|264|KAPITEL IX

Monsignore Rossellino (il bello muto):

 

Obwohl Seine Eminenz Kardinal Montalto spät zu Bett geht und manchmal nachts noch lange liest, steht er unwandelbar jeden Morgen um halb sechs auf, weil er meint, ein späteres Erwachen verleite einen Mönch zu Faulheit und Sinnenlust. Dies war einer der Gründe, weswegen die Franziskaner in Venedig, deren bequemes Leben er – als ihr Bischof – reformieren wollte, ihn zu hassen begannen und so lange gegen ihn intrigierten, bis ihn der Senat aus der Repubblica Serenissima vertrieb.

Seine Eminenz erlaubt mir jedoch, eine Viertelstunde später als er selbst aufzustehen, da er – trotz der Handreichungen seines Kammerdieners – wegen seiner Gebrechen mehr Zeit zum Anziehen braucht. Gleichwohl erwartet er mich Schlag sechs Uhr in dem kleinen Speisezimmer des Palazzo, wo es sehr gemütlich sein könnte, wenn der Kardinal nur zustimmte, daß im Winter Feuer gemacht würde. Aber wie in allen anderen Fragen ist er auch in diesem Punkt unnachgiebig. »Man könnte versucht sein, die Mahlzeit in die Länge zu ziehen, wenn einem nicht so kalt wäre.« Dagegen brennt in dem Arbeitszimmer, das wir teilen, ein wenn auch kleines Feuer, schon damit seine vom Rheumatismus gekrümmten Finger die Feder halten können. Es ist nicht Geiz, sondern Strenge. Seine Eminenz besitzt herrliche Wälder, so daß wir über einen wohlgefüllten Holzschuppen verfügen und wohl zehn Jahre, ohne zu knausern, heizen könnten. Unsere Mahlzeit bei Tagesanbruch ist frugal. Denke ich an das Frühstück bei meinen Aufenthalten im Hause der Contessa zurück, so kann ich mich nachträglich nur meiner Eßlust schämen und mich glücklich schätzen, keine Gelegenheit mehr zu haben, neuerlich dieser Sünde zu erliegen, die bei einem Mann unausweichlich andere, wesentlich schwerere auf den Plan ruft.

Sobald wir beide Punkt sechs Uhr das Speisezimmer betreten, bringt Schwester Maria-Teresa, alt und unwahrscheinlich |265|runzlig, jedem von uns eine Schale heiße Milch und einige Scheiben Roggenbrot. Das ist alles. Sonntags fügt sie allerdings noch zwei kleine Schafkäse hinzu, jedoch nicht in der Fastenzeit, die wir sehr streng einzuhalten pflegen.

Während des Frühstücks macht Seine Eminenz den Mund nur auf, um das Brot zu kauen, das er mit Rücksicht auf seine schlechten Zähne vorher in Milch taucht. Im Vatikan mokiert man sich über diese spartanische Mahlzeit: »Montalto ißt nicht. Er füllt sich den Bauch wie der Ochs vorm Pflügen.«

Diese Äußerung verrät zwar wenig Nächstenliebe, ist aber zutreffend. Als ich Seine Eminenz eines Tages fragte, warum er abends nur eine Kleinigkeit zu sich nehme, wurde mir zur Antwort: »Was brauche ich so viel zu essen? Nachts arbeite ich doch nicht.«

Vor dem Aufstehen spricht der Kardinal ein kurzes Gebet, und nach dem Frühstück verrichtet er eine zweite, ebenfalls kurze Andacht in seiner Hauskapelle. Ich hörte ihn einmal zu einem jungen Priester, der endlos seine Paternoster und Ave-Maria wiederholte, sagen: »Ihr müßt nicht hundertmal das gleiche wiederholen. Gott ist nicht schwer von Begriff!«

Er betet im Stehen, da er wegen seiner Krücken nicht niederknien kann. Anschließend begibt er sich in sein Amtszimmer. Mit meiner und des Kammerdieners Hilfe nimmt er Platz oder läßt sich vielmehr in den Sessel fallen. Dabei verändert er sich völlig: lebhaft, voller Energie und Freude beginnt er sein Tagewerk.

Ich bewundere, mit welchem Schwung er an seine tägliche Arbeit geht, und ich habe ihn nur einmal die Fassung verlieren sehen: an dem Tag, da Filippo ihm die Nachricht von der Ermordung Francesco Perettis überbrachte.

Mit einem Schlag malte sich in den sonst so entschlossenen Zügen des Kardinals herzzerreißende Verzweiflung. Er sank in sich zusammen, so von Schmerz überwältigt und regelrecht benommen, daß ich den Kopf abwandte, halb verlegen, halb betroffen, denn ich schämte mich, bei diesem Menschen, dessen Seelenstärke ich verehrte, einen Augenblick der Schwäche mitzuerleben. Dieser peinvolle Moment kam mir unendlich lang vor, aber später wurde mir klar, daß es nicht mehr als fünf Minuten gewesen waren. Danach wandte sich der Kardinal zu Filippo um und sagte mit erloschener Stimme: »Sag deiner Herrin, |266|daß ich sie im Laufe des Vormittags besuchen werde.« Und zu mir: »Laßt meine Kutsche vorbereiten und holt mich in einer Stunde ab.« Nach diesen Worten entließ er mich mit einer knappen herrischen Geste und vergrub sein furchteinflößendes Haupt in den Händen.

Als ich ihm nach Ablauf der Stunde meldete, die Kutsche stehe bereit, fand ich ihn so, wie ich ihn bisher immer gekannt hatte: gebieterischer Blick, kräftige Stimme und undurchdringliches Gesicht. Diese Gefaßtheit wich auch dann nicht von ihm, als er im Palazzo Rusticucci den blutüberströmten Leichnam seines Adoptivsohnes erblickte und an dessen Totenbett betete, stehend und auf seine Krücken gestützt. Sein Gebet war kurz, und als er den Saal, ohne sich umzudrehen, verlassen hatte, versammelte er die gesamte Familie und den Majordomus in einem anderen Zimmer. Er wandte sich zunächst an den Majordomus und befahl, unverzüglich die Dienerschaft zur Ruhe zu bringen, von der man nur Weinen, Schreien und Wehklagen hörte. »Jeder gehe seiner gewöhnlichen Beschäftigung nach, und zwar schweigend«, sagte er.

Allein mit der Familie, verlangte er sodann einen Überblick über die Vermögensverhältnisse im Palazzo Rusticucci. Es stellte sich heraus, daß allein Giulietta Accoramboni auf diese Frage Auskunft geben konnte; von Francesco Peretti sehr geschätzt, war sie eine Art Verwalterin für ihn gewesen. Sie legte dem Kardinal die Papiere, auf denen sie Ausgaben und Einnahmen vermerkt hatte, zur Prüfung vor. Die Familie war trotz ihrer Trauer über das Ergebnis bestürzt: nach dem Wegfall der vom Vatikan an seinen Dritten Kammerherrn gezahlten Bezüge würde der Palazzo mit dem vorhandenen Geld kaum noch drei Monate existieren können.

Daraufhin nahm Tarquinia das Wort und verkündete, von nun an werde sie selbst die Finanzen des Hauses in die Hand nehmen, woraufhin Vittoria wütend und verächtlich ausrief: »Ihr!« Dieses eine Wort sprach Bände. Tarquinia öffnete schon den Mund zu einer Entgegnung, als ihr der Kardinal einen vernichtenden Blick zuwarf und in einem Ton, der keine Widerrede duldete, sagte:

»Francesco hat mit Giulietta eine ausgezeichnete Wahl getroffen, an die auch ich mich halten werde.«

Damit entließ er die Familie bis auf Giulietta, mit der er beriet, |267|was zur Verringerung der Ausgaben getan werden könnte: als erstes mußte offensichtlich die Hälfte der Dienstboten entlassen werden. Der Majordomus wurde gerufen, damit eine Liste der zu Entlassenden aufgestellt würde. Giulietta hatte schon die Feder in der Hand und wollte eben den Namen von Caterina Acquaviva auf die Liste setzen, als der Kardinal sie streng fragte: »Wollt Ihr Vittoria ärgern?« Woraufhin Giulietta sogleich klein beigab.

Im Verlauf des Gesprächs äußerte sie die Hoffnung, der Papst in seiner Güte möge der Witwe seines Dritten Kammerherrn eine kleine Pension aussetzen.

»Zählt nicht darauf«, sagte der Kardinal. »Die Tränen des Papstes werden reichlich fließen, aber Geld nicht.«

Er verbrachte noch eine gute Stunde mit Giulietta, um sich einen Überblick über Francescos Besitz zu verschaffen und festzulegen, was davon zum Unterhalt der Familie herangezogen werden könnte. Er empfahl, zwei Höfe zu verkaufen, die fast nichts einbrachten, und das Geld bei den Medicis in Florenz anzulegen. Giulietta gab zu bedenken, daß die Medicis auf Wucherzinsen liehen und daß die Kirche dies verbiete, aber der Kardinal hob seine mächtigen Schultern und sagte: »Wollt Ihr päpstlicher sein als der Papst?« Er spielte darauf an, daß Gregor XIII. den Medicis beträchtliche Summen zu nutzbringender Anlage übergeben hatte.

Als Giulietta ihm schließlich eingestand, sie wisse nicht, wie sie die Beisetzung bezahlen solle, sagte der als geizig verschriene Mann: »Es kann keine Rede davon sein, daß Ihr irgend etwas bezahlt. Das übernehme ich.« Und er zog eine Börse aus der Soutane und überreichte sie ihr mit den Worten: »Regelt alles aufs beste, aber ohne übertriebenes Gepränge.«

Dann schwieg er lange, während Giulietta, völlig im Banne seiner Autorität, stumm und bewegungslos verharrte.

»Giulietta«, sagte er endlich, »Ihr seid die einzige in dieser Familie, die ein wenig gesunden Menschenverstand besitzt. Was meint Ihr: in welcher seelischen Verfassung befindet sich Vittoria heute?«

»Sie ist von Schmerz überwältigt.«

»Von Gewissensbissen auch?« fragte der Kardinal und sah sie durchdringend an.

»Nein. Dazu hat sie keinen Grund, wie ich meine.«

|268|Für einen Moment, der Giulietta unendlich lang vorgekommen sein muß, sah Seine Eminenz sie fest an, als wolle er ihre Seele ergründen. Doch die Signorina hielt seinem Blick stand. Zwei Tage später kam der Kardinal mir gegenüber darauf zu sprechen: »Es gibt drei Möglichkeiten: Vittoria ist nicht des Ehebruchs schuldig, und Giulietta sagt die Wahrheit. Oder Vittoria ist schuldig, und Giulietta weiß von nichts. Oder Vittoria ist schuldig, Giulietta weiß es und lügt, um sie zu decken.« Ich sah ihn fragend an, und er seufzte: »Nichts ist so unergründlich wie die Frauen! Von der Wiege an werden sie zur Heuchelei erzogen.« Durch Zeichen befragte ich ihn, ob er Vittoria für mitschuldig an dem Mord halte. »Nein!« entgegnete er mit Entschiedenheit. »Tausendmal nein! Das glaube ich niemals.«

Wieder im Hause des Kardinals, erkundigte ich mich, ob er an der Sitzung des Konsistoriums teilnehmen werde. »Unbedingt. Ich muß. Das ist eine Prüfung, und es wäre feige, sich ihr zu entziehen«, antwortete er.

Es war Brauch, daß die siebzig Kardinäle des Konsistoriums vor Sitzungsbeginn nacheinander vor dem Papst zur Huldigung niederknieten. Dieses Zeremoniell dauerte sehr lange, denn der Heilige Vater richtete an jeden einzelnen Kardinal ein paar Worte. Da sie genauso liebenswürdig-belanglos waren wie die unumgänglichen Erwiderungen, setzten die anderen Würdenträger derweil ihre Privatgespräche fort. Trotz der respektvoll gedämpften Stimmen entstand allein wegen der großen Zahl der Anwesenden ein beträchtliches Gemurmel, das erst abbrach, wenn der Erste Kammerherr die Sitzung für eröffnet erklärte.

An jenem Tag verstummte das Geräusch, das stark an das Summen eines Bienenschwarms erinnerte, lange vor der Ankündigung des Kammerherrn, und es trat schlagartig tiefes Schweigen ein, als Seine Eminenz Kardinal Montalto an der Reihe war, den Heiligen Vater zu begrüßen.

Das Konsistorium tritt in einem rechteckigen Raum zusammen, an dessen einer Schmalseite sich der Papstthron befindet, während das Chorgestühl für die Prälaten an den beiden Längsseiten einander gegenüber angeordnet ist. Als Seine Eminenz sich mühsam auf seinen Krücken durch den Mittelgang schleppte, schauten alle Kardinäle gebannt auf ihn, folgten seinem langsamen Weg zum Thron und warteten gespannt, was Papst und Kardinal einander zu sagen haben würden.

|269|Jeder im Saal – vermutlich sogar jeder in Rom – wußte zu dieser Stunde von der Ermordung Francesco Perettis, und alle waren sich im klaren darüber, wie schwerwiegend diese Tat von den beiden Männern empfunden werden mußte: der Kardinal war zutiefst in seinen Gefühlen, der Heilige Vater in seiner Autorität getroffen. Denn obwohl es für das Verbrechen mit Sicherheit ein privates Motiv gab, war die Ermordung des Dritten Kammerherrn des Papstes unzweifelhaft auch eine Herausforderung und eine Beleidigung für Seine Heiligkeit.

Wegen seiner Behinderung war Seine Eminenz der Pflicht enthoben, vor dem Heiligen Vater niederzuknien, und es stand ein Schemel für ihn bereit. Dennoch mußten der Erste und der Zweite Kammerherr ihm beim Hinsetzen behilflich sein: ein Vorgang, der der nachfolgenden Unterhaltung einen gleichsam dramatischen Anstrich verlieh.

In Rom und in ganz Italien gab es gewiß keinen besser aussehenden, lebhafteren und gesünderen Greis als den Papst. Schneeweißes Haar umrahmte seine edlen, regelmäßigen Züge. Sein frischer Teint, seine blauen Augen verliehen ihm ein jugendliches Aussehen, obwohl er die Achtzig überschritten hatte. Seine Miene drückte Vornehmheit und Milde aus. Hätte ich nicht um die hinter dieser eindrucksvollen Fassade verborgenen Fehler und Schwächen gewußt, wäre ich der Wirkung seines hoheitsvollen Gesichts, seiner wohlklingenden Stimme und seiner liebenswürdigen Umgangsformen erlegen. Welch traurige Figur machte dagegen mein armer Herr, der mit eingezogenem Kopf auf seinem Schemel hockte: struppiger Bart, zotteliges Haar, krumme Nase, fliehendes Kinn, buschige Brauen! Man hätte ihn mit dem Philosophen Sokrates vergleichen können, der auf den ersten Blick ob seiner Häßlichkeit und Grobheit schockierte, so daß seine Tugend, Weisheit und Seelenstärke, die ihn bis zum Tod auszeichneten, dem gemeinen Volk verborgen blieben.

Bevor der Papst zu sprechen begann, verharrte er – ein meisterhafter Schauspieler – einen Moment in Schweigen, um den folgenden Worten mehr Gewicht zu verleihen, und als er endlich anhub, war seine mit lauter, doch musikalischer Stimme vorgetragene Rede deutlich mehr für die versammelten Kardinäle bestimmt als für den eigentlichen Adressaten.

»Mein teuerster Sohn«, sagte er (doch hätte er ihn an diesem Ort anders anreden können, auch wenn er ihn so wenig |270|schätzte?), »Wir sind zutiefst betroffen von der Kunde über die heimtückische Ermordung Unseres vielgeliebten Sohnes und Kammerherrn Francesco Peretti, und es ist Uns Bedürfnis, Euch zu sagen, daß Entrüstung und Trauer Unsere Seele erschütterten, als Wir die entsetzliche Nachricht vernahmen …«

Ohne daß die Stimme des Papstes an Wohlklang oder seine Diktion an Klarheit verlor, füllten sich seine Augen mit Tränen, die ihm nun bis zum Schluß seiner Rede über die rosigen Wangen rannen. Er fuhr fort:

»Wir können in diesem feigen Attentat, durch das Uns der beste Unserer Söhne geraubt wurde, nur das Werk des Teufels sehen. Aber wissen Wir nicht auch, daß der Böse bei diesem Verbrechen, das nach Rache zum Himmel schreit, einem Menschen die Hand geführt hat? Möge der Himmel Unsere Gebete und Unser Flehen erhören und Uns helfen bei der Suche nach den Mördern und dem Mann, der ihm die Waffe in die Hand gab, auf daß sie auf Erden noch für ihre Missetaten büßen, ehe sie vor den höchsten Richter treten.«

Gute zehn Minuten fuhr der Papst in diesem entrüsteten und rachsüchtigen Ton fort, und obwohl die ganze Zeit seine Tränen weiter flossen, sprach er mit einer Energie und Kraft, deren er in der Ausübung seiner Herrschaft bisher so sehr ermangelt hatte.

Die Tränen des Heiligen Vaters versiegten gleichzeitig mit seiner Beredsamkeit. Mit einer herablassend-höflichen Geste seiner Rechten forderte er den Kardinal zum Sprechen auf. Das Schweigen wurde noch tiefer, die Aufmerksamkeit der Kardinäle, die sich keines der Worte meines Herrn entgehen lassen wollten, noch größer. Der Heilige Vater betrachtete Montalto voller Neugier, die mir nicht frei von einer gewissen Boshaftigkeit zu sein schien. Möge mir Gott der Herr vergeben, wenn ich mich darin täusche!

Seine Eminenz sprach mit schwacher, von Husten unterbrochener Stimme, die keinerlei Erregung verriet. Und im Gegensatz zu der beflügelten Eloquenz des Papstes fiel seine Erwiderung knapp aus:

»Allerheiligster Vater, ich danke Euch für das Interesse, daß Ihr an meiner Familie zu nehmen geruht. Für mich, der ich schon mit einem Bein im Grabe stehe, ist dieser Schmerz eine weitere Prüfung, die mir Gott der Herr auferlegt, bevor er mich zu sich ruft. Deswegen trachte ich mitnichten danach, die Mörder |271|zu suchen und zu bestrafen, sondern vergebe ihnen von ganzem Herzen das Leid, das sie mir angetan haben.«

Nach diesen Worten machte der Heilige Vater erneut ein Zeichen, und die beiden Kammerherren halfen Seiner Eminenz, sich zu erheben und die Krücken wieder unter die Arme zu klemmen. Der Papst erteilte ihm stumm seinen Segen, und der Kardinal schleppte sich zu seinem Platz. Das Konsistorium, so fühlte ich, war über seine Worte mehr verwundert als erbaut. Denn obgleich die Vergebung der Sünden von den Christen als höchste Tugend angesehen wird, praktiziert man sie – auch im Vatikan – nur selten.

Was der Papst dachte, erfuhr ich noch vor Beendigung des Konsistoriums, als ich unbeabsichtigt zwei Prälaten im Gespräch überraschte. Ich muß dazu sagen, daß die Kardinäle in meiner Gegenwart ungeniert über meinen Herrn sprachen. Weil ich stumm bin, halten sie mich offenbar auch für taub. Doch wie soll ich sie über ihren Irrtum aufklären? Sie würden meine Zeichensprache nicht verstehen.

Sowie mein Herr unter großen Mühen wieder seinen Platz erreicht hatte, beugte sich der Papst zu einem seiner Vertrauten und bemerkte: »Veramente costui è un gran frate.«1

Dieses Wort ging von Mund zu Mund und kam nach einer knappen halben Stunde auch mir zu Ohren. Vielleicht muß ich an dieser Stelle erwähnen, daß mein Herr Franziskaner gewesen ist und daß Papst Gregor XIII. mit dem geringen Volk ein merkwürdiges Vorurteil teilte: er hielt diese Mönche für scheinheilig. Mit anderen Worten, die »Vergebung der Sünden« war nur Täuschung. Der Kardinal Montalto hatte nichts anderes im Sinn, als Nachfolger des Papstes zu werden, und schonte den Fürsten Orsini, um ihn für den Zeitpunkt der Wahl nicht zum Feind zu haben.

In den Palazzo zurückgekehrt, wiederholte ich Seiner Eminenz, wie es meine Pflicht war, den Ausspruch des Papstes. Er hob seine mächtigen Schultern und sagte mit zusammengebissenen Zähnen: »Und ich wäre einfältig genug gewesen, von diesem Mann da Gerechtigkeit zu verlangen! Ihr werdet sehen, Rossellino – außer weinen und reden tut er nichts!«

»Dieser Mann da«, wie Seine Eminenz den Papst zu nennen |272|sich nicht scheute – seine einzige sprachliche Entgleisung in bezug auf Seine Heiligkeit –, ließ nach einer Woche meinem Herrn den Untersuchungsbericht des Bargello zukommen. Seine Eminenz las ihn mehrmals sehr aufmerksam durch; sein Gesicht zeigte keine Reaktion, und er gab auch keinen Kommentar ab. Aber als nach einer weiteren Woche Vittoria festgenommen wurde, war es mit seiner Gelassenheit vorbei. Er verriet lebhaftesten Unwillen und rief: »Welch eine Rechtsverweigerung! Und welch ein Fehler!«

Wenig später – ich spürte, daß ihn diese Angelegenheit immer noch beschäftigte – erlaubte ich mir die Frage, warum er die Verhaftung Vittorias für einen Fehler halte. »Ein zwiefacher Fehler!« sagte er, »Primo, weil nichts im Bericht des Bargello auf ihre Schuld hinweist. Secundo und vor allem: es ist ein politischer Fehler. Wenn der Papst den Fürsten für schuldig hält, muß er entweder den Mut haben, ihm offen die Stirn zu bieten, oder aber gar nichts unternehmen. Die Verhaftung Vittorias ist einfach lächerlich. Wer nur so tut, als ob er handle, in Wirklichkeit aber nichts unternimmt, enthüllt bloß die Schwäche, die er verbergen will.«

 

 

Lodovico Orsini, Graf von Oppedo:

 

Ich fühlte mich nicht sehr wohl in meiner Haut, als Paolo mich in einer eiligen Botschaft zu sich nach Montegiordano bat. Bereits vor dem Eintreffen des Boten hatte ich einigen Grund zur Sorge. Die Corte hatte die beiden Banditen, die für uns in den Nora-Bergen operierten, so in die Enge getrieben, daß ihnen nichts Besseres einfiel, als in Rom Unterschlupf in meinem Palazzo zu suchen. Das war um so dümmer und gefährlicher, als das Recht der Asylgewährung, das Paolo in Montegiordano ausübt, der jüngeren Linie nie zuerkannt worden ist, sosehr Raimondo und ich uns darum bemüht haben.

Der impulsive Raimondo wollte die beiden Burschen sofort wegjagen.

»Wenn sie von der Corte festgenommen werden und unter der Folter aussagen, ist es um uns geschehen«, meinte er.

»Sieh mal, bruto«, sagte ich (und da er zusammenzuckte, als er seinen Spitznamen hörte, legte ich ihm meinen Arm um die Schultern und küßte ihn auf die Wange), »wie willst du sie loswerden, |273|ohne daß alle Leute, die auf unserem Hof kampieren, es mitkriegen? Und wer würde uns nach einem solchen Verrat noch trauen? Wenn wir selber unser Recht auf Asylgewährung nicht ernst nehmen, wer soll uns dann noch respektieren?«

»Und was tun wir, wenn der Bargello mit seinen Sbirren vor unserem Tor steht?«

»Wir unterhandeln so lange mit ihm, bis wir unsere zwei Banditen im Keller versteckt haben, und erst dann lassen wir die Sbirren herein.«

»Wir lassen sie rein?«

»Ja, wenn es nicht zu viele sind.«

Raimondo zog ein schiefes Gesicht und wollte gerade weiterreden, als Paolos Abgesandter mit der erwähnten Botschaft erschien.

»In einer Stunde werde ich in Montegiordano sein«, sagte ich und warf dem Mann einen Piaster zu.

Eine Geste, die ich alsbald bereute, waren unsere Gelder doch beinahe erschöpft. Warum müssen wir Adligen immer tun, was die Bauerntölpel von uns erwarten? In gewissem Sinne sind sie unsere Herren! Was habe ich mir für Mühe gegeben, dem einfachen Volk zu gefallen. Bei den großen Festen in Rom habe ich vor meinem Tor sogar ein Faß Wein anstechen lassen! Um den Pöbel umsonst zu tränken!

»Das paßt mir gar nicht«, sagte ich mit umdüsterter Miene.

»Warum?« fragte Raimondo. »Paolo ist unser Cousin und Familienoberhaupt. Er läßt uns zwar nicht mehr an seinen Geldbeutel heran, aber er ist uns gewogen.«

»Wenn ich mich heute nach Montegiordano begebe, kann das für mich gefährlich werden.«

»Gefährlich?«

»Ja.«

»Warum?«

»Es würde zu lange dauern, dir das zu erklären.«

»Ich weiß, ich bin ein Idiot.«

»Laß gut sein, carissimo, ärgere dich nicht. Ich habe meine Gründe, dir nichts zu sagen. Und für dich ist es auch besser, wenn du nichts weißt. Trotzdem würde ich mich sicherer fühlen, wenn du mich nach Montegiordano begleiten wolltest.«

»So groß ist die Gefahr?«

Man kann nicht behaupten, Raimondo sei schön, dennoch |274|ist seine grobe Visage nicht ohne Ausdruck, und an der Art, wie er mich ansah, merkte ich, daß er unzufrieden mit meiner Heimlichtuerei und besorgt um meine Sicherheit war.

»Carissimo«, sagte ich und legte ihm die Hand auf die Schulter, »verzeih, daß ich dich so im dunkeln tappen lasse. Jedenfalls habe ich ein bißchen Machiavelli gespielt. Ich werde dir das später erklären.«

»Wer ist das, Machiavelli?«

»Das erkläre ich dir auch später. Willst du mir inzwischen eine starke Eskorte zusammenstellen?«

»Wie stark?«

»Ungefähr dreißig Mann.«

»Ungefähr dreißig Mann?«

»Bitte, Raimondo, hör auf, mein Echo zu spielen. Ich brauche auch einige Nobili. Wer ist heute da?«

»Silla Savelli (den nannte er zuerst, weil das sein Busenfreund ist), Pietro Gaetano, Emilio Capizucchi, Ascanio di Ruggieri und Ottavio di Rustici.«

»Tutta la crema!1 Wieso sind sie heute so zahlreich?«

»Wir haben gestern mit ein paar Mädchen gefeiert, und sie sind über Nacht geblieben, weil sie betrunken waren.«

»Da also geht unser Geld hin!«

»Du bist ja selbst so sparsam!«

»In der Tat! Würdest du ihnen bitte sagen, Raimondo, daß sie sich vorbereiten sollen? Ich will sie alle dabeihaben.«

»Außer deinem Bruder brauchst du fünf der vornehmsten Adelssprößlinge Roms, um Paolo entgegenzutreten?«

»Ja.«

»Was hast du ihm angetan, daß du ihn so fürchtest?«

»Nur Gutes. Aber er sieht das ganz anders.«

»Schon wieder Rätsel über Rätsel«, sagte Raimondo.

Mir schlug das Herz, als ich im Hof von Montegiordano meine Eskorte zurückließ und mit Raimondo, der mir wie ein Schatten folgte, in den ersten Stock stieg, um Paolo in dem von ihm bevorzugten kleinen Saal zu treffen. Paolo stand am Fenster und sah in den Hof hinab.

»Wie ich sehe«, sagte er trocken und wandte sich um, »hast du außer einer starken Eskorte noch die vornehme Welt mitgebracht. |275|Silla Savelli! Pietro Gaetano! Emilio Capizucchi! Ascanio di Ruggieri! Ottavio di Rustici! Aber was hast du dir gedacht, Raimondo? Wir werden doch diese vornehmen jungen Leute nicht im Sattel hängen lassen, bis unsere Unterredung beendet ist! Raimondo, geh bitte zu meinem Majordomus und sage ihm, er solle Wein und ein kleines Mahl für sie vorbereiten und sie im Festsaal bewirten.«

Diesem Befehl – denn es war einer, wenn auch liebenswürdig vorgetragen – kam Raimondo augenblicklich nach, so gern er auch erfahren hätte, was wir besprechen würden. Und ich blieb, sehr gegen meine Absicht, mit Paolo allein.

»Du bist also gekommen!« sagte er. Sein Mund lächelte, aber sein Blick war kalt. »Ich danke dir. Du siehst mich in größter Bedrängnis, Lodovico. Der Papst hat mich beleidigt.«

Ich sah ihn stirnrunzelnd an, und er fuhr fort:

»Der Papst hat Vittoria festgenommen.«

»Wichtig ist, daß er nicht dich festgenommen hat«, erwiderte ich.

»Er hat es nicht getan, weil er genau weiß, daß ich Peretti nicht habe ermorden lassen. Aber durch die Festnahme Vittorias macht er alle Welt glauben, ich sei der Mörder. Dadurch hat er mich beleidigt.«

»Wie willst du die Leute überzeugen, daß du nicht der Mörder bist? Deine Expedition nach Santa Maria hat sich zweifellos herumgesprochen.«

»Ein Gerücht ist kein Beweis. Ich habe mir eine Abschrift des Untersuchungsberichts von Della Pace beschaffen können. Mit diesem Mord, schlußfolgert er, sollten Marcello und ich als die Schuldigen hingestellt werden, doch nach Auffassung von Della Pace sind wir es nicht.«

»Della Pace ist ein schlauer Mann«, sagte ich mit einem schiefen Lächeln. »Du bist nun also von jedem Verdacht reingewaschen.«

»Nur, daß der Papst durch Vittorias Festnahme mich urbi et orbi für schuldig erklärt. Dadurch hat er mich beleidigt.«

»Na gut, und was wirst du tun?«

»Zu den Waffen greifen und ihn stürzen!«

»Paolo! Das wirst du nicht! Den obersten Herrn der Christenheit angreifen! Er wird dich exkommunizieren!«

»Wenn es mir gelingt, ihn von seinem Thron zu verjagen, wird |276|mir sein Nachfolger Absolution erteilen. Übrigens werde ich nicht den Papst angreifen, sondern das Oberhaupt des Staates.«

»Vermutlich hast du mich kommen lassen, um meine Meinung zu hören?«

»Keineswegs. Mein Entschluß steht fest. Ich brauche deine Hilfe. Du hast eine gute Truppe, und das Volk hört auf dich.«

»Meine Hilfe beim Angriff auf den Papst!« rief ich mit gespielter Verblüffung. »Aber sieh mal, Paolo, ich bin ein guter Katholik.«

»Ich auch.«

»Das ist doch ein großes Risiko! Du verlangst von mir, meinen Besitz, mein Haus und mein Leben in einem Kampf mit ungewissem Ausgang einzusetzen.«

»Ist es nicht die Pflicht der Orsinis, zu den Waffen zu greifen, wenn einer von ihnen beleidigt wird?«

»Reden wir offen miteinander, Paolo«, sagte ich mit einem leichten Lächeln. »Nicht weil du beleidigt worden bist, willst du den Papst angreifen, sondern um Vittoria zu befreien. Und genau aus diesem Grund lehne ich es ab, dir zu helfen. Vittoria ist Witwe, und da mir Virginios Belange sehr am Herzen liegen, bin ich dagegen, daß du sie heiratest.«

»Also kommt es dir gelegen, daß sie in der Engelsburg eingekerkert wurde?«

Sein Ton und sein Blick ließen mich erstarren, und ich wußte nichts zu erwidern.

»Willst du etwas trinken, Lodovico?« fragte er.

»Nein, danke. Ich bin nicht durstig.«

»Doch, du hast Durst. Du hast schon zwei- oder dreimal deinen Speichel heruntergeschluckt. Übrigens ist es heiß. Los, schenk dir ein. Und mir auch. Nimm den Becher, den du willst. So kannst du nicht denken, ich wolle dich vergiften …«

Er lachte, und ich ebenfalls, mehr oder weniger gequält. Als ich die Becher gefüllt hatte, ergriff Paolo den, welchen ich ihm hinhielt, und als er sah, daß ich meinen nicht anrührte, leerte er seinen in einem Zuge. Da entschloß ich mich zu trinken, konnte jedoch diesen ausgezeichneten Wein nur mit Widerwillen hinunterbringen.

»Lodovico«, fuhr er in zwanglosem Ton fort und setzte sich, »ich habe merkwürdige Dinge erfahren. Der Papst hat einen dicken Sack voller Piaster vom Vatikan zum Haus des Kardinals |277|di Medici in Rom bringen lassen; von dort wurde das Geld zum römischen Palast des Patriarchen von Venedig, derzeit Wohnsitz von Kardinal Cherubi, geschafft. Nach meinen Informationen enthält der Sack fünfzigtausend Piaster.«

»Eine gewaltige Summe.«

»In der Tat. Ist es nicht seltsam, daß eine so große Summe in Rom von Haus zu Haus unterwegs ist? Wer kann wissen, wem Cherubi sie übergeben wird? Kennst du Cherubi, Lodovico?«

»Ja. Ich habe ihn einmal getroffen. Ich habe bei ihm gespeist.«

»Wirklich?« sagte er lächelnd. »Und worüber habt ihr gesprochen?«

»Über dieses und jenes.«

»Über mich?«

»Auch über dich.«

»Was wollte er wissen?«

»Ob du der Geliebte Vittorias bist.«

»Und was hast du geantwortet?«

»Daß ich darüber nichts wüßte.«

»Nun, eine gute Antwort«, sagte Paolo eisig, »und du bist ein guter Verwandter, Lodovico. Und ich wünsche dir noch einen guten Tag …«

Nach diesen Worten stand er auf und sah mich drohend an. Die Knie wurden mir weich, und ich ging rückwärts hinaus. Ich fürchtete, er würde mir seinen Dolch zwischen die Schulterblätter stoßen, falls ich ihm den Rücken zukehrte.

Im Hof rief ich Alfredo. Er macht für Raimondo und mich den Reitknecht, da wir nicht genug Geld haben, uns jeder einen zu halten. Ich befahl ihm, Raimondo und seine vornehme Gesellschaft zu holen, und er brauchte gute zehn Minuten, um sie zu überzeugen, sich von dem Imbiß und ihren Bechern zu trennen und sich mir anzuschließen. Auf den ersten Blick sah ich, daß Raimondo unvernünftig viel getrunken hatte. Er war rot, sprach laut, sah herausfordernd in die Runde und schlug gegen seinen Degen.

»Was hast du, carissimo fragte er laut. »Wenn jemand meinen großen Bruder beleidigt hat, affé di Dio!, dem stoß ich meinen Degen in die Eingeweide. Lodovico, du bist ja totenbleich!«

»Und du bist ganz rot! Mich hat niemand beleidigt. Los, zu Pferd! Hilf ihm, Alfredo!«

»Ich brauche Alfredo nicht«, sagte Raimondo, ohne zu merken, |278|daß Alfredo ihm den Fuß schon in den Steigbügel steckte und sein Hinterteil durch einen kräftigen Stoß in den Sattel hieven wollte.

Sowie er jedoch im Sattel saß, hielt er sich kerzengerade, und als sein Pferd zwei oder drei Bocksprünge vollführte, bändigte er es sofort und gab ihm zur Strafe einen kleinen Schlag mit der Reitpeitsche auf die Kruppe.

»Holla!« schrie Silla Savelli. »Du schlägst doch nicht etwa dein Pferd, Raimondo?«

»Stuten und Weiber werden mit der Peitsche gezähmt«, erwiderte Raimondo, der in seinem Leben noch nie eine Frau geschlagen hatte, war er doch zum schwachen Geschlecht ebenso sanft und umgänglich wie zu Männern grob.

»Schande über dich, Raimondo!« rief Pietro Gaetano lachend. »Meine Stute wird von mir nur gestreichelt. Es wäre mir schrecklich, ihr weh zu tun.«

»Die Peitsche hat einem Pferd noch nie weh getan«, meinte Ascanio di Ruggieri. »Es hat eine viel zu dicke Haut. Die Peitsche demütigt es nur, nichts weiter.«

Diese Behauptung schien mir anfechtbar, und so ging unsere Unterhaltung unter Rufen und Lachen munter fort, während wir über den Hof ritten, wo uns die Verbannten und Banditen widerwillig Platz machten und scheele Blicke auf diese schönen jungen Männer in ihren prächtigen Wämsern warfen, die ihrerseits die Menge nicht beachteten und aus Leibeskräften herumschrien, so als gehörte Montegiordano ihnen. Als ich mich im Sattel umwandte, sah ich Paolo Giordano: unbeweglich wie eine Statue aus Stein stand er an seinem Fenster im zweiten Stockwerk und schaute uns nach. Sein Blick, der riesige Hof von Montegiordano, all das ihm ergebene Volk machten mich nervös. Ich gab meinem Pferd die Sporen und ritt an der Spitze unseres Trupps aus dem Tor, und erst auf der Straße wurde mir wieder leichter. Paolo hatte alles begriffen und geahnt, und ich war bei allem gut weggekommen. Es war zu schön, um wahr zu sein! Seine Metze in der Engelsburg hinter Schloß und Riegel! Paolo neutralisiert dank meiner Neutralität! Und spätestens heute abend würden fünfzigtausend Piaster als warmer Regen in meine Geldkatze fallen! Ach, wie wenig kennt doch der Mensch seine eigene Zukunft! Ein Wort, eine Geste, und schon bricht alles zusammen!

|279|Wir waren keine fünfzig Klafter mehr von unserem Palazzo entfernt, und ich malte mir bereits die Feste aus, mit denen ich meinen Erfolg zu feiern gedachte, als unser Trupp anhalten mußte. Mindestens zwanzig berittene Sbirren mit Arkebusen, Della Pace an der Spitze, versperrten uns den Weg. Der Bargello grüßte sehr höflich, und da wir in der engen Straße nicht aneinander vorbeikonnten, bot er an umzukehren, um uns passieren zu lassen. Ich war einverstanden, er ließ seine Truppe kehrtmachen, und in diesem Hin und Her erblickte ich plötzlich unsere beiden Nora-Banditen, gefesselt auf einem Pferd, das ein hünenhafter Sbirre am Zügel führte – ein Anblick, daß mir fast die Augen aus dem Kopf fielen.

»Bargello«, schrie ich, »was ist das? Ihr habt in meiner Abwesenheit meine Tür erbrochen und zwei meiner Männer entführt?«

Della Pace zog daraufhin den Hut, kam, dicht von seinen Sbirren gefolgt, auf mich zu und sagte äußerst höflich:

»Herr Graf, es tut mir sehr leid, daß ich die beiden Banditen verhaften mußte, doch es war ein Befehl von Seiner Exzellenz Gouverneur Portici. Eure Tür habe ich nicht gewaltsam geöffnet. Ich habe geläutet. Es wurde mir geöffnet. Meine Sbirren haben dann den Rest erledigt.«

»Dennoch habt Ihr das Asylrecht der Orsinis verletzt‹, brüllte Raimondo, rot wie eine Tomate.

»Vergebung, Signor Orsini«, sagte Della Pace, »das Asylrecht wurde der älteren, nicht der jüngeren Linie der Orsinis zuerkannt.«

»Ältere Linie, jüngere Linie, das schert mich wenig!« schrie Raimondo. »Du bindest sofort unsere Männer los und gibst sie uns zurück, du Hundsfott!«

Der Bargello setzte seinen Hut wieder auf und schlug einen schärferen Ton an:

»Signore, Ihr vergeßt, daß Ihr mit dem Bargello sprecht.«

»Komm, Raimondo«, sagte ich, »misch dich nicht ein, laß mich mit dem Bargello verhandeln.«

»Ich mische mich ein, wann es mir paßt!« brüllte Raimondo, den der Wein zum Ungehorsam gegen mich ermutigte. »Und du, verdammter Bargello, befolgst jetzt meinen Befehl! Binde sofort diese beiden Männer los und übergib sie uns!«

»Ihr beschimpft mich, Signore!« sagte der Bargello. »Das ist |280|Eurer und meiner unwürdig. Habt Ihr vergessen, daß auch ich von Adel bin?«

»Beschissener, mieser, niedriger Adel!« stieß Raimondo hervor.

»Halt den Mund, Raimondo«, sagte ich, »und laß mich reden!«

»Niedriger Adel, gewiß«, erwiderte der Bargello in beißendem Ton, »aber ich habe nie Diener gehabt, die in den Nora-Bergen die Reisenden ausrauben und ermorden!«

»Du Hundsfott wagst, die Ehre der Orsinis anzutasten!« heulte Raimondo auf. »Ich werde dir deine Worte in den Rachen zurückstopfen!«

»Halt, Raimondo! Du gehst zu weit«, sagte Silla Savelli, der von sanfter und versöhnlicher Natur war.

»Laß mich ausreden!« schäumte Raimondo, rasend vor Wut. »Ich werde diesem Hundsfott und seinen stinkenden Sbirren bei lebendigem Leibe die Haut abziehen. Aber vorher will ich ihn züchtigen«, fuhr er fort und hob die Reitpeitsche.

»Keine Gewalt, Signore!« rief der Bargello. »Die Lunten unserer Arkebusen sind gezündet. Und meine Sbirren lassen sich nicht gerne Trotz bieten oder beschimpfen.«

»Das werden wir ja sehen!« tobte Raimondo und hob die Peitsche noch höher.

Silla Savelli zu seiner Rechten drängte sein Pferd gegen das von Raimondo und packte diesen am Handgelenk, doch Raimondo befreite sich mit einem Ruck und ließ seine Peitsche mit aller Kraft auf das Gesicht des Bargello niedersausen. Alle waren wie gelähmt. Ungläubig sah ich das Blut über das Gesicht Della Paces rinnen und von seiner rechten Wange herabtropfen. Dann wandte sich der Bargello im Sattel um. Er tat nicht das, was ich später aus sachdienlichen Gründen behauptet habe: er gab seinen Leuten keinen Schießbefehl. Er begnügte sich damit, ihnen sein blutüberstömtes Gesicht zu zeigen. Die Sbirren gaben sofort Feuer. Der Lärm war betäubend, und als sich der Rauch aus der engen Straße verzogen hatte, waren die Sbirren mit ihrem Chef umgekehrt. Ich stieg vom Pferd. Fünf der Unseren lagen auf dem Pflaster: Raimondo, Silla, Pietro Gaetano und zwei Mann der Eskorte.

Der Bader, den ich unverzüglich herbeiholen ließ, gab mir wenig Hoffnung für Raimondo und Silla. Beide starben eine |281|Stunde später, ohne die Letzte Ölung erhalten zu haben. Im Leben so eng vereint, daß sie alles – sogar ihre Mätressen – miteinander teilten, gaben sie beinahe gleichzeitig den Geist auf.

Die Nachricht von den todbringenden Schüssen der Sbirren verbreitete sich wie ein Lauffeuer in Rom; schon bald nach Mittag versammelte sich der gesamte römische Adel in meinem Hof und defilierte voller Schmerz und Zorn an den Toten und Verwundeten vorbei. Alle ballten die Faust und schworen dem Bargello und den Sbirren Rache. Und das einfache Volk, das den Adel ebenso liebte, wie es den Papst haßte, belagerte bereits mein Tor und forderte Waffen und Fackeln, um »den alten Fuchs in seinem Vatikan auszuräuchern«.

Paolo kam eine Stunde später, und bei seinem Erscheinen ging eine lebhafte Bewegung durch die Reihen der Adligen, denn alle kannten seine militärischen Fähigkeiten und sahen ihn bereits als Führer der Rebellion.

Er kniete vor den beiden Toten nieder und betete lange, und als er sich wieder erhob, berichtete ihm Alfredo, der in seiner Nähe stand, ausführlich über das Geschehene. Paolo ging an mir vorbei, als sähe er mich nicht, dann aber besann er sich, kam zurück, umarmte mich, küßte mich auf die Wange und sagte mir ins Ohr: »Und jetzt: mir nach! Es gibt keine andere Wahl!«

 

 

Seine Exzellenz Luigi Portici,

Gouverneur von Rom:

 

Meiner Meinung nach gibt es in einem Staat nichts Unheilvolleres als die Geheimdiplomatie. Denn wenn einige Würdenträger des Herrschers mit seiner Zustimmung eine Politik betreiben, die den anderen Ministern unbekannt bleibt, kann es geschehen, daß letztere in bester Absicht Maßnahmen ergreifen, die den ausgeklügelten Plänen der ersteren entgegenstehen und sie scheitern lassen. So kann eine Regierung in die lächerliche und gefährliche Situation einer Schlange geraten, die, statt den Gegner anzugreifen, sich selbst in den Schwanz beißt.

Genau das ist im Falle von Lodovico Orsini passiert: ich, der Gouverneur von Rom, bin in völliger Unkenntnis darüber gelassen worden, daß der Vatikan durch Vermittlung von Kardinal Cherubi mit dem Grafen in Verhandlungen getreten war, um sich |282|seiner Neutralität für den Fall zu versichern, daß Fürst Paolo eine offene Auseinandersetzung mit dem Papst suchen würde.

Diese heimliche Übereinkunft hat äußerst schwerwiegende Folgen nach sich gezogen. Ich werde sie hier nennen zu Nutz und Frommen all derer, die fortan die Prinzipien einer vernünftigen Politik vertreten wollen.

Erstens: Hätte ich gewußt, daß der Vatikan mit Lodovico Orsini zu verhandeln beabsichtigte, hätte ich von Anfang an abgeraten, sich mit diesem in Laster und Schulden verstrickten Edelmann überhaupt einzulassen. Zweitens: Ich hätte dem Vatikan mitgeteilt, welchen Verdacht die Corte bezüglich der beiden Banditen hegte, die in den Nora-Bergen den Reisenden auflauerten und Lösegeld von ihnen erpreßten. Ein Verdacht, der zur Gewißheit wurde, als sich die beiden Banditen in den Palast von Lodovico Orsini flüchteten.

Drittens: Falls der Vatikan gegen meinen Rat doch mit Lodovico Orsini in Verhandlung getreten wäre, hätte ich dem Bargello gewiß nicht befohlen, in das Haus des Grafen einzudringen und die beiden Banditen zu verhaften. Da mir Lodovicos Stolz und der Jähzorn seines jüngeren Bruders Raimondo – mit dem Beinamen il bruto – bekannt waren, hätte ich befürchtet, daß diese Aktion mit einem blutigen Zwischenfall enden würde, wie es dann leider auch geschah.

Dieses Scharmützel, in dem zwei Edelleute aus den angesehensten Familien fielen, setzte den Plänen des Vatikans ein Ende. Natürlich konnte Lodovico nach Raimondos Tod nicht neutral bleiben, ließ der Tod von Silla Savelli den römischen Adel nicht unberührt und mußte Fürst Orsini die Gelegenheit ergreifen, sich an die Spitze des Aufruhrs zu stellen, um Vittoria zu befreien.

Sowenig es ursprünglich in der Absicht der Verschworenen lag, sie hätten zu keinem günstigeren Zeitpunkt losschlagen können: die Unzufriedenheit des Volkes hatte einen Höhepunkt erreicht, und ich werde erklären, warum.

Der Papst als Herr der Christenheit und Oberhaupt eines Staates war im Besitz einer zwiefachen Gewalt: einer geistlichen und einer weltlichen, die beide zusammen ihm eine grenzenlose Macht verliehen. Gregor XIII. zeigte indes wenig Weisheit in ihrem Gebrauch. Vor allem verfiel er nur zu oft in den Fehler, die päpstliche Tiara mit der Fürstenkrone zu verwechseln.

|283|Als Gregor XIII. ein Jahr vor dem Aufruhr in Geldnöten war, nahm er einigen Edelleuten die Lehnsgüter weg, die ihnen sein Vorgänger verliehen hatte, und da manche von den so Beraubten und Ruinierten allzu unerschrocken Klage führten, hat der Papst sie ohne weiteren Prozeß exkommuniziert und also dem Raub weiteres Unrecht hinzugefügt.

Unter dem Pontifikat Gregors XIII. gab es eine Vielzahl von Exkommunizierungen aus anderen als Glaubensgründen; dadurch wurden Personen, denen die Kirche nichts vorzuwerfen hatte, hart getroffen und viele Gläubige verbittert. Zudem war dies nicht das einzige Beispiel für den bedauerlichen Mißbrauch geistlicher Macht im Dienste weltlicher Interessen. Mehr als einmal verhängte der Papst über einen politischen Gegner ein unwiderrufliches precetto, das die Ehe des Betroffenen annullierte. Weigerte sich der Unglückliche dann, seine eheliche Wohnung zu verlassen, lebte er fortan im Konkubinat, folglich im Stand der Todsünde, mit einer Frau, die er liebte und die noch tags zuvor seine legitime Gattin gewesen war. Über solchen Mißbrauch waren die einfachen Untertanen des Papstes ebenso entrüstet wie seine Theologen. Letztere stellten fest, wenn auch sehr vorsichtig, die Ehe sei ein von Gott gestiftetes Sakrament zwischen den Eheleuten; keine Macht der Welt habe das Recht, sie zu lösen.

Aber auch in weltlichen Angelegenheiten herrschte seit dem Pontifikat Gregors XIII. die Willkür. Gewiß, Nepotismus war schon immer die Hauptschwäche des Papsttums gewesen. Doch auf Grund der Indolenz und Inkonsequenz Gregors XIII. gebrauchten seine Verwandten, denen er die wichtigsten Machtinstrumente anvertraut hatte, diese unkontrolliert und uneingeschränkt, je nach Laune, finanzieller Situation, Freundschaft oder Feindschaft. Sie scheuten sich nicht, ehrenwerte Männer, die ihnen mißfielen oder sich ihnen widersetzten, ohne Anklage, ohne Urteil und mithin ohne Strafbegrenzung in den Verliesen des Vatikans verschwinden zu lassen.

Nicht ohne Skrupel erwähne ich hier auch jene Gegner des Papstes, die zwar von der Zahl her nicht ins Gewicht fielen, die aber den Vatikan um so entschiedener bekämpften, als ihre Gegnerschaft geheim bleiben mußte. Ich spreche von den Lutheranern, die durch Inquisition und Angst vor dem Scheiterhaufen zum wahren Glauben rekonvertiert worden waren. Sie sympathisierten insgeheim immer noch stark mit ihren früheren Anschauungen |284|und konnten es Gregor XIII. nicht verzeihen, daß er mit einer prunkvollen Dankmesse das Massaker unter den Pariser Protestanten in der Bartholomäusnacht gefeiert hatte. Sogar in Rom waren etliche Katholiken über diese Messe und über die Freudenfeuer entsetzt, die der Papst auf allen öffentlichen Plätzen hatte anzünden lassen.

Schlimmer noch war die Schwäche, die die Regierung Gregors XIII. ungeachtet ihrer Tyrannei allenthalben zeigte. Weil sie nach Perettis Ermordung nicht wagte, sich mit dem Fürsten Orsini anzulegen, hatte sie eine Frau verhaftet, die offensichtlich nicht an dem Verbrechen beteiligt war. Den durch diese Einkerkerung herausgeforderten Fürsten hatte man zu lähmen gehofft, indem man sich die Neutralität einer zwielichtigen Person erkaufte. Und da man ein Mißlingen dieses Schachzugs von vornherein ausschloß, hatte man keine Alternativen erwogen und auch nicht rechtzeitig besondere Vorkehrungen – wie etwa die Verstärkung der Schweizergarde – getroffen.

Die Erhebung traf die Regierung völlig unerwartet und erwies sich um so bedrohlicher, als sich das Volk sofort dem Adel anschloß. Erstens, weil es die Sbirren und die Verwandten des Papstes verabscheute. Und zweitens, weil es nicht nur Lodovico sehr zugetan war, sondern allen Nobili, wegen ihrer Freigebigkeit. Selbige kostete die adligen Herren wenig, da sie viel Geld aus ihren Bauern preßten, mit denen sie ebenso hart verfuhren, wie sie sich den städtischen Plebejern gegenüber großzügig zeigten. Denn sie fürchteten die verstreut lebende Landbevölkerung wenig, während sie mit den Plebejern in der Stadt, deren Zahl und Nähe sie bedrohlich fanden, behutsam umgingen, um sich auf billige Art eine nützliche Anhängerschaft für den Notfall zu sichern.

Noch mit blutüberströmtem Gesicht kam Della Pace zu mir und erstattete Bericht über das unglückselige Scharmützel, das ohne sein Verschulden – denn er hatte keinen Schießbefehl erteilt (im Gegensatz zu den späteren Behauptungen Lodovicos, aber auf eine Lüge mehr oder weniger kommt es diesem sauberen Herrn nicht an) – Raimondo Orsini und Silla Savelli das Leben gekostet hat. Ich schickte an die neuralgischen Punkte der Stadt Kundschafter, die mit höchst beunruhigenden Nachrichten zurückkamen: auf Betreiben von Fürst Paolo organisierten sich die Nobili ohne Verzug und verteilten bereits Hieb- |285|und Stichwaffen an ihre jeweilige Gefolgschaft, wobei sie klugerweise die Arkebusen für sich einbehielten. Das Volk lief auf der Straße zusammen, machte Jagd auf Sbirren und hatte schon mehr als einen umgebracht. Alle Beutelschneider und Strauchdiebe kamen aus ihren Schlupflöchern, bereit, ihren üblichen Geschäften nachzugehen, zu rauben, zu plündern, zu morden.

Ich ließ die Verwandten des Papstes warnen, sie sollten sich eiligst im Vatikan in Sicherheit bringen (denn man vergriff sich schon an ihrer Dienerschaft), und begab mich dann mit Della Pace selbst dorthin. Umgehend wurden alle Gebäude für den Belagerungszustand vorbereitet, die Ausgänge bis auf einen verbarrikadiert und die Kanonen auf die Angreifer gerichtet. Der Vatikan hatte bereits eine Botschaft an das Königreich beider Sizilien gesandt und die dort unter dem Kommando eines österreichischen Generals einquartierten spanischen Truppen um sofortige Hilfe ersucht. Aber wer die Langsamkeit Philipps II. von Spanien in all seinen Entscheidungen und die Langsamkeit der Österreicher bei deren Ausführung kannte, durfte erst in frühestens drei Wochen mit Hilfe rechnen. Und so, wie die Dinge ihren Lauf genommen hatten, wären schon drei Tage zu spät gewesen. Man sah bereits Leute mit Fackeln um den Vatikan rennen und schreien, sie würden »den alten Fuchs ausräuchern«.

Durch die kleine Geheimtür, die ich nicht hatte vermauern lassen, die aber stark bewacht wurde, sandte ich bei Nacht mehrere Emissäre aus, von denen einer nach Montegiordano, dem Hauptquartier der Rebellion, gehen sollte. Er gelangte auch hin, so groß waren das Gewühl und die Bewegung in den Straßen, und sah, wie die Nobili jubelten und zugleich verwirrt waren über den nahen Sieg, mit dem sie eigentlich nichts anzufangen wußten, zumal die Zügellosigkeit des Volkes sie beunruhigte: obwohl nur sie selbst mit Arkebusen bewaffnet waren, fürchteten sie in ihren eigenen Palästen für ihre Sicherheit.

Mein Emissär war ein Mönch, ein Mann von großer Geistesgegenwart und Beherztheit. Als er bemerkte, von welcher Angst die hohen Herren erfüllt waren, wagte er mit dem Fürsten Paolo ein Gespräch unter vier Augen; er gab sich zu erkennen und fragte, zu welchen Bedingungen die Rebellen zum Friedensschluß mit dem Papst bereit wären.

Fürst Paolo führte ihn in einen kleinen Raum, verriegelte die Tür und sagte:

|286|»Zwei Bedingungen müssen erfüllt werden. Die erste: um Mitternacht wird eine Kutsche mit einem Wappen, von einer Schar meiner Berittenen bewacht, am hinteren Tor der Engelsburg auf zwei Frauen warten, die der Papst wider Recht und Gesetz gefangenhält. Sollten sie bis ein Uhr morgens nicht die Kutsche bestiegen haben, werden meine Soldaten mit dem Sturmbock eines der Tore zum Vatikan angreifen.«

»Und die zweite Bedingung, Durchlaucht?«

»Sie wird einhellig gestellt, doch ich nenne sie Euch nur mit größtem Widerstreben: die Nobili verlangen den Kopf von Della Pace.«

»Das ist ja gräßlich, Durchlaucht!«

»Ja, das ist es. Aber nur um diesen Preis bekommt der Papst Frieden.«

»Aber, Durchlaucht, selbst wenn der Papst bereit ist, seinen Bargello zu opfern, muß man bezweifeln, daß sich der Pöbel mit dieser Trophäe zufriedengibt, verlangt er doch mit aller Gewalt die Abdankung Seiner Heiligkeit.«

»Keine Sorge. Wir haben genügend Soldaten und Arkebusen und werden das Volk auseinanderjagen.«

»Eure Verbündeten, Durchlaucht?«

»Was sollen wir sonst machen? Wollt Ihr, daß es mit dieser abscheulichen Anarchie weitergeht? Dann fielen am Ende auch wir ihr zum Opfer.«

»Durchlaucht, Eure Bedingungen werde ich gewissenhaft übermitteln.«

»Versteht mich recht: die eine Bedingung gilt nichts ohne die andere. Wenn die erste nicht erfüllt wird, wäre es nutzlos, die zweite zu erfüllen.«

»Verzeiht meine Offenheit, Durchlaucht: aber was geschähe, wenn nur die zweite erfüllt würde und der Adel damit zufrieden wäre?«

»Dann würde ich die Belagerung fortsetzen, und der Pöbel würde mir folgen. Wollen wir wetten, daß ich morgen mittag den Vatikan in meiner Gewalt haben werde?«

»Der Papst wird Euch exkommunizieren.«

»Seid Ihr gekommen, um zu verhandeln oder um mir zu drohen?«

»Vergebung, Durchlaucht, wenn ich ohne Umschweife zu Euch sprach. Darf ich fortfahren, oder soll ich schweigen?«

|287|»Redet bitte weiter. Das Gespräch mit Euch ist sehr lehrreich für mich.«

»Was wird geschehen, wenn der Vatikan die Belagerer mit Kanonen beschießt?«

»Auch ich habe Kanonen. Und statt das Hauptportal des Vatikans nur mit dem Sturmbock zu kitzeln, werde ich es zerschmettern lassen. Ihr wißt, was dann geschieht. Die Menge wird durch diese Bresche eindringen und alles plündern, alles totschlagen.«

»Ihr würdet ein solches Gemetzel dulden?«

»Wie sollte ich es verhindern?«

»Oh, Durchlaucht! Und das alles wegen einer Frau!«

»Verzeiht mir, Pater, aber Euch fehlt die Kompetenz, diesen Punkt zu diskutieren. Kehrt zurück, und übermittelt getreulich meine Bedingungen!«

Als der Mönch wohlbehalten zurückgekehrt war und mir dieses Gespräch wiedergab, glaubte ich meinen Ohren nicht zu trauen, so beleidigend erschien mir die zweite Forderung – den Kopf Della Paces der Menge zu opfern – für denjenigen, an den sie gerichtet war. Und um sie nicht selbst dem Papst vortragen zu müssen, entschloß ich mich, den Mönch zum Heiligen Vater zu führen und ihn selber berichten zu lassen.

Wir betraten das Audienzzimmer, als der Papst gerade mit dem Hauptmann der Schweizergarde und einem Dutzend hoher Würdenträger des Vatikans in größter Angst die Frage erörterte, ob man die Kanonen sprechen lassen solle oder nicht. Der Hauptmann verwarf diesen Vorschlag entschieden, denn er hielt eine Beschießung mitten in der Stadt, wo schon die kleinste Mauer die Angreifer gegen unsere Kugeln schützte, für wenig wirkungsvoll. »Das wird sie nur noch mehr in Wut bringen«, wiederholte er mit seinem stark ausgeprägten deutschen Akzent.

Der Heilige Vater, der mich bemerkt hatte und sicher ahnte, daß ich Neuigkeiten brachte, ließ mich näher treten. Ich kniete nieder, küßte seinen Pantoffel (nicht einmal unter solchen Umständen kürzte er diese Zeremonie ab), erklärte die Anwesenheit des Mönchs und bat, ihn anhören zu wollen.

Während der Mönch berichtete, musterte ich die Gesichter des Papstes und seiner Ratgeber und war fassungslos, darin den Ausdruck unendlicher Erleichterung zu bemerken. Als der Mönch jedoch geendet hatte, gab der Heilige Vater nicht wie |288|sonst seiner Eloquenz freien Lauf, sondern beschränkte sich darauf, seine Räte um ihre Meinung zu ersuchen. Es folgte ein langes verlegenes Schweigen, denn keiner der anwesenden Würdenträger wollte als erster das Wort nehmen, so heikel war die Sache, und niemand kannte oder erriet auch nur die Vorstellungen des Heiligen Vaters in dieser Angelegenheit.

Der Papst verlor ob des Schweigens die Geduld, weswegen er sich an einen der anwesenden Kardinäle wandte und gebieterisch fragte:

»Nun, Cherubi?«

Er hatte Cherubi nicht zufällig gewählt, war dieser doch für seine plumpe Offenheit bekannt.

»Allerheiligster Vater«, schmetterte Cherubi los, »ich denke, wenn die begonnene Verhandlung Erfolg hat, kommen wir billig davon.«

»Billig?« fragte halblaut ein anderer Kardinal.

Cherubi ließ sich dadurch nicht im geringsten aus der Fassung bringen, sondern fuhr fort: »Ich meine, die Dinge könnten viel schlechter stehen. Wenn zum Beispiel der Adel dem Pöbel die Zügel schießen ließe. Deshalb müssen wir mit den Nobili verhandeln, solange noch Zeit ist.«

»Doch die Forderungen sind sehr hart«, wandte ein anderer Kardinal ein, »vor allem die zweite.«

Er sprach mit sanfter, beinahe zögernder Stimme: ein starker Kontrast zu Cherubis Posaunenton.

»Zweifellos sind die Forderungen hart«, sagte Cherubi, »besonders in bezug auf Della Pace. Wir alle hier lieben und schätzen Della Pace. Wir haben ihm nichts vorzuwerfen. Aber durch ihn ist das Unglück über uns gekommen. Er muß sich deshalb damit abfinden, das unglückliche Faustpfand des Friedens zu sein. Ihr, Allerheiligster Vater, müßt ebensoviel Mut für dieses Opfer aufbringen wie einst Abraham für die Opferung seines Sohnes.«

Da der Papst auf diesen Diskurs mit kleinen Zeichen der Zustimmung reagierte, wagte niemand, gegen den geschmacklosen Vergleich zu protestieren, der die Forderung blutgieriger Edelleute mit einem Gebot des Allerhöchsten auf eine Stufe stellte.

»Meine vielgeliebten Söhne«, sagte der Papst, der plötzlich in fieberhafter Hast die Debatte zu beenden trachtete, »wer teilt die Ansicht von Kardinal Cherubi?«

|289|Niemandem konnte entgehen, daß diese Art der Fragestellung eigentlich schon die Antwort diktierte. Alle Hände hoben sich, nur zwei nicht.

Da entschloß ich mich zu einer unerhört kühnen Geste. Ich warf mich dem Papst zu Füßen und stieß keuchend hervor:

»Allerheiligster Vater, wenn jemand geopfert werden muß, dann will ich es sein! Denn ich habe Della Pace befohlen, die beiden Banditen festzunehmen. Daher bin ich der wahre Schuldige an dieser beklagenswerten Situation.«

Gregor XIII. schien durch diesen Einwand bestürzt zu sein. Er sah mich von seinem Thron herab mit seinen großen blauen Augen an, als sei er um eine Antwort verlegen.

»Mein lieber Portici«, sagte da Cherubi mit seiner lauten Stimme, »leider fordern die Aufständischen nicht Euern Kopf. Und wenn wir Euch opferten, wäre der Adel in keiner Weise zufriedengestellt. Es besteht daher kein Grund, unser Votum zu revidieren. Im übrigen schlage ich vor«, dabei sah er den Hauptmann der Schweizergarde an, »die Angelegenheit schonend, quasi unversehens, zu erledigen, ohne daß der Betroffene merkt, wie er vom Leben zum Tode befördert wird; man soll ihm den Kopf erst nach seinem Hinscheiden vom Rumpf trennen.«

Ich schaute auf den Heiligen Vater, der in diesem Augenblick sein Haupt hin und her bewegte, was als ein Zeichen der Zustimmung oder des Alters gedeutet werden konnte. Mir kam der Verdacht, er spiele seine Betagtheit aus, um schwächer und hinfälliger zu wirken, als er in Wirklichkeit war. Denn tags zuvor hatte ich ihn noch lachend, lebhaft, spöttisch erlebt, die schlanke Figur hoch aufgerichtet.

»Allerheiligster Vater …«, begann ich mit einer letzten Anstrengung.

Er unterbrach mich sofort:

»Glaubt mir, lieber Sohn, Wir sind zutiefst verzweifelt über den schmerzlichen Entschluß, den Uns die Tyrannei der Umstände abnötigt. Er zerreißt zuallererst Uns selbst das Herz, und Wir wünschen jetzt allein gelassen zu werden, um dem Herrn Unseren Schmerz und Unsere Betrübnis darzubringen.«

Dicke Tränen rollten langsam über seine rosigen Wangen.

»Ziehet hin in Frieden, lieber Sohn«, sagte er und segnete mich.

Trotz seiner Tränen und seines Segens vergab mir der Heilige |290|Vater nie die Verlegenheit, in die er durch meinen Einwand geraten war. Wenige Monate nach Wiederherstellung des Friedens rächte er sich an mir. Als ich im Sommer einige Tage der Entspannung in meiner Villa in Ostia verbrachte, schrieb er mir, ich solle von nun an für immer dort bleiben, da es an der Zeit sei, von den Mühen meines Amtes auszuruhen. Obzwar die Mitteilung in den huldreichsten Floskeln formuliert war und aus jeder Zeile höfisches Weihwasser troff, hieß das: ich war nicht nur meines Amtes als Gouverneur enthoben, sondern auch aus Rom verbannt.

 

 

Alfredo Colombani,

Reitknecht von Raimondo und Lodovico Orsini:

 

Ich habe wenig zu sagen, und da ich nicht fürs Palavern begabt bin, sag ich’s mit einfachen Worten. Und ich bitte um Vergebung, weil ich mich im venezianischen Dialekt ausdrücke. Ich verstehe Italienisch, spreche es aber ziemlich schlecht.

Ich war zuerst nur Reitknecht bei Signor Raimondo Orsini, dann gleichzeitig bei dem Besagten und bei seinem Bruder, dem Grafen Lodovico. Ich kenne beide sehr gut.

Raimondo hatte den Beinamen il bruto vor allem wegen seiner Visage. Meine ist übrigens nicht besser! Ich würde sogar sagen: schlechter. Wenn mich ein Richter nur nach der Visage beurteilen müßte, würde er mich wohl ohne langes Fackeln an den Galgen bringen.

Und doch bin ich von Natur aus nicht blutgierig. Es stimmt schon, ich habe in meinem Leben ein halbes Dutzend Leute erdolcht, aber immer auf Befehl meiner Herren, nie aus eigenem Antrieb! Und ich muß gestehen, ich hätte auch nicht Bandit in den Nora-Bergen sein mögen wie die zwei … – jeder weiß, wen ich meine.

Um auf Raimondo zurückzukommen: der war nur brutal, wenn er zuviel getrunken hatte – und »zuviel« war bei ihm eine ganze Menge; dann mußte man seinen Schlägen ausweichen. Aber er war gutherzig. Die Umstände, die er machte, um die Herzogin Isabella in Bracciano zu töten! Und hinterher hat er geheult wie ein Schloßhund. Und gebetet hat er, in einer Tour – wie ein richtiger Pfaffe! Sie war ja auch wirklich schön. Ich habe noch nie einen so schönen Frauenkörper gesehen. Aber das war |291|kein Grund. Denn schließlich hatte sie den Fürsten Paolo mit jedermann betrogen.

Ich habe die besten Erinnerungen an den Aufenthalt in Bracciano. Als die Sache erledigt und Raimondo endlich mit Beten fertig war, haben wir uns eine gute Zeit gemacht. Acht Tage lang nichts als Fressen, Saufen, Huren. Alle Zofen in der Burg, willig oder nicht, haben wir uns vorgenommen. Man stelle sich vor: die Herzogin tot, und wir die Herren im Haus!

Die brutale Art des Signor Raimondo war dann doch sein Verderben. Hätte er an jenem Tag Signor Lodovico sprechen lassen, wäre das alles nicht passiert. Aber er wurde immer gereizter. Ja, er hatte getrunken. Die Beschimpfungen mochten noch angehen. Aber der Peitschenhieb ins Gesicht des Bargello war zuviel. Der Bargello hat keinen Schießbefehl gegeben. Er hat sich nur umgedreht und die Sbirren zu Zeugen der Beleidigung gemacht. Und leider waren die Lunten ihrer Arkebusen noch gezündet. Ich habe auch erfahren, warum.

Als die Sbirren in unseren Hof eindrangen, um die Banditen festzunehmen, zeigten die Unseren, die ja sehr zahlreich waren, die Zähne, so daß es die Sbirren mit der Angst kriegten, sich in das Torhaus zurückzogen und auf Befehl des Bargello die Lunten zur Attacke zündeten. Daraufhin haben die Unsrigen klein beigegeben.

So einfach war das: die Sbirren haben geschossen, weil sie die Lunten schon gezündet hatten. Und weil sie dem Bargello sehr zugetan waren. Hätten sie ihn nicht so gemocht, dann hätten sie über den Peitschenhieb nur schadenfroh gelacht. Natürlich nicht vor ihm. So ist der Lauf der Welt. Die guten Herren beweint man, den schlechten würde man eher noch den Todesstoß versetzen!

Die Sbirren haben nicht gezielt, sondern einfach nur in die Menge geschossen. Ein Wunder, daß es nur zwei Tote gab! Ich stand hinter dem armen Raimondo, und die Kugel, die ihm die Brust durchschlagen hat, streifte noch meinen Arm. Am ungerechtesten war der Tod des armen Signor Silla Savelli, sage ich immer. Einen freundlicheren, sanfteren und auch zu den kleinen Leuten höflicheren jungen Mann findet man nicht so bald wieder. Er hat sogar noch versucht, Raimondo in den Arm zu fallen, als der die Reitpeitsche hob. Und was war sein Lohn? Eine Kugel in den Kopf!

|292|Ich schäme mich nicht, zu sagen, daß ich Raimondo beweint habe. Vor allem, wo ich jetzt nur noch einen Herrn habe, den Grafen Lodovico, über den ich nichts sagen will. Weder Gutes noch Schlechtes. Ich habe nicht über ihn zu urteilen. Wie es heißt, ist er der Madonna ganz besonders ergeben und betet Tag und Nacht zu ihr. Nach meiner Meinung würde ihn die Madonna aber nicht sonderlich mögen, wenn sie ihn genauso gut kennen würde wie ich.

Vielleicht bin ich nicht richtig verstanden worden. Deshalb will ich noch mal auf die Arkebusen und die gezündeten Lunten zurückkommen.

Ich meine so: angenommen, die Lunten wären nicht gezündet gewesen, dann hätten die Sbirren auch nicht geschossen. Warum? Der Bargello hätte das Anzünden befehlen müssen. Ja, gut, sie haben auch ohne Befehl geschossen. Aber zum Schießen braucht’s eine Sekunde. Eine Lunte zünden dagegen – das dauert lange. Man muß den Feuerstahl hervorkramen, Feuer schlagen, den Zunder anbrennen, ihn durch Draufpusten entflammen, ihn an die Lunte anlegen, weiter blasen – eine richtige Plackerei. Und der Bargello hätte in aller Ruhe fragen können: »Was macht ihr da? Ich habe keinen Befehl gegeben!« Andererseits, wenn er nichts gesagt hätte, wir aber das Treiben der Sbirren gesehen hätten, wäre uns Zeit geblieben, mit dem Degen über sie herzufallen und mit der flachen Klinge kräftige Hiebe zu verteilen, ohne sie zu töten. Man erinnert sich: sie waren zwanzig Mann, wir aber dreißig.

Da sieht man’s mal wieder: kleine Ursache, die gezündeten Lunten – große Wirkung, Blut und Feuer in der ganzen Stadt. Alle Edlen zu Pferd, und das Volk auf der Straße. Das ganze Volk: die Guten und die Schlechten, was bei solcher Gelegenheit keinen großen Unterschied macht, denn ehrliche Handwerker plünderten und mordeten genauso wie die Strolche. Die Sbirren, die wir zu fassen kriegten, bis auf den letzten Mann massakriert! Die Dienerschaft der Verwandten des Papstes – ebenfalls massakriert. Und diesen Verwandten selbst hätte das gleiche geblüht, wären sie nicht in den Vatikan geflohen. Auf alle Fälle wurden ihre Paläste geplündert, und die Leute waren nicht arm! Der Vatikan umzingelt, belagert, und die Menschen rannten durcheinander und schrien »Abdanken! Abdanken!«, »Tod dem Bargello!« und sogar »Tod dem Papst!«. Ja, das |293|wurde wirklich gerufen: »Tod dem Papst!«, und alles gute Katholiken, Gott möge ihnen vergeben!

Die Edlen etwas abseits, zu Pferde, die Soldaten und ihre Schutzbefohlenen zu Fuß, alle mit Arkebusen, manche davon mit Radschloß (aber meiner Meinung nach ist diese Neuerung nicht sehr zuverlässig), die anderen mit Lunte, und die war absichtlich gezündet!

Im Hintergrund, in einiger Entfernung von der Menge, aber an der Spitze vom Gros der Adligen, Fürst Paolo auf seiner weißen Stute, zu seiner Rechten dicht neben ihm der Marchese Giulio Savelli, der Vater des armen Silla, und zu seiner Linken Graf Lodovico. Auf ihrer Seite herrschte Schweigen. Und Unruhe. Denn beim Anblick des tobenden Pöbels begannen sie, für ihre eigenen Paläste zu fürchten. Was mich am meisten verblüfft: sie unternehmen nichts. Absolut nichts! Und als ich mich erkühne, Graf Lodovico zu fragen, worauf man denn warte, sagt er überheblich: »Daß uns der Mond in die Geldkatze fällt!«

Der Mond scheint wirklich, es ist fast so hell wie am Tag. Man könnte ein Buch lesen (natürlich nur jemand, der lesen kann). Der Beweis: Fürst Paolo schaut von Zeit zu Zeit auf seine Taschenuhr und sagt laut die Stunde an. Und noch ein Beweis: sein Reitknecht bringt im Trab ein Billett, das der Fürst erbricht und liest. Er strahlt. Was in dem Billett stand, haben wir erst später erfahren.

»Schluß jetzt!« sagt Fürst Paolo plötzlich.

Er befiehlt, eine Musketensalve auf die Fenster des Vatikans abzugeben. Da aber niemand so unvorsichtig gewesen ist, sich ans Fenster zu stellen, passiert nichts Schlimmes, nur die Scheiben zersplittern. Eine kleine Neckerei, weiter nichts. Aber den Leuten gefällt das, sie klatschen wie im Theater.

Fürst Paolo guckt wieder auf die Uhr und läßt drei Kanonen vorrücken. In Wirklichkeit hat er nur diese drei, und die sind nicht gerade riesig. Und die Kanoniere davor schützen sich durch Flechtwerk und Sandsäcke vor Flintenbeschuß. Währenddessen zersprengt die Reiterei das Volk und drängt es nach rechts und links zurück, damit die Kanonen das Tor zum Vatikan beschießen können. Aber die Reiter reichen nicht aus. Zwei Reihen Fußsoldaten müssen diese Idioten zurückdrängen, die sich auch in Stücke hauen ließen, um alles schön zu sehen.

Die Kanoniere bauen ihre Schutzvorrichtungen in aller |294|Gemächlichkeit auf, und weil das Volk »Schneller! Schneller!« schreit, läßt der Fürst ein Dutzend Soldaten mit einem Sturmbock vorrücken, um das Tor zu rammen. Aber sie sind nicht sehr eifrig bei der Sache, das Ergebnis ist gleich Null. Das Volk bemerkt dies schließlich und schreit: »Stärker! Stärker!« Und die Wildesten brüllen: »Laßt uns an den Sturmbock ran! Wir werden euch zeigen, wie man’s macht!« Die Doppelreihe der Soldaten hat alle Mühe, die Leute zurückzuhalten.

Da erscheint eine weiße Fahne an dem Fenster des Vatikans über dem Tor, dem so wenig passiert ist. Schreie und Gebrüll! Gleich darauf wird eine Schachtel an einem Seil herabgelassen.

»Sieh nach, Alfredo!« sagt Graf Lodovico mit blitzenden Augen.

Ich gebe meinem Pferd die Sporen und rufe einem Soldaten zu, den Sturmbock zu lassen und die Schachtel zu öffnen. Das tut er: es ist der Kopf von Della Pace, aus dem abgetrennten Hals tropft noch das Blut. Ich ergreife ihn an den Haaren, halte ihn nach unten und schaffe ihn in schnellem Galopp weg, voller Sorge, der Pöbel würde über mich herfallen und ihn mir entreißen.

Fürst Paolo ist unser General, und ihm bringe ich den Kopf. Er wendet sich angeekelt ab und will ihn nicht. Das gleiche beim Marchese Giulio Savelli. Aber Graf Lodovico ist nicht so zimperlich. Er packt den Kopf an den Haaren, schwenkt ihn mit ausgestrecktem Arm, läßt sein Pferd vor dem Pöbel tänzeln, zeigt den Kopf und schreit: »Della Pace! Della Pace! Sieg! Sieg!« Und da sich alle auf ihn stürzen, wirft er ihnen den Kopf vor die Füße.

Was dann geschieht und was die Kanaillen mit dem Kopf machen, kann ich nicht wiedergeben. Allein beim Gedanken daran wird mir übel.

Unter den Adligen herrscht Schweigen. Mir scheint, sie sind in dieser Minute nicht sehr glücklich. Schließlich war auch Della Pace ein Edelmann. Von geringem, aber ehrenwertem Adel. Und ein ehrlicher, von allen geachteter Mann. Und daß Gregor XIII. die unsägliche Feigheit besaß, diesen guten Diener für die Erhaltung seines Throns zu opfern, ekelt sie an. Ich selbst schäme mich für den Papst. Und ich schäme mich auch für die guten Christen, die mit den Fußspitzen gegen den armen blutüberströmten Kopf treten wie gegen einen Ball.

|295|Aber wer denkt, diese Trophäe würde die Menge beruhigen – weit gefehlt! Die guten Leute wissen sich nicht mehr zu lassen! Schreie wie »Abdanken! Abdanken!«, »Nieder mit dem Tyrannen!«, »Tod dem Papst!« sind erneut zu hören. Sie schichten Reisigbündel an einer der kleinen Türen zum Vatikan auf. Die Soldaten werden zurückgestoßen, man entreißt ihnen den Sturmbock, zehn bis zwanzig Mann beginnen, gegen das Hauptportal anzurennen, und diesmal nicht zum Spaß.

Fürst Paolo macht kehrt und fragt die Edlen:

»Wollen wir das zulassen?«

Sie wollen es natürlich nicht! Nach dem Papst wären sie doch selbst an der Reihe! Einstimmige Antwort. Alle sind fest entschlossen. Im Bruchteil einer Sekunde wechseln sie das Lager!

Fürst Paolo läßt seine Kanonen umdrehen und schießt ohne Warnung auf das Volk. In dieser dichten Menge haben die Kugeln eine verheerende Wirkung, und kaum ist die erste Bestürzung vorüber, da folgt eine Musketensalve. Dutzende von Toten und Verwundeten! Die Aufständischen ziehen sich zurück. Noch eine Salve! Man braucht nicht einmal zu zielen, es sind ja so viele! Sie fallen wie die Fliegen! Der Platz ist übersät von Toten. Ein richtiges Massaker! Immer mehr wenden sich zur Flucht, und der Fürst gibt seinen Gefolgsleuten Befehl zur Attacke. Das Sausen in der Luft, als alle auf einmal ihren Degen ziehen – ihren Kampfdegen! Mit doppelter Schneide, die eine gute Ernte verspricht! Hiebe und Stiche für die, die nicht schnell genug wegrennen.

Als sich Graf Lodovico, dessen Blutdurst noch immer nicht gestillt ist, der Hetzjagd anschließen will, hält ihn der Fürst zurück und sagt:

»Geh nach Hause, carissimo! Und hör bitte auf, den Machiavelli zu spielen. Ohne dich wäre das alles hier nicht passiert. Das viele Blut ist sinnlos vergossen worden, glaube mir. Zur Stunde befindet sich die Gefangene aus der Engelsburg in meinem Haus. Und so Gott will, werde ich sie morgen heiraten.«

Dann drehte er sich um, und Graf Lodovico wurde kreidebleich. Er knirschte wie wahnsinnig mit den Zähnen. Ich fragte mich, ob sich die oberen Zähne nicht in die unteren eindrücken würden. Wenn man es durchrechnet, ist er mit am meisten angeschmiert in dieser ganzen Affäre: er hat seinen Bruder Raimondo |296|und fünfzigtausend Piaster verloren, und der Fürst heiratet Vittoria!

Der zweite Betrogene ist das Volk. Es hat den Adligen geholfen. Und als deren Rachedurst befriedigt war, haben sie es niedergemetzelt. Am Tag nach dem Massaker lief ein Franziskaner durch Rom und erzählte, in dem Moment, wo der Adel seine Kanonen gegen den Pöbel richtete, habe er den Teufel lachen hören. Wenn man ihm einen Piaster gab, beschrieb er dieses Lachen oder ahmte es sogar nach. Auf diese Art hatte er sich bis zum Abend ein kleines Vermögen gemacht. Am darauffolgenden Tag war er verschwunden, und er tat gut daran. Denn die Dummen, die auf ihn hereingefallen waren und von den Nachbarn ausgelacht wurden, suchten überall nach ihm, um ihn zu verprügeln.

Den Streit zwischen Raimondo und dem Bargello am Tage des Scharmützels habe ich oft erzählen hören – von Leuten, die dabei waren oder auch nicht. Aber eine Drohung von Raimondo gegen den Bargello habe ich nie und von niemand wiederholen hören: »Wenn du uns nicht sofort unsere Männer herausgibst, werden deine Ohren das größte Stück sein, das von dir übrigbleibt.«

Ich weiß nicht, wo Raimondo das aufgeschnappt hatte, denn er war nicht sehr intelligent. Auf keinen Fall intelligenter als ich. Aber er war ein guter Herr. Gewiß, er hat mir mehr Fußtritte als Piaster gegeben. Aber wenn wir zusammen feierten, teilte er alles mit mir: den Wein und die Weiber.

Mit Ausnahme von Caterina Acquaviva. Die hat er nur mit Silla Savelli geteilt … Er liebte Silla (der schön war wie die Morgenröte) so sehr, daß man in Rom schon munkelte, der sei sein Favorit. Ich glaube das nicht. Aber schließlich, wenn man betrunken ist – wo ist da schon der Unterschied?

Ich muß oft an die beiden denken. So junge Männer! So mutig! So lebenslustig! Und nun sind sie tot. Und beide so plötzlich, im Zustand der Todsünde. Das ist das Schlimmste. Ich bete nicht oft, aber wenn, dann bitte ich den Herrn, sie ins Paradies einzulassen. Ich weiß, Er allein ist der Richter, und Er allein hat die Waage, die Seelen zu wiegen. Dennoch: ein kleines Gebet auf der guten Waagschale – das kann nicht schaden.