern. Manchmal denke ich melancholisch: die Heiligkeit, die ich für mich in jungen Jahren erträumt habe, werde ich wohl erst als Greis erreichen, wenn Alter und Krankheit mich auf einen vegetativen Zustand reduziert haben. Wo aber wäre dann das Verdienst?
»Alles läßliche Sünden, Racasi!« rief der Kardinal ungeduldig und schüttelte sein wildes Haupt. »Und nun zu Euren kleinen Problemen …«
»Ach, Euer Eminenz«, antwortete ich, »seit gestern habe ich wirklich eins, und nicht einmal ein kleines. Eines meiner Beichtkinder hat auf Umwegen einen Brief von einem Verehrer bekommen und ihn gelesen.«
»Sie hat ihn gelesen!« wiederholte der Kardinal, und die schwarzen Augen unter seinen dichten Brauen schossen Blitze.
»In Wirklichkeit ist die Sache noch komplizierter. Sie behauptet, sie habe ihn gelesen. Aber ihre Kammerzofe, der ich auch die Beichte abnehme, beteuert, sie habe ihn nicht gelesen.«
»Das ist überhaupt nicht kompliziert«, sagte der Kardinal schroff, »sie kann ihn in Abwesenheit der Zofe gelesen haben.«
»Ja, doch die Zofe versichert, es habe sich alles vor ihren Augen abgespielt und ihre Herrin habe den Brief ungeöffnet verbrannt.«
»Dann lügt die Zofe«, erwiderte der Kardinal mit gerunzelter Stirn, »hoffentlich habt Ihr es ihr auf den Kopf zugesagt!«
»Euer Eminenz«, entgegnete ich und schlug die Augen nieder, »das ist kaum möglich, ohne der einen das Beichtgeheimnis der anderen zu verraten.«
»In der Tat!« rief der Kardinal zornig.
Er beherrschte sich gleich wieder, und ich fuhr fort: »Was nun die Antwort an den Briefüberbringer betrifft, stimmen die Aussagen von Zofe und Herrin überein. Nach der Lektüre hat die Empfängerin den Brief in einem Schälchen verbrannt und dem Boten sehr von oben herab gesagt: Es gibt keine Antwort!«
»Aber sie hat ihn gelesen!« sagte der Kardinal unwillig. »Habt Ihr daran gedacht zu fragen, ob sie ihn ein zweites Mal gelesen hat?«
»Ja, Euer Eminenz, ich habe daran gedacht«, antwortete ich, |129|im stillen sehr zufrieden mit meinem Eifer, »leider hat sie ihn wirklich ein zweites Mal gelesen.«
»Gott im Himmel!« rief der Kardinal.
Kurz darauf sprach er weiter:
»Welche Gefühle bewegten sie beim Lesen? Habt Ihr sie danach gefragt?«
»Ja, Eminenz. Mein Beichtkind zeigte große Verwirrung.«
»Erzählt das genauer!«
»Sie sagt, sie habe Scham und Gewissensbisse empfunden und sei gleichzeitig sehr verwirrt gewesen. Ich würde sogar sagen: in Versuchung gewesen.«
»Hat sie gesagt ›in Versuchung‹?«
»Nein, Eminenz, dieses Wort ist nicht gefallen. Ich habe das aus ihrer Verwirrung geschlossen.«
»Zieht bitte keine Schlüsse«, schrie der Kardinal, »haltet Euch an die Fakten! Ist sie Euch wirklich reuig erschienen?«
»Eminenz kennen die Frauen«, entgegnete ich. »Selbst wenn sie ihre Fehler beweinen, finden sie noch Vergnügen daran.«
»Ich weiß! Ich weiß! Erspart mir diese Gemeinplätze! Berichtet die Fakten!«
»Nun gut«, sagte ich zögernd, »mein Beichtkind glaubt zu bereuen, glaubt es aufrichtig.«
»Aufrichtig! Und Ihr, Racasi«, wetterte der Kardinal, »seid Ihr aufrichtig, oder versucht Ihr nur, mich zu beruhigen?«
Ich war bestürzt über seine Frage, mußte ich doch befürchten, der Kardinal könnte in seiner heftigen Erregung mein Beichtkind beim Namen nennen, der ihm nicht bekannt sein durfte. Zum Glück hatte er offenbar gespürt, in welch unangenehme Situation er mich dann brachte. Denn er tat so, als erinnerte er sich nicht mehr an seine Frage, und fuhr in ruhigerem Tone fort:
»Das Gewissen ist übrigens niemals aufrichtig. Wer von uns wollte das bestreiten?«
Dieses »uns« schmeichelte mir, appellierte es doch an seine wie an meine Erfahrung. Da ich aber während der Beichte meiner Eitelkeit nicht nachgeben konnte, beschränkte ich mich auf ein zustimmendes Kopfnicken.
»Ein letzter Punkt, Racasi, und bitte antwortet mir ohne Umschweife. Ich appelliere dabei – über die Fakten hinaus – an |130|Eure Intuition: würde Euer Beichtkind, wenn der Verehrer bis zu ihm vordränge, seiner Versuchung widerstehen können?«
Ich schlug die Augen nieder, schüttelte den Kopf und antwortete traurig:
»Ich bezweifle es, Eminenz.«
»Helft mir beim Aufstehen, Racasi!« verlangte der Kardinal grob.
Ich erhob mich, um seiner Bitte Folge zu leisten, doch sobald er seine Krücken unter die Arme geklemmt hatte, gebot er mir mit ungeduldiger Gebärde, ich solle beiseite treten; mir den Rücken kehrend, stellte er sich vor einem an der Wand hängenden Gemälde der Madonna mit dem Jesuskind auf und blieb einen langen Moment in Betrachtung der Madonna versunken, ohne sie, wie ich meine, überhaupt zu sehen. Denn er schüttelte mehrmals den Kopf und murmelte mit versagender Stimme: »Ach, mein armer Sohn! Sie werden ihn mir töten!«
Ich wußte wirklich nicht, wohin ich mich verkriechen und was ich tun sollte, so unwohl wurde mir ob meiner Zeugenschaft. Andererseits konnte ich nicht einfach weggehen, da der Kardinal mich nicht entlassen noch mir die Absolution erteilt hatte.
Vielleicht erriet er meine Verlegenheit, denn er drehte sich auf seinen Krücken schwerfällig zu mir um, sah mich mit seinen furchteinflößenden schwarzen Augen durchbohrend an und sagte grob:
»Verschließt das alles fest in Eurem Herzen, Racasi, und laßt mich jetzt bitte allein.«
»Aber Eminenz«, stotterte ich, »Ihr habt mir keine Absolution erteilt.«
Würde ich nicht Dankbarkeit und Verehrung für den Kardinal empfinden, müßte ich gestehen, daß noch nie einem Büßer so flüchtig, so zerstreut und so undeutlich gestammelt die Vergebung der Sünden gewährt worden ist. Doch aus Gründen, die nur ihn allein angingen und mit denen ich natürlich nichts zu schaffen hatte, war Seine Eminenz zu tief aufgewühlt, als daß ich ihm das hätte zum Vorwurf machen können. Obwohl ich die Lehrmeinung der Kirche verfechte, daß der Priester bei Erteilung der Absolution tatsächlich in loco Dei1 spricht und sich |131|dabei seines außerordentlichen Privilegs voll bewußt zu sein hat, ist es nur allzu wahr, daß Sorge, Müdigkeit, Angst oder menschliche Schwäche den Stellvertreter Christi gelegentlich verleiten können, mechanisch und routinemäßig Worte herzusagen, von denen jedes einzelne mit größtem Ernst bedacht und gewogen sein will. Für einen Priester wäre es ein großer Fehler, solche Dinge leichtzunehmen, zumal er genau weiß, daß die Beichte, in der er die Gläubigen auf Herz und Nieren prüfen darf, seiner Kirche eine ungeheure Macht im Reich der Menschen verschafft. Ich sage das in aller Demut, ohne jemand belehren zu wollen, schon gar nicht diejenigen, die durch die Gnade Gottes im Staat und in der Hierarchie der Kirche hoch über mir stehen.
Lodovico Orsini, Graf von Oppedo:
An jenem Donnerstag mußte ich mich sehr beeilen, um pünktlich neun Uhr abends in Montegiordano einzutreffen, wußte ich doch nur zu gut, daß Unpünktlichkeit für Paolo ein Greuel ist.
»Da bist du ja endlich«, rief er und umarmte mich in gewohnter Weise, das heißt, er erdrückte mich fast in seinen herkulischen Armen.
»Ich komme doch nicht zu spät!« sagte ich und befreite mich aus der Umklammerung.
»Du hast recht«, wunderte sich Paolo nach einem Blick auf die große Uhr im Zimmer. »Entschuldige meine Ungeduld, carissimo. Und hör bitte auf, Marcello so herausfordernd anzustarren. Du weißt, wie argwöhnisch er ist. Wegen eines unbedachten Wortes hat er sogar gegen mich den Degen gezogen. Gegen mich, Lodovico! Doch genug davon. Marcello ist mein Sekretär und mein Freund. Und ich will – hörst du, Lodovico, ich will! – , daß ihr ebenfalls Freunde werdet. Gib ihm die Hand!«
»Ich?« rief ich. »Diesem Reptil die Hand geben?«
»Graf«, wandte sich Marcello an mich, »Eure Kenntnisse in Zoologie sind mangelhaft: ein Reptil hat keine Hand. Aber es kann beißen«, fuhr er fort und griff nach seinem Degen.
»Es wird mitnichten beißen!« schrie Paolo. »Deine Hand, Lodovico, gib ihm sofort die Hand, oder ich werde ernstlich mit dir böse!«
|132|Ich gehorchte und ergriff Marcellos Rechte, die er mir widerwillig hinstreckte. Sie war kalt und trocken und erwiderte meinen Druck nicht. Dieser Geck war zweifellos tapfer und achtete sein Leben gering.
»Setz dich, Lodovico, und hör zu«, nahm Paolo das Gespräch wieder auf. »Noch nie stand ich so kurz davor, dem Staat offen den Krieg zu erklären. Zunächst: ich werde bei Montalto nicht mehr vorgelassen. Ja, Lodovico, du hast richtig gehört! Und das einem Orsini! Weiter: er hat seine Nichte im Palazzo Rusticucci eingeschlossen, angeblich weil er glaubt, ich wolle sie entführen!«
»Was du natürlich nie tun würdest«, sagte ich spöttisch.
»Nein, niemals!« ereiferte sich Paolo. »Ich habe es Marcello gesagt, und ich wiederhole es hier vor dir: meine Absichten sind ehrenhaft.«
Dazu hätte ich sehr viel zu sagen gehabt. Doch ich schwieg lieber: ich hätte sonst vor Wut mit den Zähnen geknirscht. Meine Meinung stand fest: diese Vittoria war nichts als eine skrupellose Abenteurerin und Marcello ein Zuhälter. Ein Zuhälter in zweifacher Hinsicht: weil er sich von der Sorghini aushalten ließ und weil er seine eigene Schwester diesem wahnsinnigen Paolo preisgab, um für sie eine Herzoginnenkrone aus dem Schmutz zu klauben. Paolo war zum Spielball in den Händen dieser unheilbringenden Zwillinge geworden, dieser Habenichtse aus einer Majolikamanufaktur in Gubbio. Welch absurder Gedanke: ein Fürst Orsini träumt davon, eine Metze wie diese Vittoria zu seiner zweiten Herzogin zu machen, und vergißt dabei, daß diese hergelaufene Person seinem Sohn Virginio – ein Orsini vom Vater her und über die Mutter mit den Medici verwandt! – eines Tages das väterliche Erbe streitig machen könnte.
»Hörst du mir überhaupt zu, Lodovico?« fragte Paolo ungeduldig. »Oder soll ich tausendmal dasselbe erzählen? Nicht genug damit, daß der Kardinal seine Nichte hier in Rom einsperrt – er läßt sie morgen in aller Herrgottsfrühe unter starker Eskorte nach Santa Maria bringen und setzt sie mit ihrer Familie in einem Palazzo gefangen. Und die Eskorte – hör gut zu, Lodovico! – besteht überwiegend aus Soldaten des päpstlichen Heeres. Der Papst selbst stellt sich meinen Plänen in den Weg. Diese Beleidigung tut er mir an! Mir, einem Orsini! |133|Aber er täuscht sich, wenn er glaubt, daß ich dem untätig zusehe!«
»Was gedenkst du zu tun?«
»Die Eskorte angreifen.«
»Das genau erwartet er von dir, Paolo«, sagte ich kalt. »Und wo willst du angreifen, unterwegs oder in Santa Maria?«
»Ich weiß noch nicht.«
»Dann will ich es dir sagen: beides ist unmöglich. Ich kenne die Gegend wie meine Westentasche. Vor zwei Jahren war ich dort zur Jagd.«
»Eben deswegen habe ich dich rufen lassen«, lächelte Paolo.
»Paß auf, Santa Maria ist eine Festung. Der Palast steht auf einer Klippe, die steil zum Meer abfällt, das an der Stelle sehr wild ist. Hohe Mauern umschließen ihn, und die einzige Zufahrtsstraße endet an einer Felsschlucht mit einer Zugbrücke. Das ganze unfruchtbare, karge Land ringsum gehört Montalto.«
»Nun, dann greife ich an, bevor der Konvoi dort eintrifft«, sagte Paolo.
»Das wäre noch aussichtsloser. Die enge schmale Straße verläuft zwischen dem Meer und unbewohnten Felsenhügeln, zu denen kein Weg und kein Pfad abgeht.«
»Um so besser«, entgegnete Paolo, »das ist ja ausgezeichnet! Keine Rückzugsmöglichkeiten für die Eskorte, wenn wir angreifen, weder nach dieser Seite noch zum Meer hin.«
»Doch auch keine für dich, Paolo …«
Er horchte auf.
»Was willst du damit sagen? Daß ich geschlagen werden könnte? Ich habe genug Männer in Montegiordano, um die Eskorte mit fünffacher Übermacht anzugreifen.«
»Die vielen Männer nützen dir gar nichts. Du kannst sie nicht aufmarschieren lassen. Stell dir die Gegend vor: eine enge Straße zwischen unzugänglichen Hügeln und dem Meer. Außerdem wirst du höchstwahrscheinlich selber angegriffen, und zwar von hinten.«
»Und von wem?«
»Von den päpstlichen Truppen natürlich. Du glaubst doch nicht, daß der Papst nichts erfährt, wenn du im Morgengrauen an der Spitze einer großen Schar von Montegiordano aufbrichst. Er wird einen Teil seiner Soldaten hinter dir herschicken, um |134|dich von hinten anzugreifen; der andere Teil bleibt in Rom, um erst deinen und anschließend meinen Palazzo einzunehmen.«
Wir schwiegen. Nachdenklich durchmaß Paolo mit langen Schritten den Saal. Ich hatte ihn überzeugt, ich wußte es. Ohne noch etwas hinzuzufügen, ließ ich meine Argumente in ihm nachwirken. Dieses Weib hatte ihm den Verstand geraubt, doch er sah immerhin ein, daß er unter so ungünstigen Bedingungen nicht den offenen Krieg gegen den Papst wagen und dabei seine Truppen opfern durfte. Er hatte sich noch einen Rest Vernunft bewahrt.
Plötzlich rief er:
»Das Meer, Lodovico! Warum habe ich als Seemann nicht eher daran gedacht?«
»Das Meer? Es brandet wild an die ungeschützte Küste, an der auch nicht die kleinste Bucht zu finden ist. Wie sollte dort eine Truppe landen?«
»Keine Truppe, nein. Aber ein Boot, das eine meiner Galeeren auf der offenen See aussetzen wird.«
»Du kannst sicher sein, daß das Meer überwacht wird!«
»Bei Tage, aber nicht in der Nacht.«
»Nachts willst du landen? An dieser Küste mit ihren unzähligen Riffen? Wenn dein Boot heil durchkommt, zerschellt es an der Felswand.«
»Nein, nein, nein!« schrie Paolo. »Keine Küste ist so unbezwinglich, daß man nicht doch eine Bucht entdecken und ein Boot an Land bringen könnte.«
»Angenommen, du schaffst es. Wie, glaubst du, kannst du die Signora überzeugen, mit dir auf dem gleichen Weg zurückzukehren?«
»Das will ich gar nicht versuchen! Wie könnte ich sie so großen Gefahren aussetzen? Aber ich werde sie wenigstens sehen! Und kann mich ihrer Gefühle versichern«, murmelte er halblaut wie im Selbstgespräch.
Ich war perplex. Da er so in diese Dirne vernarrt war, hatte ich angenommen, sein Handel mit ihr sei seit der ersten Begegnung bei Montalto, von der Raimondo durch Caterina erfahren hatte, bereits viel weiter fortgeschritten. Die Dinge standen also viel schlechter als vermutet: er liebte sie wirklich. Das Weib hatte den Teufel im Leib und Paolo behext!
»Durchlaucht«, sagte Marcello plötzlich, »mein Platz ist |135|auch in diesem Boot. Ich bitte um die Ehre, Euch begleiten zu dürfen.«
»Ja, Marcello, du bist kühn, das wußte ich schon«, antwortete Paolo, legte ihm den Arm um die Schultern und zog ihn an sich.
Ich wandte den Kopf ab und tat, als schaute ich aus dem Fenster in den Hof, so sehr empörte mich die Vertraulichkeit zwischen Paolo und diesem Nichtsnutz. Affé di Dio! er behandelte ihn bereits wie seinen Schwager. Die Welt war aus den Fugen geraten! Nur weil ein Weiberrock und ein paar Haarsträhnen unserem großen Fürsten den Verstand geraubt hatten! Dabei hat er schon mehr Frauen besessen, als Sterne am Augusthimmel stehen! Was unterscheidet die Neue von den anderen? Ihre Schönheit? Aber ein liederliches Frauenzimmer kann auch schön sein, und ich würde sie nicht einmal meinem Reitknecht zur Ehe geben.
Langsam gewann ich meine Kaltblütigkeit zurück, sogar ein Lächeln gelang mir, als ich mich an Paolo wandte:
»Also gut, carissimo, ich sehe, du wirst von deinem wahnwitzigen Unternehmen nicht ablassen. Der Himmel möge dich beschützen! Ich werde für dich beten. Es möge dir gelingen, nicht zu ertrinken! Welch Tod für einen großen Admiral!«
Er lachte und umarmte mich, als ich ging. Trotz meiner heiteren Miene kochte ich vor Wut. Ich stieg die Treppe hinab, die Hand ums Geländer gekrallt, die Zähne zusammengebissen. Nein, Paolo, dachte ich, du verdienst nicht zu leben: du bringst Schande über die Orsinis.
Ich konnte mich über Paolos unglaubliche Leichtfertigkeit gar nicht beruhigen. Er hatte mich nur kommen lassen, weil er wußte, daß ich die Gegend um Santa Maria kannte, und es kam ihm keine Sekunde in den Sinn, ich könnte sein Pläne in bezug auf diese Dirne mißbilligen. Schlimmer noch: er war, bevor ich es ihm ausredete, zum offenen Krieg gegen den Papst bereit gewesen, der nur mit seinem Untergang und mit dem meinen und natürlich auch mit dem meines Bruders enden konnte. Eine derart verbrecherische Verblendung ist weder zu entschuldigen noch zu verstehen.
In der folgenden Nacht hatte ich einen Traum, von dem ich nicht behaupten kann, es sei ein Alptraum gewesen, so glücklich, besänftigt und frei von meinen Ängsten fühlte ich mich, als ich ihn beim Erwachen überdachte. Paolo und die Zwillinge |136|Accoramboni, von päpstlichen Soldaten im Park von Santa Maria verfolgt, entflohen nachts in einem kleinen Boot zu Paolos Galeere auf hoher See. Doch das Boot stieß gegen ein Riff und lief voll Wasser. Marcello versank als erster. Vittoria wurde eine Weile durch ihren weiten Rock auf den Wogen getragen und ging dann langsam unter. Nur Paolo überlebte, war aber von den Wellen auf einen Felsen geschleudert worden, dessen scharfer Grat ihm das Glied abriß. Ich befand mich an Bord der Galeere, als man ihn aus dem Wasser zog. Der Schiffsarzt verband ihn und gab, als er fertig war, auf meinen fragenden Blick leise zur Antwort: »Er ist nur ohnmächtig. Er wird überleben, aber er ist kein Mann mehr.« Ich schaute zu Raimondo, der neben mir stand, und sagte: »Gott sei Dank.« Als ich erwachte, rief ich mir meinen Traum ins Gedächtnis zurück, stand auf und brachte ihn zu Papier. Vielleicht ist das eine Prophezeiung, dachte ich und wollte der Zukunft gewissermaßen vorgreifen.
Giulietta Accoramboni:
Ich kenne jetzt den Grund für die strenge Klausur im Palazzo Rusticucci und die daraus erwachsende unerträgliche Spannung, den Grund für Vittorias Schweigsamkeit und den plötzlichen Aufbruch nach Santa Maria; allerdings kränkt es mich sehr, daß nicht Vittoria mich aufgeklärt hat, die unsere alte, tiefe Verbundenheit fast völlig vergessen zu haben scheint, sondern Francesco Peretti. Er hat auf Befehl des Kardinals seine Mutter und seine Schwiegermutter in Rom zurücklassen müssen (wo vermutlich die eine die andere zu Tode hacken wird), und da Vittoria nicht mehr mit ihm spricht, ist er in Santa Maria so isoliert und verzweifelt, daß er mich notgedrungen zu seiner Vertrauten gemacht hat.
Ich kenne also die Geschichte des Briefes, den Vittoria empfangen, gelesen und verbrannt hat. Eine Geschichte, deren ganze Tragweite und Bedrohlichkeit einem erst klar wird, wenn man die Persönlichkeit des Fürsten Orsini, seine Macht im Staat, seine zügellose Leidenschaft für Frauen und seinen rebellischen, abenteuerhungrigen Charakter kennt.
Francesco hat mir die Vorgänge nur in Andeutungen erzählt, denn der Kardinal hatte ihm das Versprechen abgenommen, |137|Vittoria gegenüber niemals zu erwähnen, daß er von der Existenz des Briefes weiß, weil Seine Eminenz offenbar nicht die Informationsquelle verraten will: Pfarrer Racasi oder Caterina Acquaviva oder vielleicht beide. Francesco hat auch mir, als er mir von dem bewußten Brief sprach, Stillschweigen abverlangt.
Unser Gespräch fand auf einem ersten Rundgang durch Santa Maria statt; wir hatten einen kleinen Wachtturm hoch auf der Klippe bestiegen und sahen von oben zu, wie das Meer sich an den Felsenriffen brach und den flockigen weißen Schaum in einer winzigen Bucht zu Bergen auftürmte. Nach Auskunft des Majordomus von Santa Maria pflegte der Bischof, der vor Montalto Herr über die Gegend gewesen war, in dieser Bucht, vor neugierigen Blicken geschützt, zu baden. Und tatsächlich: als ich mich vorbeugte, entdeckte ich unter der Gischt die Stufen in der Felswand, die dem Prälaten den Zugang zu dem kleinen Strand ermöglicht hatten. Vermutlich gab es da unten einen schmalen Sandstreifen, der im Moment vor lauter Schaum nicht zu sehen war. Der Wachtturm ist in früheren Zeiten, als diese wenig einladende Küste Überfälle durch maurische Piraten zu gewärtigen hatte, wahrscheinlich besetzt gewesen. Ich wurde in dieser Annahme bestärkt durch ein Schilderhäuschen aus Stein in einer Ecke der Terrasse, auf der wir uns befanden; ein heftiger Nordost pfiff uns ins Gesicht, obwohl wir schon Mai hatten.
»Mein armer Francesco«, schrie ich ihm ins Ohr, denn das Getöse der Brandung und der heulende Wind machten uns fast taub, »ich will dir gern Schweigen geloben! Für mich ändert das nichts. Aber von dir war es ein großer Fehler, dem Kardinal das Versprechen zu geben; und noch verkehrter wäre es, dein Versprechen zu halten.«
»Komm«, sagte er und nahm mich an der Hand, »wir wollen uns unterstellen, ich kann dich kaum verstehen.« Er führte mich in das Wächterhäuschen, wo wir relativ geschützt standen, weil die drei Öffnungen zur See durch Dachluken verschlossen waren. Ich sage relativ, denn am Eingang zu diesem Zinnentürmchen fehlte die Tür, so daß immer wieder heftige Windböen einbrachen.
Ich wiederholte Francesco, der mir mit einem ängstlich fragenden Gesichtsausdruck zuhörte, meine Worte. Er tat mir sehr |138|leid, denn wie gesagt, seit der strengen Abschirmung des Palazzo Rusticucci hatte Vittoria nicht mehr mit ihm gesprochen.
»Aber warum das?« fragte er schließlich. »Warum hätte ich es ihm nicht versprechen sollen?«
»Weil du nun Vittoria gegenüber das Unrecht, welches sie dir antut, nicht benennen kannst.«
Er wandte sich mir zu. Güte, Aufrichtigkeit und fast alle anderen Tugenden sprachen aus diesem ehrlichen Gesicht. Ihm fehlte es nur an Kraft.
»Aber handelt sie denn unrecht an mir?« zweifelte er. Ich stellte verblüfft fest, daß er sich zu seiner Gattin immer noch sehr loyal verhielt, obwohl sie es überhaupt nicht mehr war, und sie auch weiterhin ohne Fehl und Tadel sah.
»Hör mal, carissimo«, sagte ich und nahm seinen Arm, »du hast es mir doch selbst gesagt: sie hat auf Schleichwegen den Brief eines Verehrers erhalten und ihn geöffnet, obwohl sie genau wußte, wer ihn geschrieben hatte und warum.«
»Aber sie hat ihn verbrannt«, sagte er mit einer herzzerreißend naiven Aufwallung von Hoffnung.
»Ja, doch das schafft die Tatsache nicht aus der Welt, daß sie den Brief gelesen hat; und zwar mit Vergnügen, denn sie hat ihn zweimal gelesen.«
»Sie hat es gebeichtet«, warf er ein.
»Ihrem Pfarrer. Dir nicht!«
»Sie wollte mich nicht verletzen«, sagte er mit abgewandtem Blick.
Ich schaute ihn an. Ich konnte nicht länger ertragen, wie er sich an seine Illusionen klammerte; es machte mich zornig. Deshalb sagte ich rücksichtsloser als beabsichtigt:
»Also läßt sie dich seit dem 19. März nur deswegen nicht mehr in ihr Schlafzimmer, weil sie dich nicht verletzen will?«
Er zuckte zusammen, als hätte ich ihn geohrfeigt, blinzelte mit den Augen, befreite seinen Arm und wandte sich zur Seite; offensichtlich empfand er große Scham, vor mir sein Leid zu zeigen, und ich machte mir Vorwürfe ob meiner Brutalität. Alsbald jedoch vermeinte ich, daß solche Vorwürfe nicht mir, sondern Vittoria zu gelten hätten: wie konnte sie, die so hochherzig war, so grausam zu ihm sein? Gleichzeitig spürte ich den falschen Unterton in meiner Kritik. Auch ich war sehr hart zu Francesco gewesen. Abscheulich, zu einem so gütigen Mann |139|hart zu sein! Er war jedoch nicht nur gütig. Er war schwach. Und seine Charakterschwäche hatte Vittoria zu dieser Reaktion gleichsam herausgefordert. Wie soll man ihr, die ihn gegen ihren Willen hatte heiraten müssen und ihn nicht liebte, ein gewisses Unverständnis für seine Gefühle zum Vorwurf machen?
Francesco wandte sich mir wieder zu, lehnte sich gegen die Mauerrundung der Burgwarte und sagte tonlos:
»Warum hätte ich meinem Onkel nicht versprechen sollen, Vittoria nichts von dem Brief zu sagen? Wäre es nicht sehr lieblos von mir, sie merken zu lassen, daß ich ihr Geheimnis kenne?«
Im ersten Moment war ich sprachlos. Armer Francesco! Welche Skrupel! Und wie wenig kannte er die Frauen! Zartsinn ist eine Tugend, die sie bei Männern hoch schätzen, selbst aber nur selten üben, zumal wenn Leidenschaft oder Eigennutz sie hinreißen. Beim Mann schätzen sie diese Tugend als Garantie dafür, daß sie immer gut behandelt werden, selbst wenn sie es nicht mehr verdienen. Schließlich sagte ich: »Francesco, wenn du dein Versprechen hältst und Stillschweigen über den Brief wahrst, bist du in einer sehr schwachen Position, wenn es zur offenen Auseinandersetzung mit Vittoria kommt.«
»Eine offene Auseinandersetzung!« rief er und riß die Augen auf. »Wie du dich ausdrückst, Giulietta! Ich habe nie Streit mit Vittoria gesucht!«
»Aber sie wird Streit mit dir suchen, heftigen Streit, da kannst du sicher sein. Das bringt dir dein Schweigen dann ein …«
Ich hatte mich nicht getäuscht. Die Szene fand am nächsten Tag in meiner Gegenwart in Vittorias Zimmer statt, als wir dabei waren, es etwas wohnlicher zu gestalten. Francesco klopfte und trat ein. Er grüßte uns, wandte sich an Vittoria und fragte mit seltener Unbeholfenheit, ob sie sich in ihrem neuen Zuhause wohl fühle.
»Ob ich mich wohl fühle, Signore?« sagte sie hochmütig und starrte ihn mit funkelnden Augen an. »Ich kann mich hier nur elend fühlen, sterbenselend. Die Mauern sind feucht, die Zimmerdecken verschimmelt. Die Fenster schließen nicht. Wir haben sie gewaltsam öffnen müssen, und nun gehen sie nicht mehr zu, weil das Holz verquollen ist. Ich wollte Feuer machen lassen, doch es ist kein Holz mehr da. Zu allem Unglück ist |140|auch noch eine meiner Truhen unterwegs verlorengegangen. Ich habe nichts mehr anzuziehen. Aber das berührt mich kaum: wozu und für wen sollte ich mich herausputzen? Ich sehe niemanden mehr: Ihr habt mich erst in meinem Palazzo in Rom eingeschlossen, und als sei das nicht genug gewesen, verbannt Ihr mich nun in diese Einöde.«
Ich schaute sie an. Sie war hinreißend in ihrer Heftigkeit, superb in ihrer beseelten Schönheit. Aber leider auch superb in dem Sinne, den dieses Wort als Beiname ihrer Mutter in Gubbio bekommen hatte.
»Signora«, sagte Francesco mit plötzlich veränderter Stimme, »wißt Ihr denn nicht, wer diese Maßnahmen veranlaßt hat und warum?«
Ich dachte, dieses »warum« würde Vittorias Elan stoppen oder zumindest bremsen. Doch das war nicht der Fall. In ihrem Zorn überging sie das »warum« geschickt und wählte statt dessen das »wer« als Angriffspunkt.
»Wer, Signore?« schrie sie. »Wer? Wer drängt sich als Dritter in unsere Ehe? Kein anderer als der Kardinal, der sich mit Eurer Einwilligung die Rechte eines Gatten anmaßt. Ihr freilich seid ja kein richtiger Ehemann, geschweige denn Vater.«
Sie hatte sich ihm seit anderthalb Monaten verweigert und warf ihm jetzt vor, kein richtiger Ehemann zu sein! Die Grausamkeit, die Ungerechtigkeit und – warum soll ich es nicht trotz meiner Zuneigung zu Vittoria aussprechen? – die Niederträchtigkeit dieses Angriffs lähmten Francesco und machten ihn völlig wehrlos. Er erbleichte, wollte beinahe wieder gehen, und wenn er den Mut zu bleiben fand, dann nicht, um sich zu verteidigen oder gar einen Gegenangriff zu starten, sondern um seinen Onkel in Schutz zu nehmen.
»Ihr wißt genau, Signora«, sagte er mit bebender Stimme, »daß der Kardinal Euch wie eine Tochter liebt. Und Ihr müßt auch wissen, daß er die Maßnahmen, über die Ihr Euch beschwert, veranlaßt hat, weil er Eure Ehre in Gefahr glaubt.«
»Meine Ehre, Signore!« rief Vittoria. »Seit wann und warum wäre sie in Gefahr? Und wollt Ihr sie schützen, indem Ihr mich einkerkert und von Soldaten bewachen laßt?«
Ich bewunderte sie und war zugleich über ihre Unverschämtheit bestürzt. Sie hatte die Stirn, selbst nach dem »warum« zu fragen, dem sie zunächst ausgewichen war. Gleichzeitig sprach |141|sie eine versteckte Drohung aus, indem sie die Fragen auf infame Art durcheinanderbrachte: sie ließ durchblicken, daß dieser Kerker nicht das wirksamste Mittel sei, ihre Tugend zu bewahren.
Ich brauchte nur Francescos ehrliches Gesicht anzusehen, um zu wissen, was in ihm vorging. Er war feinfühlig genug, die Unaufrichtigkeit zu bemerken, mit der Vittoria sich jetzt den Anschein eines guten Gewissens gab. Doch nicht Zorn erfüllte ihn: er schämte sich für sie. Er schlug die Augen nieder. ›Ach, Francesco‹, dachte ich wütend, ›das ist die Gelegenheit loszuschlagen, jetzt oder nie! Zeig ihr deine Verbitterung, weise ihre Hoffart in die Schranken, sprich von dem bewußten Brief, den sie geöffnet und zweimal gelesen hat und der sie so wunderbar verwirrt hat. Und warum sagst du ihr nicht auch, ganz nebenbei, daß niemand wissen kann, wer von euch beiden schuld ist an der Unfruchtbarkeit eurer Ehe?‹
Doch ich hoffte vergeblich. Wie hätte ein so vollendeter Edelmann wie Francesco das Wort brechen können, das er dem über alles verehrten Onkel gegeben hatte? Unglücklich stand er da, mit niedergeschlagenen Augen, als wäre er der Schuldige.
»Ihr schweigt, Signore«, sagte Vittoria, »und Ihr tut gut daran, glaube ich. Ich fordere Euch zum letzten Mal auf, mich nicht länger wie eine Verbrecherin zu behandeln, denn ich bin nicht schuldig. Ich verlange, daß Ihr mich morgen nach Rom zurückbringt.«
Ich sah Francesco an. Dieses »nicht schuldig« schien ihn zum ersten Mal zornig zu machen; doch unfähig, eine Frau zu tadeln, der er sich im Laufe der Jahre völlig unterworfen hatte, sagte er nur, nicht einmal unfreundlich, sondern beinahe bedauernd:
»Das ist unmöglich, Signora.«
Mit einer linkischen Verbeugung zog er sich zurück. Vittoria hatte zwar nicht ihre Rückkehr nach Rom erzwungen, aber ihr moralischer Vorteil war beträchtlich. Es war ihr gelungen, sich als unschuldsvolle Märtyrerin darzustellen, die von einem grausamen Ehemann zu Unrecht verfolgt wird. Diese »Verfolgung« war ihr nützlich: sie rechtfertigte im nachhinein die Freiheiten, die sie sich hinsichtlich ihrer ehelichen Pflichten genommen hatte, und erlaubte ihr zugleich, ihre schwachen Gewissensbisse zum Schweigen zu bringen.
|142|Ihr Onkel, der Kardinal, den sie bisher so zärtlich verehrt hatte, war in ihren Augen nur mehr ein ungerecht strafender Tyrann. Gewiß, Montalto war sehr herrisch und liebte es, die Menschen zu bevormunden. Auch mich wollte er nach meinem fünfundzwanzigsten Geburtstag zwingen, zwischen zwei Gefängnissen zu wählen: Ehe oder Kloster. Aber im Falle von Vittoria war es seine große Liebe zu ihr, die ihn, zu Recht, das Schlimmste befürchten ließ; und bei einem Rest von Ehrlichkeit hätte Vittoria nicht auf den Gedanken verfallen dürfen, er habe grundlos so gehandelt.
Aber so ist dieses unglückliche Geschlecht, dem ich angehöre: ganz Sinnenlust und Leidenschaft! Eine kurze Begegnung mit diesem schönen Krieger, ein Brief – gelesen und verbrannt –, und alles ändert sich. Der gütige, zärtliche Francesco ist nur noch der grausame Ehemann, der Kardinal ein schrecklicher Tyrann. Und ich, ihre älteste Freundin, bedeute ihr nichts mehr, wenn ich ihr Tun nicht vorbehaltlos gutheiße.
Ich sehe sie an. Wie schön sie ist in ihrem schlichten, weiten Morgenkleid und mit dem langen Haar, das ihr hinterherweht. Denn seit Francesco uns verlassen hat, läuft sie mit großen Schritten im Zimmer auf und ab, und ihre goldene Haarpracht bewegt sich im Rhythmus ihrer unruhigen Schritte bei jeder Kehrtwendung wie ein Cape um die Schultern. Was für ein wunderbares Geschöpf! Welche Harmonie in ihren Formen, Proportionen und in den Zügen ihres Gesichts! Wieviel Energie in ihren Bewegungen!
Ich sitze schweigend in einer Ecke des Zimmers, die Hände im Schoß, und betrachte Vittoria mit gemischten Gefühlen. Obwohl mich ihre Schönheit einerseits niederdrückt – welche Frau würde sich ihr nicht unterlegen fühlen? –, bewundere ich sie, wie alle Welt, von ganzem Herzen. Doch diese neue Vittoria, die mit all ihren früheren Gefühlen tabula rasa macht und sich in ihrem Zerstörungswerk so hart, so unerbittlich zeigt, erschreckt mich.
Sie bleibt vor mir stehen, sieht mich von oben bis unten an und sagt beinahe aggressiv:
»Du sagst ja gar nichts. Was hältst du von dem Ganzen? Sprich endlich!«
Ich schaue sie an. Jetzt bin ich an der Reihe, glaube ich. Sie hat mir nichts von dem Brief erzählt, sie hat mir kein Vertrauen geschenkt, fordert es aber jetzt von mir. Und in welchem Ton! |143|Sie vergißt nur eins: ich bin kein Mann. Ihre Schönheit rührt mich, macht mich jedoch nicht blind. Ich bin auch nicht feige. Ich habe genauso scharfe Krallen wie sie.
»Ich schweige, Vittoria«, antworte ich sanft, »weil man mich nicht informiert hat. Ich weiß dazu nichts zu sagen.«
»Aber du siehst doch, wie ich behandelt werde!«
»Ja, das sehe ich. Man bewacht dich, als drohe dir eine große Gefahr. Was für eine Gefahr das sein soll, weiß ich nicht.«
»Es besteht gar keine Gefahr«, sagt sie.
»Der Kardinal und dein Mann scheinen anderer Meinung zu sein.«
»Hat Francesco mit dir darüber gesprochen?«
»Nein«, entgegne ich lebhaft, »er ist wie du: absolut verschwiegen in dieser Angelegenheit. Allerdings …«
»Allerdings?«
»… habe ich bemerkt, daß er vorhin heftig zusammenzuckte, als du sagtest, du seiest nicht schuldig.«
»Ich bin auch nicht schuldig«, schreit sie, aufs äußerste erzürnt.
»Wer wüßte das besser als du?« sage ich gelassen.
»Und du!« pariert sie und sieht mich mit blitzenden Augen an. »Du, die du meine Gedanken besser zu kennen scheinst als ich selbst!«
»Ach, Vittoria, diesen Ehrgeiz habe ich nicht. Und wenn es so wäre, ich also in deinem Herzen lesen könnte, würde sich unser Gespräch erübrigen.«
Sie zieht die Schultern hoch, preßt plötzlich beide Hände an die Schläfen und sagt gereizt:
»Mein Haar ist mir zu schwer. Es verursacht mir schreckliche Kopfschmerzen. Mein Entschluß steht fest: ich werde es abschneiden.«
»Der Zeitpunkt ist vielleicht nicht gut gewählt, deinen schönsten Schmuck zu opfern.«
»Was willst du damit sagen?«
»Das, was ich sage, weiter nichts.«
Sie sieht mich feindselig an und beginnt wieder, im Zimmer auf und ab zu gehen, bleibt aber nach einer Weile vor mir stehen und sagt:
»Dieses Gespräch ermüdet mich. Laß mich bitte allein, Giulietta.«
|144|Ich verlasse sie. Am Nachmittag überbringt mir Caterina ein paar knappe Zeilen von ihr:
»Liebste Giulietta, bitte enthalte Dich für die Dauer meines Aufenthaltes in Santa Maria jeglicher Besuche in meinem Zimmer. Außerdem wäre ich Dir sehr verbunden, wenn Du Francesco bei den Mahlzeiten Gesellschaft leisten könntest, da ich sie nicht mit Euch einzunehmen gedenke.
Herzlich, Vittoria«
Ich bewundere das »liebste Giulietta« und bewerte auch das abschließende »herzlich« in gebührender Weise. Die Kehle ist mir wie zugeschnürt, als ich dieses Billett lese, mit dem sie mir wie eine Königin ihre Gunst entzieht. Doch ich weine nicht. Diese Entscheidung habe ich vorausgesehen. Vittoria hat mich – genauso wie ihren Onkel und ihren Mann – einfach fallenlassen.
Caterina Acquaviva:
Wie verzweifelt und wütend die Signora über ihre Abreise aus Rom war, merkte ich an ihrer schlechten Laune während der Reise. Aber sie war darin nicht die einzige: ich habe Marcello verloren, dessen Verbleiben in Rom von Anfang an beschlossene Sache gewesen ist. Schließlich war er der Sekretär des Fürsten Orsini und Gastfreund der Sorghini. Er wurde nicht einmal über den Zeitpunkt der Abreise informiert, wenigstens nicht durch Signor Peretti. Erst durch mich erfuhr er Tag, Stunde und Ziel, nachdem mich die Signora davon in Kenntnis gesetzt hatte, und das bestimmt nicht ohne Grund, denn sie wußte von meiner Beziehung mit Marcello. Signor Peretti, finde ich, hätte das Reiseziel vor seiner Frau lieber geheimhalten sollen. Aber der arme Signore ist immer viel zu gutmütig und naiv. Er hat keine Ahnung, zu welchen Listen selbst die anständigste Frau fähig ist. Natürlich können auch manchmal Männer sehr gemein sein: wer hätte gedacht, daß Raimondo und Silla, zu denen ich so nett gewesen bin, mir eines Tages drohen würden, »Spitze aus meinen Därmen zu häkeln«?
Jedenfalls bleiben mir jetzt, genau wie der Signora, nur meine Träume, wobei ich sicherlich noch unglücklicher bin als sie, denn ich glaube nicht, daß sie jemals richtig geliebt hat.
|145|Einen Trost gibt es in Santa Maria für mich: Peretti hat il mancino mitgenommen, um mit ihm Fechten zu üben, denn mein großer Bruder, der alles kann außer ehrlich sein, ist ein geschickter Fechter. Signor Peretti ist etwas dicker geworden und hofft, durch das Training wieder schlank zu werden.
In Santa Maria spricht il mancino – sogar ich, seine Schwester, nenne ihn so – nur sehr wenig mit mir, einsilbig und leise, wenn niemand in der Nähe ist und meist auch nur, um mir Befehle zu erteilen. Dabei sieht er mich in einer Weise an, daß mir die Lust vergeht, ihm ungehorsam zu sein.
Am Morgen des 3. Mai begegnet er mir am Holzschuppen, den man endlich aufgefüllt hat und wo ich ein paar Scheite für die Signora hole.
»Caterina, hast du den Wachtturm auf der Felsklippe über der kleinen Bucht bemerkt?«
»Ja, Domenico.«
»Ich hatte ihn am Tag nach unserer Ankunft besichtigt; er war unbesetzt, aber inzwischen scheint dort einer Posten zu stehen. Das müßte überprüft werden.«
Ich schmolle:
»Du weißt genau, was passiert, wenn ich auf den Turm steige und dort ein Soldat steht.«
»Das kann dich doch nicht abschrecken?«
So geht’s zu in der Welt! Nur weil ich die Männer mag, behandelt mich der eigene Bruder nicht viel besser als eine Nutte! Er, der selbst ein Zuhälter ist!
»Doch«, sage ich trotzig, »wenn er nach Wein und Knoblauch stinkt.«
»Caterina«, entgegnet il mancino streng, »deine parfümierten Edelleute sind dir zu Kopf gestiegen. Du vergißt deine Pflichten gegen deinen älteren Bruder.«
»Und ist es meine Pflicht gegenüber meinem älteren Bruder, mich vom erstbesten bespringen zu lassen?«
»Es muß ja nicht so weit kommen. Nimm ihm Wein mit, dann beschäftigt er sich vielleicht lieber mit der Flasche als mit dir.«
»Und wenn ich nicht bis ganz nach oben steige? Ich würde deutlich hören, ob sich jemand über mir befindet.«
»Nein, du mußt mit ihm reden. Ich will wissen, ob auch nachts einer Posten steht.«
|146|»Ist das wichtig für dich?«
»Es ist wichtig für Leute, die du liebst.«
»Und du«, frage ich, »liebst diese Leute nicht?«
»Ich werde von ihnen bezahlt«, sagt er mit Würde.
Ich frage scharf:
»Deine Flittchen genügen dir wohl nicht?«
Seine Augen blitzen, er sieht sich um, geht bis zur Schuppentür, späht nach draußen, kehrt zurück und gibt mir zwei Ohrfeigen, auf jede Backe eine, die aber nicht sehr weh tun. Er will mich nicht etwa schonen, aber mich auch nicht brandmarken oder Lärm machen.
»Dumme Kuh«, sagt er, »das wird dich Respekt vor deinem Bruder lehren! Ich eß nicht mit ’ner Gabel wie du. Ich kann nicht lesen. Und ich ficke keine adligen Damen. Aber ich bin immer noch dein Bruder, vergiß das nicht!«
»Verzeih mir, Domenico«, bitte ich, ganz rot vor Scham, nicht wegen der Ohrfeigen, sondern wegen meiner Aufsässigkeit.
»Du tust, was ich gesagt habe?«
»Ja, Domenico.«
»Na siehst du, Caterina, bist ein braves Mädchen. Aber hüte deine Zunge: sie ist flinker als dein Grips.«
Er legt die Arme um meine Schultern, zieht mich an sich und drückt mich. Mein Bruder ist höchstens ein oder zwei Zoll größer als ich und sehr hager. Ich bin bestimmt fülliger als er; doch ich fühle mich in seinen Armen dahinschmelzen. Er ist so stark. Er küßt mich, nicht auf die Wange, sondern wie es seine Gewohnheit ist: hinters Ohr und auf den Hals. Von meinen sechs Geschwistern ist il mancino der einzige, der mir jemals Zuneigung bezeigt hat. Es war ein trauriger Tag für mich, als meine Mutter mich aus seinem Bett vertrieb und mich zu den Schwestern steckte. Hatte Domenico nichts zu tun, schnitzte er mir Holzpuppen. Und später, wenn er als Bandit (weswegen ich ihn sehr bewunderte) manchmal in Grottammare Zuflucht suchen mußte, steckte er mir jedesmal, bevor er wieder fortzog, eine Münze zu: »Hier, bambola mia1, kauf dir Bonbons.« Und das, obwohl er meist sehr knapp bei Kasse war.
Das Metier eines Banditen ist nicht so einträglich, wie man denkt. Pfarrer Racasi sagt, es sei abscheulich, von den Frauen |147|zu leben, und da er ein kluger Mann ist, wird er sicher recht haben. Doch es bringt mehr ein, und das Risiko ist geringer.
Pfarrer Racasi mußte wegen seiner Gemeinde in Rom bleiben, und der Kardinal hat uns statt seiner einen Franziskaner als Beichtvater mitgegeben: Pater Barichelli. Er ist brünett, noch jung, sein üppiges Haar, sein Bart bedecken ihm Stirn und Gesicht bis auf die Augen fast völlig. Ich habe ihm schon einmal gebeichtet, sehr wohl ahnend, warum er hier ist. Vor der Absolution riet er mir, eingedenk zu sein, daß mein Körper »nichts weiter ist als eine Handvoll Erde und wieder zu Staub zerfallen wird«. Das ist bestimmt richtig. Doch nach der Art und Weise zu urteilen, wie die Männer mich mit Blicken liebkosen, muß die Erde, aus der ich gemacht bin, hübsch anzusehen sein. Und wenn Pater Barichelli in meiner Gegenwart die Lider senkt, frage ich mich, ob er sich sammeln oder nach meinen Brüsten schielen will. Wenn es zur inneren Sammlung geschieht, wie ich glauben möchte, versteh ich nicht, warum seine Nasenflügel so beben.
Die Signora lehnt es ab, Pater Barichelli zu sehen, weil man ihren Beichtvater ausgetauscht hat, ohne sie zu fragen. Das ist offensichtlich nur ein Vorwand, denn in Rom, im Palazzo Rusticucci, hatte sie seit der Klausur auch Pfarrer Racasi nicht mehr vorgelassen, der für diese Maßnahme vermutlich mit verantwortlich war.
Noch am Nachmittag des Tages, da mir il mancino seine Befehle erteilt hatte, ging ich zweimal zum Wachtturm: das erste Mal auf Katzenpfoten, um zu sehen, ob jemand da sei; das zweite Mal mit festem Schritt und mit Wein für den Wachposten. Es war ein junger Soldat der päpstlichen Truppe, weder häßlich noch schmutzig, doch sehr schüchtern und so beeindruckt von meinen Manieren und meiner gewählten Ausdrucksweise, daß er sich nur an die Weinflasche traute. Einerseits schmeichelte mir das, andererseits war ich ein bißchen enttäuscht. Ich ließ ihn trinken, nahm die Flasche aber beim Weggehen wieder mit, und er mußte mir schwören, niemandem etwas von meinem Besuch zu verraten. Durch geschickte Fragen bekam ich heraus, daß die Wache vom Morgengrauen bis zum Anbruch der Nacht dauere. Ich erfuhr auch, daß es Aufgabe des Wachpostens sei, Alarm zu schlagen, sobald sich ein Segelschiff der Küste näherte und ein Boot zu Wasser gelassen wurde.
|148|Il mancino hörte mir schweigend und mit unbewegter Miene zu, als ich ihm diese Auskünfte hinterbrachte. Zwei Tage später, am 5. Mai, verabschiedete er sich von mir: er müsse nach Rom reiten und dem Kardinal einen Brief von Signor Peretti überbringen. Er war bereits am 8. Mai wieder zurück, und als ich tags darauf im Schuppen Holz für die Signora holen wollte – es war noch immer ziemlich kühl –, schlich er sich hinter mich, drückte mir die Hand auf den Mund und küßte mich auf den Hals. An diesem Kuß erkannte ich ihn.
»Caterina, ich habe zwei Aufträge für dich. Der erste: am Ende des Parks, auf der Klippe, nahe den Stufen, die in den Fels gehauen sind und zur Bucht hinunterführen, steht ein kleines Haus. Es ist verschließbar, das Dach ist in Ordnung, und es hat zwei Kamine, an jedem Giebel einen. Der Bischof nutzte es früher, um sich dort für sein Bad in der Bucht zu entkleiden und sich hinterher abzutrocknen und wieder anzuziehen. Daher die beiden Kamine. Du sollst es dir ansehen und Vittoria überreden, in das Häuschen überzusiedeln. Frag mich nicht, warum«, fuhr er barsch fort. »Darauf geb ich dir keine Antwort.«
»Ich will es versuchen«, sagte ich, »aber das wird schwierig werden: die Signora ist nicht so leicht zu beeinflussen.«
»Du mußt hartnäckig sein«, verlangte er mit einem gewissen Unterton und ein bißchen geheimnisvoll.
Seine Worte jagten mir Schauer über den Rücken. »Wenn die Signora einwilligt, mußt du natürlich auch dort wohnen. Es gibt zwei Zimmer, oder genauer: einen durch einen Vorhang geteilten großen Raum, den zwei Fenster erhellen. Sie gehen auf das Meer. In der Nacht vom 12. zum 13. Mai sollst du, bei jedem Wetter, so viele Kerzen wie möglich in die Fenster stellen – das ist mein zweiter Auftrag. Die Fensterläden darfst du natürlich nicht schließen!«
»Und wie soll ich der Signora all die Lichter plausibel machen?«
Il mancino drehte sich ruckartig zu mir herum und sah mich kalt an.
»Was du ihr erzählst, ist deine Sache«, erwiderte er schroff. »Von dieser Minute an ist das deine Sache und geht mich nichts mehr an. Ich jedenfalls habe dir nichts gesagt. Hörst du, Caterina, nichts von dem, was du eben vernommen hast, habe ich dir gesagt. Morgen reite ich nach Rom zurück.«
|149|»Schon wieder!« rief ich und warf mich in seine Arme. Er zog mich fest an sich, drückte mir den üblichen kleinen Kuß auf den Hals und verschwand auf leisen Sohlen, ohne weitere Erklärungen. Als er weg war und ich das Gesagte überdachte, zitterte ich vor Freude, Erwartung und Angst. Mein Aufenthalt in Santa Maria nahm eine ganz neue Wendung.
Glücklicherweise blieb mir etwas Zeit, um die Signora zu bewegen, sich in dem Häuschen am Steilufer einzurichten. Ich bat den Majordomus, mir eine Besichtigung zu erlauben. Ich lächelte ihm zwei-, dreimal kurz zu: schon hatte ich seine Einwilligung. Das Häuschen gefiel mir. Auf meine Bitte ließ der Majordomus die beiden Kamine anheizen. Sie ziehen sehr gut. Als das Feuer prasselte, schickte er den ihn begleitenden Diener weg und fing an, zärtlich zu werden. Ich ließ ihn gewähren, denn ich brauchte ihn nur anzusehen, um zu wissen, daß er nicht lange durchhalten würde. Und tatsächlich fing er bald an zu keuchen und hörte von selbst auf. Trotzdem sah er ganz zufrieden aus und bedankte sich für meine Gefälligkeit. Ich bat ihn, mir den Hausschlüssel zu geben.
Ich traute mich jedoch nicht, der Signora schon davon zu erzählen. Ihre schlechte Laune hat sich nicht gebessert. Sie macht den Mund nicht auf und hat Signor Peretti, Pater Barichelli und sogar Giulietta den Zutritt zu ihrem Zimmer verboten.
Während ihrer Auseinandersetzung mit Giulietta habe ich an der Tür gelauscht. Arme Giulietta! Was mußte sie auch den Kardinal und Signor Peretti gegenüber ihrer Cousine in Schutz nehmen? Immer schwingt sie sich zum Richter über andere auf! Ich hab es schon einmal gesagt, glaub ich: mir wirft sie vor, meinen Busen zur Schau zu stellen. Ich seh nicht recht, was sie zur Schau stellen könnte! Giulietta wird immer mehr eine alte Jungfer! Dabei ist sie gar nicht häßlich, nur etwas mager. Vittoria ist einfach zu schön. Giulietta ist im Schatten dieser schönen Pflanze, die ihr die Sonne nahm, aufgewachsen und daher verkümmert. Wenn sie neben ihrer Cousine steht, wer hätte da wohl Augen für sie? Eine Frau braucht von Geburt an die Blicke der Männer: das ist die Wärme, in der sie gedeiht.
Manchmal werde ich von Entsetzen gepackt bei dem Gedanken, eines Tages alt zu sein und ohne diese Wärme leben zu müssen. Pater Barichelli hält sich für sehr gewitzt, wenn er mir |150|bei der Beichte die Qualen der Hölle androht. Aber meine Hölle wartet bereits zu Lebzeiten auf mich – ich brauch nur zu denken: Eines Tages bist du alt.
Der Wachtturm, das Häuschen am Steilufer, die Kerzen in den Fenstern, die Stufen zu der kleinen Bucht … Ich bin nicht dumm und weiß genau, wer in der Nacht vom 12. zum 13. diesen Weg kommen soll. Ich hoffe nur, er ist nicht allein.
Ich zögere noch, dem Auftrag des mancino gemäß mit der Signora zu reden. Da sie keinen zweiten Brief erhalten hat (ich wüßte davon!) und sich für »nicht schuldig« erklärt, bin ich mir nicht sicher, wie sie meinen Vorschlag aufnehmen würde. Meine Mutter hat recht: diese adligen Damen sind stolz. Sie fühlen sich verpflichtet, wohlerzogen und tugendhaft zu sein. Am Ende werde ich ihr vielleicht überhaupt nichts sagen, es sei denn, sie sperrt sich, in das Häuschen umzuziehen. Dio mio, das Leben ist schon komisch! Ich, die ich Signor Peretti so sehr schätze, leiste der Untreue seiner Frau Vorschub. So etwas würde ich sonst nie tun, aber mein Bruder und Marcello machen mit mir, was sie wollen.
Für die Klausur im Palazzo Rusticucci und den Aufenthalt in Santa Maria gibt die Signora allein Pfarrer Racasi die Schuld. Sie ahnt nichts von meinen Verbindungen zum Kardinal. Mehr noch: ich bin jetzt ihre einzige Vertraute. Seit ihrer Weigerung, die Mahlzeiten gemeinsam mit Signor Peretti und Giulietta einzunehmen, muß ich mit ihr auf ihrem Zimmer speisen. Und jeden Tag schenkt sie mir ein Stück Wäsche oder Schmuck. Manchmal schäme ich mich. Sie ist so gut und großzügig. Ist sie es wirklich? Ja und nein. Zu mir immer! Doch zu Signor Peretti?
Am 10. Mai frühmorgens fordere ich den Majordomus auf, das Häuschen an der Steilküste gründlich saubermachen und ein großes Kaminfeuer anzünden zu lassen. Und während die Signora an ihrem Frisiertisch sitzt und ich ihr Haar ordne, teile ich ihr meine »Entdeckung« mit. Da sie seit einer Woche nicht mehr das Zimmer verlassen hat und sich trotz ihres Petrarca zu Tode langweilt, zeigt sie sich interessiert. Sie macht jedoch Einwände: sie will nicht durch den Park gehen, wo die Soldaten kampieren, sie will ihre Kerkermeister nicht sehen müssen.
»Aber Signora, dort sind sie ja gar nicht. An der Ringmauer führt ein Weg entlang, den bin ich gegangen. Und ich habe keinen einzigen Soldaten gesehen«, beteuere ich.
|151|Ich sage ihr wohlweislich nicht, daß die Soldaten mich gesehen haben müssen, denn auch oben auf der Mauer führt ein Weg entlang, dessen Wachttürme mit Sicherheit von Posten besetzt sind.
Meine Gründe oder einfach das Verlangen, sich die Beine zu vertreten – zum ersten Mal in diesem verregneten Frühling scheint die Sonne –, überzeugen die Signora schließlich. Ich führe sie zu dem Häuschen. Sie besichtigt es und ist gewonnen! Sie findet sogar die Sprache wieder! Es riecht hier weniger modrig als im Palazzo und ist auch bei weitem nicht so feucht. Und die beiden Kamine, die sich so lustig gegenüberstehen – wie hübsch! Und man ist so dicht am Meer, daß man sich fast wie auf dem Wasser fühlt. Und außerdem, wozu braucht sie einen Palazzo, der ja doch nur ein Gefängnis für sie ist? Eine einfache Hütte genügt ihr. Sie hat die Einsamkeit niemals gefürchtet und Gott sei Dank auch nicht die Armut.
Ich sage zu allem ja und amen. Aber ich denke mir mein Teil. Sie redet von »Armut« – bei den Mahlzeiten, die man uns serviert! Und von »Hütte«! Da sieht man, daß sie nie einen Fuß in mein Geburtshaus in Grottammare gesetzt hat! Für mich ist diese »Hütte« ein richtiger Palast!
Ich muß ihr gar nicht erst einreden, dorthin umzuziehen. Sie hat sich kurzerhand selbst so entschieden. Sie fragt nicht einmal Signor Peretti nach seiner Meinung, fest davon überzeugt, daß er es nicht wagen würde, sich ihrem Vorhaben zu widersetzen. Sie zitiert den Majordomus zu sich und erteilt ihm ihre Befehle. Er soll alles Nötige hinbringen lassen: Teppiche, Wandbehänge, ihren Frisiertisch, ihre Truhen und zwei Betten. Das alles hat umgehend zu geschehen! Sofort! Wenn die Signora auf diese Weise herumkommandiert, erinnert sie mich an ihre Mutter.
An diesem 10. Mai ist die Signora den ganzen Tag heiter und geschäftig. Sie leitet den Umzug persönlich. Den Frisiertisch soll man dahin stellen! Nein, lieber dorthin! Das Bett würde viel besser in die andere Ecke passen! Ist die Zisterne auch gefüllt? Sie ist es. Man soll Holz in den Schuppen bringen. Wir haben bald genug für den ganzen Winter. Das Gestrüpp vor dem Haus muß abgeschnitten werden! Schon erledigt. Aber das hinten soll nicht angerührt werden: Es verdeckt uns den ihr so verhaßten Ausblick auf Santa Maria.
|152|Ich habe nicht übel Lust, ihr zu sagen, daß dieser Ausblick sie ohnehin nicht verdrießen kann, weil das Haus nach dort keine Fenster hat. Ich werde ihr aber nicht sagen, daß dieses Fleckchen Erde mir sehr geeignet erscheint für die Zwecke, für die der Bischof es nutzte: sich zu entkleiden, sich nach dem Baden abzutrocknen und eine Erfrischung zu sich zu nehmen. Ich finde es hier windig, wild und trotz der hellen Sonne ziemlich unheimlich. Kaum zehn Schritte trennen das Haus von der Steilküste, die an dieser Stelle etwas überhängt. Die Tiefe unter uns ist schwindelerregend. Um nichts auf der Welt würde ich, wie die Signora, an den Felsenvorsprung herantreten, unter dem der Abgrund gähnt und sich die Wellen an den Klippen brechen. Der schmale Streifen Land ist von hartem Gras bedeckt, das bei Regenwetter glitschig sein wird. Rechts beginnen die in den Fels gehauenen Stufen, die zu der kleinen Bucht hinunterführen.
Am nächsten Morgen ist der Himmel endlich klar, und die Sonne scheint warm hernieder; so beschließt die Signora zu baden, denn nach der ersten Nacht in dem Häuschen hat sie ihre frühere Tatkraft zurückgewonnen. Natürlich muß ich sie begleiten und hinter ihr die schrecklichen Stufen hinabsteigen. Ich sterbe fast vor Angst. Und was finde ich unten? Einen winzigen Strand fünf Schritt breit und zehn Schritt tief, mit einer kleinen Grotte.
»Also ist das Steilufer unterhöhlt und wird bald einstürzen«, sage ich.
»Come sei stupida!«1 erwidert die Signora. »In zwei- oder dreihundert Jahren vielleicht. Oder noch nicht einmal dann!«
Aber es wird ihr heimgezahlt, daß sie mich wie einen Dummkopf behandelt. Sie hat kaum den Fuß benetzt, als sie ihn auch schon zurückzieht: das Wasser ist eisig. Obendrein liegt der kleine Strand morgens im Schatten, so daß sie in ihrem dünnen Hemd friert. Wir steigen wieder nach oben, und obwohl der Aufstieg weniger schwindelerregend ist als der Abstieg, leide ich wiederum. Oben werfe ich mich in das harte Gras und weine.
»Man würde nicht denken, daß du eine Fischerstochter bist«, sagt die Signora.
|153|Sie hat wieder schlechte Laune. Ihr mißglücktes Bad verdrießt sie. Am folgenden Tag, dem 12. Mai, ist alles noch schlimmer. Als ich die Fensterläden öffne – sie lassen sich gottlob von innen öffnen –, ist kein Stückchen blauer Himmel zu sehen. Alles grau in grau. Tiefe dräuende Wolken, und das Meer dunkelviolett mit weißen Schaumkronen. Es ist sehr frisch. Immer wieder peitscht der Wind den Regen gegen die Scheiben. Nachdem ich die Fensterläden zurückgeschlagen habe, ziehe ich den roten Seidenvorhang auf, der das Zimmer teilt, schüre das Feuer in den beiden Kaminen und mache die Betten. Die Signora steht am Fenster und schaut aufs Meer. Als ich meine Arbeiten erledigt habe, fängt sie an, in dem kleinen Zimmer auf und ab zu gehen; sie seufzt verhalten, setzt sich vor den Kamin und vertieft sich in ihren Petrarca.
Ich weiß genau, was los ist. Mit der Begeisterung für das Häuschen und die »beiden Kamine, die sich so lustig gegenüberstehen« ist es bereits vorbei. Jetzt findet sie die Mauern zum Ersticken. Die Nähe des Meeres, die ihr vorgestern so gefiel, bedrückt sie. Sie sehnt sich nach dem Palazzo Rusticucci. Vielleicht sogar nach dem Palazzo Santa Maria? Aber das würde sie nie zugeben. Dafür ist sie viel zu stolz. Sie versinkt wieder in ihre Stummheit und widmet sich ihrem Buch. Sie sagt kein Wort, und das bedeutet: ich habe ebenfalls zu schweigen. Was mir sehr unangenehm ist. Erstens, weil ich schwatzhaft, und zweitens, weil ich ängstlich bin. An diesem Abend soll ich bei einbrechender Dunkelheit die Kerzen ins Fenster stellen, und zwar, wie Domenico betont hat, »bei jedem Wetter«.
Das Wetter eben ist es, das mich beunruhigt. Ich stehe hinter dem Sessel meiner Herrin und hänge trüben Gedanken nach, während ich ihr Haar bürste. Das dauert eine reichliche Stunde und verlangt geschickte Hände, denn die Signora hat einen sehr empfindlichen Kopf in Anbetracht der Last, die sie zu tragen hat. Ich ziehe meine Beschäftigung möglichst in die Länge, aus Angst, hinterher nichts mehr zu tun zu haben, wovor mir graut. Leider wird die Signora, die offenbar auch sehr entnervt ist, ungeduldig und gebietet mir mit einer Handbewegung, aufzuhören. Ich packe die Bürste weg und räume den Frisiertisch auf. So, das ist geschafft; nun habe ich nichts mehr zu erledigen. Waschen und Bügeln sind nicht meine Aufgabe. Dafür gibt es im Palazzo eine andere Kammerzofe. Zum ersten |154|Mal bedauere ich, daß nicht auch diese Dienste mir zufallen. Sie würden mich ablenken und daran hindern, mir das Herz mit dummen Gedanken schwerzumachen. Ich habe zu viel Phantasie: ich sehe, wie mein armer Marcello mit bleichem Gesicht und geschlossenen Lidern von den Wellen angespült wird …
»Signora, wenn Ihr gestattet …«
»Ach, Caterina«, unterbricht sie mich, »du gehst mir auf die Nerven! Dauernd mußt du reden! Merkst du nicht, daß mich das beim Lesen stört?«
Beim Lesen oder beim Träumen? Ich sehe sie nicht oft eine Seite umblättern. Ich bin ja nicht blöd und habe Augen im Kopf.
»Verzeihung, Signora, wenn Ihr erlaubt, würde ich gern Euren Schmuck putzen.«
»Das habe ich vor kurzem schon selber gemacht.«
»Gold kann nie genug glänzen, Signora.«
»Na gut, dann putze, wenn dich das für ein Weilchen beschäftigt«, antwortet sie achselzuckend. »Aber sei vor allem leise! und lauf nicht ständig umher!«
»Ja, Signora.«
Auf das eine breite Fensterbrett stelle ich eine mit Seifenwasser gefüllte kleine Schale. In eine andere Schale lege ich einen Schwamm. Und auf einem roten Handtuch breite ich die Schmuckstücke aus, die ich einzeln aus der Schatulle nehme. Wenn ich nicht so unruhig wäre, könnte das ein hübscher Zeitvertreib sein. Das Fensterbrett befindet sich für mich genau in der richtigen Höhe, so daß ich nicht die Arme zu heben brauche; und ich kann aufs Meer hinaussehen, was mir bei ruhigem Wetter Spaß machen würde. Doch es schwillt immer mehr an, wie mir scheint.
Wenn ich mit einem Ring fertig bin, blicke ich schnell zur Signora – die keineswegs öfter umblättert als bisher – und stecke ihn mir dann heimlich auf den kleinen Finger; es ist der einzige Finger, wo er mir paßt, denn die Signora hat viel zartere Hände als ich. Trotzdem steht mir der Ring genausogut wie ihr! Und ihre Kolliers ebenfalls! Aber die probiere ich nur an, wenn ich mich allein in ihrem Zimmer befinde, weil ich den Ankleidespiegel brauche, um mich zu betrachten. Sie kommen auf meinem hübschen Dekolleté so gut zur Geltung, daß jedem Mann bei diesem Anblick das Wasser im Mund zusammenlaufen |155|würde. Vor allem Perlen wirken auf meiner matten Haut sehr vorteilhaft: beider Schönheit, die der Perlen und die der Haut, kommt dadurch besser zur Geltung. Und das um so mehr, als ich einen makellosen Hals habe, rund und weich und ohne eine Falte. Ich kann mir keinen richtigen Mann vorstellen, der beim Anblick meines Halses mit einem hübschen Schmuck nicht sofort Lust verspüren würde, ihn mit Küssen zu bedecken.
Ich schäme mich fast, daß ich meine Bangigkeit vergessen und nur an meine kleine Person gedacht habe, während vor meinen Augen der Himmel immer dunkler, die See immer wilder wird. Ich höre, wie sich die Wellen am Fuße der Klippe brechen. Sie verursachen einen Lärm wie Trommelwirbel und ein überlautes saugendes Geräusch. Mir ist, als schwanke die Felswand unter meinen Füßen, aber das ist nur Einbildung. Die Signora hat gut spotten, daß ich mich als Fischerstochter vor dem Meer fürchte. In Wirklichkeit habe ich noch nie einen Fuß auf ein Schiff gesetzt oder in Salzwasser gebadet. Bei uns in Grottammare heißt es, das sei ungesund.
Als uns der Majordomus in Begleitung von drei oder vier Dienern das Mittagsmahl bringt, muß die Signora notgedrungen den Mund aufmachen, sowohl um zu essen wie um dem Majordomus für die Mühe zu danken, die er ihretwegen auf sich nimmt. Und zu mir sagt sie zerstreut nach einem Blick aus dem Fenster:
»Hoffentlich klart es auf.«
»Oh, ja, das hoffe ich von ganzem Herzen«, erwidere ich lebhaft.
Mein Ton überrascht sie, und sie sieht mich an. Doch ich fürchte, schon zuviel gesagt zu haben, und blicke auf meinen Teller.
Der Nachmittag verläuft so unangenehm, wie man es sich nur vorstellen kann. Das Wetter klart nicht auf; es wird noch schlechter. Der Regen steigert sich zum Wolkenbruch. Der Wind bläst heftig, so daß das Wasser gegen unsere Scheiben klatscht; und obwohl die Fenster gut schließen, dringen Wind und Regen bis ins Zimmer. Das Fensterbrett, wo ich vor dem Essen den Schmuck gereinigt habe, ist inzwischen völlig überschwemmt. Ich wische es mit einem Schwamm trocken, und dann versuche ich, die Fenster mit Lappen, die ich möglichst |156|fest zwischen Mauer und Rahmen klemme, besser abzudichten. Das gelingt mir zwar nicht völlig, aber ein wenig nützt es doch.
Jetzt braut sich auch noch ein Gewitter zusammen. Das Tosen der sich überschlagenden Wellen, das Donnergrollen – der Lärm ist ohrenbetäubend. Ich sitze untätig auf einem niedrigen Stuhl am Feuer und zittere bei jedem Blitz. Wie schön wäre es, wenn auch die Signora Angst hätte und wir eng zusammenrücken würden, um uns gegenseitig zu beruhigen. Im Winter, im Palazzo Rusticucci, läßt die Signora, die immer friert (während mir immer heiß ist), mich manchmal zu sich ins Bett kommen. Und wie glücklich bin ich dann jedesmal!
Ich blicke verstohlen zu ihr hin. Sie zuckt nicht einmal zusammen, wenn ein Blitz unsere Fenster erleuchtet und der Donner rollt und grollt wie am Jüngsten Tag. Die Signora sitzt auf ihrem Sessel, ruhig und still wie die Madonna, die Füße auf einen Schemel gestützt, das goldene Haar über die Sessellehne geworfen. Ich habe es sorgfältig hinter ihr auf dem Teppich ausgebreitet. Denn wenn sich die Haarsträhnen verfitzten, müßte ich sie wieder entwirren; und das ist eine Hundearbeit.
Sie trägt ein blaßblaues Hauskleid ohne Mieder und Hüftpolster, in dem sie sich frei und ungezwungen bewegen kann. Sie ist schön und vollkommen. Obwohl ich nun schon seit Jahren fast ständig um sie bin, habe ich mich immer noch nicht an ihre Schönheit gewöhnt. Manchmal, wenn ich sie ansehe, traue ich meinen Augen nicht und denke: Es kann doch gar nicht sein, daß eine Frau so schön ist.
Die tobende See, der heulende Wind, die krachenden Blitze – nichts jagt ihr Furcht ein. Sie liest oder träumt vor sich hin. Von Zeit zu Zeit läßt sie ihr Buch in den Schoß sinken und starrt ins Leere, wobei sie leicht die Lippen bewegt. Man könnte denken, sie betet. Aber in Wirklichkeit betet sie nicht; ich weiß, was sie macht: sie lernt ein Sonett ihres Petrarca auswendig. Im Palazzo Rusticucci hat sie manchmal laut rezitiert, während wir alle damit beschäftigt waren, ihr Haar in einem Zuber zu waschen. Es klingt sehr schön, wie sie das aufsagt, aber es ist ein Italienisch, das ich nicht verstehe.
Am späten Nachmittag höre ich vor dem Haus ein Geräusch. Ich schaue aus dem Fenster und erblicke Signor Peretti, dem der Regen von Kopf und Schultern trieft. Es klopft, doch als |157|ich auf Vittorias Zeichen hin öffne, tritt nicht der Signore herein, sondern der Majordomus. Ich beeile mich, die Tür hinter ihm wieder zu schließen, was mir nur mit Mühe gelingt: mit meinem ganzen Gewicht muß ich mich dagegenstemmen und mit aller Kraft gegen den Seewind ankämpfen.
»Signora«, sagt der Majordomus mit einer tiefen Verneigung, »Signor Peretti bittet Euch inständig, wegen des heftigen Unwetters die kommende Nacht im Palazzo zu verbringen.«
»Richte ihm meinen Dank aus«, erwidert die Signora mit einem Anflug von Hochmut, »doch das Haus ist fest. Ich fühle mich hier genauso sicher wie im Palazzo.«
»Signora«, fleht der Majordomus in großer Verwirrung, »der Herr hat mir aufgetragen, Euch die Rückkehr in den Palazzo mit größter Dringlichkeit nahezulegen.«
»Damit könnt Ihr nichts ausrichten«, meint Vittoria und lächelt geringschätzig. »Mein Entschluß steht fest: ich bleibe hier.«
Er verbeugt sich und geht. Ich öffne die Tür nur spaltbreit und schließe sie gleich wieder. Durch das Fenster kann ich sehen, wie er Signor Peretti etwas ins Ohr schreit, um gegen den infernalischen Lärm von Wind und See anzukommen. Der Signore scheint sich zu fragen, ob er nicht selbst eintreten und mit der Signora reden solle, denn ich sehe ihn zwei Schritte auf unsere Tür zu machen. Im letzten Moment besinnt er sich, kehrt um und geht weg. Das hätte er nicht tun dürfen, glaube ich.
Ich werde in meiner Meinung bestärkt, als die Signora kurz darauf von ihrem Buch aufblickt und zu mir sagt:
»Was ist mein Mann doch für eine traurige Figur! Er fürchtet sich vorm Regen und ein paar harmlosen Blitzen. Statt selbst zu kommen, schickt er mir den Majordomus.«
»Nein, Signora«, sage ich, »Signor Peretti hat keine Angst gehabt. Ich habe ihn durchs Fenster gesehen. Er troff vor Nässe. Er hat nur nicht gewagt einzutreten: Ihr habt ihm doch den Zutritt verboten.«
Die Signora blickt mich an, und plötzlich füllen sich ihre großen blauen Augen mit Tränen.
»Wie!« klagt sie mit versagender Stimme. »Auch du, Caterina? Auch du stellst dich gegen mich?«
Ihr Ton, ihre Tränen, ihr Blick verwirren mich. Ich werfe mich ihr zu Füßen. Ich nehme ihre Hände und bedecke sie mit Küssen.
|158|»Oh, nein, Signora«, rufe ich, »niemals! Ich werde immer zu Euch halten, was auch geschehen mag!«
Und ich beginne zu weinen. Sie befreit ihre Hände und streicht mir übers Haar. Ein großes Glücksgefühl durchdringt mich, wie ich ihr so zu Füßen liege, den Kopf in den Falten ihres Gewandes geborgen. Kurz darauf sagt sie zu mir:
»Nun ist alles wieder gut … Wir haben Frieden geschlossen. Du bist ein braves Mädchen, Caterina.«
Ich erhebe mich und nehme meinen Platz am Feuer wieder ein. Ein braves Mädchen, gewiß bin ich das. Alle Welt sagt es. Und vielleicht nutzt man das ein bißchen aus. Denn ich habe wirklich und mit eigenen Augen gesehen, wie Signor Peretti tropfnaß und sehr unglücklich vor der Tür seiner Frau stand und nicht einzutreten wagte. Wieso habe ich die Signora verraten und mich »gegen sie gestellt«, nur weil ich ihr das berichtet habe?
Gegen sechs Uhr abends kommt in strömendem Regen der arme Majordomus mit vier Dienern und bringt unser Abendessen. Hinter dem Rücken der anderen lächele ich dem Dicken zu, um ihn bei Laune zu halten. Wir sind gute Freunde, seitdem ich ihm die schon erwähnten kleinen Freiheiten gestattet habe. Auch die Signora ist sehr nett zu ihm: wahrscheinlich ist ihr bewußt, wieviel Unannehmlichkeiten sie ihm bereitet. Obwohl völlig durchnäßt, verläßt er uns reinweg behext. Beim Abschied gebe ich ihm mit einem letzten Lächeln den Rest. Erstaunlich, daß ich mich über derartige Spielchen noch amüsieren kann, trotz meiner Nervosität und Angst. Denn der Abend bricht herein, und es wird Zeit, Domenicos Anweisung zu befolgen und Kerzen ins Fenster zu stellen, selbstverständlich ohne die Läden zu schließen. Ich mache alles, wie befohlen, bin jedoch sehr besorgt: welch unsinniges Arrangement bei dem heftigen Sturm, der immer wieder die Fensterscheiben erschüttert.
»Du bist verrückt, Caterina!« sagt die Signora und schaut von ihrem Buch auf. »Was soll die Festbeleuchtung? Schließ lieber die Fensterläden!«
»Signora«, sage ich gemessen (ich habe meine Antwort gut vorbereitet), »ich denke an die Männer auf See.«
»Du bist hier nicht in Grottammare.«
»In Grottammare hatten wir keine Kerzen. Im Winter leuchtete uns das Kaminfeuer; und wollten wir etwas genauer sehen, warfen wir eine Handvoll Reisig auf die Glut.«
|159|»Mach die Kerzen aus, Caterina. Du glaubst doch nicht, daß sie bei diesen Blitzen zu sehen sind?«
»Verzeihung, Signora, Ihr habt gelesen und es nicht gemerkt: das Gewitter hat sich verzogen, und es blitzt nicht mehr.«
»Ach, Caterina«, sagt sie, »das ist doch egal! Du gehst mir auf die Nerven mit deinem Palaver. Tu, was ich dir sage, und Schluß!«
Ich sehe sie an.
»Verzeiht mir die Frage, Signora: war ich Euch in den sechs Jahren, die ich in Euern Diensten stehe, nicht immer eine sehr ergebene und sehr anhängliche Kammerzofe?«
»Ja, gewiß. Doch das ist kein Grund, jetzt deinen Launen nachzugeben.«
»Nein, Signora, das ist keine Laune«, widerspreche ich heftig. »Das ist eine Frage von Leben und Tod!«
Mein Tonfall überrascht sie; sie sieht mich zögernd an. Doch ihre Gewohnheit, mich herumzukommandieren, obsiegt; sie sagt trocken:
»Los, Caterina, sei nicht so eigensinnig! Gehorche! Lösch die Kerzen aus und schließ die Läden!«
Ich bin verzweifelt und weiß nicht, was ich in meiner panischen Angst noch sagen oder tun kann. Unsere Blicke kreuzen sich. Sie spürt mein Entsetzen, und mein heftiges Widerstreben macht sie nachdenklich. Sie sagt ruhiger:
»Ich verstehe dich nicht, Caterina. Normalerweise bist du nicht so aufsässig.«
»Vergebung, Signora! Stellt Euch vor, Euer Bruder Marcello wäre bei solchem Unwetter auf See: würdet Ihr nicht wollen, daß ihm die Lichter aus der Ferne den Weg zu Euch weisen?«
Sie wird stutzig – so stutzig, daß ich an ihrer Stelle ein paar kleine Fragen stellen würde. Das wird sie auch tun, denke ich. Aber nein, sie tut es nicht. Sie besinnt sich anders, zuckt die Achseln und sagt mit gespielter Gleichgültigkeit:
»Mach, was du willst. Dieses Gerede ermüdet mich. Aber merk dir, Caterina: es ist das letzte Mal, daß ich deine Launenhaftigkeit durchgehen lasse.«
»Ja, Signora. Vielen Dank, Signora. Verzeiht mir, Signora.«
Ich bin ganz Versöhnung, Dankbarkeit und Demut und überlasse ihr gern den Siegerlorbeer: Hauptsache, sie hat nachgegeben. Obwohl sie sich wieder in ihre Lektüre vertieft, bin ich |160|sicher, daß sie nicht eine Zeile liest, weil sie die Fragen, die sie mir nicht stellen wollte, nun in ihrem Kopf wälzt.
Sie hat wenigstens ein Buch, das ihr Haltung gibt. Ich dagegen sitze untätig auf meinem Stuhl, bewege die Hände im Schoß und muß meinen Drang, aufzustehen und herumzugehen, unterdrücken. Denn ich bin nur die Zofe, nicht die Herrin. Wenn die Signora ihre Nervosität nicht mehr beherrschen kann, läuft sie hin und her, und keiner wagt, etwas dagegen zu sagen. Wenn ich es ihr aber nachmachen will, heißt es gleich, ich sei zu unruhig und ginge ihr auf die Nerven.
Minuten verstreichen, vielleicht sogar Stunden, wer weiß. Nur die Signora hat eine Uhr, und ich darf sie natürlich nicht nach der Zeit fragen. Auf jeden Fall muß es sehr spät sein. Die Kerzen an den Fenstern brennen langsam nieder, ihre hohen Flammen flackern im Windzug. Die Lichter sind schon zu einem guten Drittel aufgebraucht, ihre Dochte rauchen; endlich finde ich Beschäftigung: ich stehe auf, um sie zu putzen. Dann fache ich die beiden Feuer wieder an und lege frisches Reisig auf. Damit verrate ich mich: selbst im Winter wird zur Schlafenszeit die Glut mit Asche bedeckt und kein Holz mehr nachgelegt. Die Signora sieht meinem Tun zu, stellt aber keine Fragen.
Ich setze mich wieder, und während die Zeit verrinnt, werde ich halb verrückt vor Angst. Ja, ich bin nie auf einem Schiff gewesen, aber als Fischerstochter habe ich genug Geschichten über Unwetter und Schiffbrüchige gehört.
Die Signora dreht sich zu mir um:
»Warum gehst du nicht zu Bett, Caterina?«
Die gleiche Frage könnte ich ihr stellen: noch nie ist sie so lange aufgeblieben.
»Ich bin nicht müde, Signora.«
Unsere Blicke treffen sich, sie sieht weg, und wir schweigen beide. In dieser Welt dürfen nur die Männer die Wahrheit sagen. Den Frauen wird von klein auf Verstellung beigebracht. Und so sitzen wir scheinheilig nebeneinander und wissen, weshalb wir zittern. Denn auch sie ist sehr beunruhigt, das sehe ich wohl. Nur beherrscht sie ihren Körper besser als ich. Doch sie sieht angespannt und ängstlich aus. Das Buch auf ihren Knien ist überflüssig geworden: sie tut nicht einmal mehr so, als lese sie.
Plötzlich lautes Klopfen und Rufen an der Tür:
»Macht auf! Macht auf! Ich bin’s, Marcello!«
|161|Ich eile zu öffnen; Marcello wankt herein, tropfnaß, das Wams zerrissen, eine Wange blutüberströmt.
»Helft mir den Fürsten tragen«, kommt es stoßweise aus ihm heraus, »er ist gestürzt.«
»Ist er tot?« schreit Vittoria.
»Nein, nein«, sagt Marcello.
Die Signora nimmt sich nicht die Zeit, einen Mantel überzuwerfen, sondern rennt wie von Sinnen hinaus, wo ihr Sturm und Regen sofort heftig um die Ohren klatschen. Marcello läuft mir voraus, und zu dritt schaffen wir es mit Mühe, den großen schweren Körper ins Haus zu tragen und vorm Feuer niederzulegen. Mit großer Erleichterung schließe ich hinter uns die Tür. Vittoria kniet bereits auf dem Teppich und hat Orsinis Kopf angehoben und an ihre Brust gelehnt.
»Er ist nur ohnmächtig«, sagt Marcello. »Als er vor mir die Stufen hinaufstürmte, ist er gestürzt und auf sein krankes Bein gefallen. Der Schmerz hat ihn besinnungslos gemacht.«
Wir sind pudelnaß, und ich sehe mit Schrecken die verfilzten und vom Regen verklebten blonden Locken der Signora.
»Wir müssen ihn ausziehen«, bestimmt Marcello, »er erkältet sich sonst.«
»Ihr seid verwundet, Signore«, sage ich zu Marcello, »Ihr blutet an der Wange.«
»Das ist nichts weiter. Eine Welle hat mich mit dem Kopf gegen einen Felsen geschleudert.«
»Eine Welle?« frage ich. »Ihr seid also nicht mit einem Boot gekommen?«
Trotz seiner blutüberströmten Wange findet er noch die Kraft zu lachen:
»Es ist zerschellt, als wir in die Felsbucht einliefen.«
»Hilf mir doch, Caterina!« sagt die Signora ungeduldig. »Du schwatzt zuviel.«
Ich helfe ihr beim Entkleiden des Fürsten, was bei seinem Körpergewicht nicht einfach ist. Als wir es endlich geschafft haben, frottieren wir ihn ab. Er ist ein sehr schöner Mann. Wie eine Statue: muskulös und wohlgestalt. Seine Wunde am Schenkel blutet, doch langsam kehrt die Farbe in sein Gesicht zurück, und er bewegt die Augenlider.
»Mach Wein heiß, Caterina, und gib ihm den«, befiehlt die Signora.
|162|Sie steht auf, zieht den roten Seidenvorhang zu und begibt sich auf die andere Seite. Ich gieße Wein in einen Zinnbecher, tue ein Stück Kandiszucker dazu und stelle ihn auf die Steine über der Glut.
»Lösch die Kerzen aus, Caterina«, verlangt Marcello. »Das hat der Fürst dem Kapitän der Galeere versprochen zum Zeichen, daß wir gesund und munter gelandet sind.«
»Ich denke, sie ist zerschellt.«
Er lacht.
»Nicht die Galeere ist zerschellt, du Dummchen, sondern das Boot zum Landen.«
»Laßt mich das Blut von Eurer Wange abwischen, Signore.«
»Das trocknet von allein. Hilf lieber Vittoria beim Ausziehen und reib sie ab. Ich geb dem Fürsten zu trinken.«
Ich gehe auf die andere Seite des Vorhangs, aber die Signora ist schon im Evaskostüm und trocknet sich allein ab. Ich drehe ihr Haar zusammen, wickele es in ein Handtuch und halte es nach hinten weg, damit sie sich auch den Rücken reiben kann.
»Wie geht es ihm?«
»Besser, Signora. Er hat die Augen auf, und der Wein wird ihn wieder völlig beleben.«
»Gott sei gelobt«, flüstert sie.
Ich an ihrer Stelle hätte Gott nicht gelobt, nicht einmal leise.
»Signora, um Euer Haar richtig zu trocknen, müßtet Ihr Euch ans Feuer setzen und dort eine Weile ausharren.«
»Eine Weile ausharren? Wo er sein Leben riskiert hat, um zu mir zu gelangen?«
In Windeseile zieht sie ein Hauskleid über, das sie selbst aus der Truhe zerrt, während ich ihr Haar hochhalte. Als sie fertig ist, lege ich ihr ein zweites Handtuch über den Rücken und lasse das Haar herab, dessen Feuchtigkeit bald durch Tuch und Kleid dringen wird. Doch was kann ich dafür?
Ich erkenne die Signora nicht wieder. Wer hat gesagt, ihre blauen Augen blickten kalt? Im Halbschatten des Zimmers, das nur vom roten Widerschein des Feuers erhellt wird, sprühen Flammen aus ihren Augen. Als sie auf die andere Seite geht – dorthin, wo die Sünde auf sie lauert –, scheint es, als schwebe sie auf Wolken.
Ich fröstele und merke, daß auch ich bis auf die Knochen naß bin. Bevor ich mich ausziehe, lege ich Scheit auf Scheit |163|und entfache ein Höllenfeuer. Die Hölle droht uns allen vier, wenn man Pfarrer Racasi glauben darf, doch ich glaub ihm nur zur Hälfte. Es ist schon schlimm genug, eines Tages sterben zu müssen. Wenn dazu noch das ewige Fegefeuer käme, Madonna Santa, wo bliebe da die Güte Gottes?
Hölle oder nicht … obwohl Marcello in meiner Nähe ist, quälen mich plötzlich finstere Gedanken, während ich meinen Körper aus Mieder und Unterrock schäle. Mehr noch als Gott fürchte ich die Männer. Von dem Augenblick an, da die Signora zur Ehebrecherin wird, ist Signor Peretti verpflichtet, sie zu töten. Und mich, ihre Komplizin, auch. Mehr noch: wenn ich in meiner Beichte Pfarrer Racasi nicht sage, daß sie schuldig ist, würde ich falsch beichten und wäre verdammt. Dem nichtadligen Marcello droht wegen Verkupplung seiner Schwester ebenfalls der Tod. Nur der Fürst wird davonkommen, weil er Fürst ist. Dio mio! Ist das gerecht?
Sowie ich nackt bin, schlägt meine Stimmung völlig um. Ich drehe und wende mich vor den wärmenden Flammen und spüre, wie mich die Hitze gleichzeitig mit einem intensiven Gefühl der Freude durchdringt. Warum kann ich nicht glücklich und zufrieden leben, ohne mir Fragen zu stellen? Wie ein hübsches Hündchen, vor dem Feuer ausgestreckt, die Schnauze zwischen den Pfoten?
Eine Hand hebt den roten Seidenvorhang: Marcello wechselt auf meine Seite. Ich unterdrücke den Drang, ihm entgegenzueilen. Auf den ersten Blick habe ich gesehen: dies ist nicht der Moment, mich in seine Arme zu werfen. Für einen Mann, der mit knapper Not dem Tod entronnen ist, wirkt er nicht mitgenommen, nicht einmal müde. Sein Gesicht zeigt keinen Ausdruck. Doch ich kenne ihn. Wenn ich mich ihm jetzt nähere, stößt er mich zurück. Ich weiß, was ich zu tun habe: mich möglichst klein am Feuer zusammenrollen und schweigen. Ich sehe ihn nicht einmal an.
Marcello zieht sich wortlos aus und wirkt wie abwesend, er breitet Wams und Beinkleider auf zwei Schemeln zum Trocknen aus. Dann wärmt er sich – wie ich soeben – von allen Seiten am Feuer, was ihn anscheinend nicht so wohlig stimmt wie mich. Ich blicke verstohlen zu ihm hin, aber nur kurz. Denn er ist sensibel wie eine Frau und errät alles. Ich spüre seine bärbeißige Laune und befürchte schon, er läßt mich die ganze |164|Nacht so vor dem Kamin kauern, ohne mich anzurühren. Dabei hat er das alles angezettelt! Von Anfang an! Ohne ihn hätten die Ereignisse dieser Nacht nicht stattgefunden. Nun steht er da, stocksteif, stumm und verkrampft. Was sind diese Leute doch kompliziert! Er und die Signora geben ein hübsches Paar! Dabei kann ich die Signora, die eine Frau ist, noch verstehen. Aber er …
Plötzlich kommt Marcello auf mich zu. Wortlos packt er mich mit einer Hand am Haar, mit der anderen hält er mir den Mund zu (wie auch beim ersten Mal), zwingt mich aufzustehen, stößt mich aufs Bett, legt sich auf mich und nimmt mich brutal. Schwer liegt er mit seinem ganzen Gewicht auf mir, sieht mich wild an und zischt mir ins Ohr: »Hör gut zu! Wenn du zum Schluß schreist, wie sonst immer, erwürge ich dich!« Mit beiden Händen preßt er meine Oberarme so fest, daß ich trotz seines Verbots am liebsten aufstöhnen würde. Ich sehe sein konvulsivisch zuckendes Gesicht über mir, er küßt mich nicht, und während er meinen Bauch bearbeitet, keucht er: »Du bist nur eine kleine miese Hure. Ich hasse dich!« Doch er kann sagen und tun, was er will, mich töten, zermalmen, beschimpfen: alles macht mich trunken vor Lust.
Als er fertig ist, löst er sich von mir und rollt sich auf die Seite. Plötzliche Müdigkeit übermannt ihn. Er schließt die Augen. Er schläft wie ein Kind. Ich stütze mich auf den Ellenbogen, um ihn zu betrachten. Der Widerschein des Feuers rötet seinen Körper. Er sieht herrlich aus. Im Schlaf gehört er mir allein. Dieser Dummkopf! Er hat seinen schnellen Männersieg gehabt, aber mein Vergnügen dauert noch an. Es klingt in mir nach. Um nichts auf der Welt würde ich mit dir tauschen, Marcello. Das sagt dir deine kleine miese Hure.
Lautloses Lachen schüttelt mich. So weit bin ich jetzt: ich genieße, ohne zu stöhnen; ich lache, ohne einen Ton von mir zu geben. So wollen uns die Männer haben! Und sogar die Signora gehorcht, dem Schweigen auf der anderen Seite nach zu urteilen. Das muß mein letzter Gedanke vorm Einschlafen gewesen sein, denn beim Erwachen am Morgen kehrt er mir deutlich ins Bewußtsein zurück.