New York City, USA 

(Samstag) 3. Rennen: Verfolgungsjagd 

Runde 120 von 120

  

 

Der Argonaut jagte in der letzten Runde des dritten Rennens mit Höchstgeschwindigkeit und tosenden Triebwerken den Hudson River entlang, gleichauf mit Etienne Trouveaus Vizir, der ihn ständig anrempelte - während nur noch eine Kurve zu fahren war, am gefürchteten Ellbogen, lagen Jason und Trouveau vor dem Verfolgerfeld und kämpften um den Sieg.

Jason nahm die Umgebung nur verschwommen wahr. Die Gebäude von New York City. Die Brücken. Die gewaltigen Hovertribünen am Flussufer.

Das Rennen war hart gewesen. Hart und erbittert.

Jetzt aber kulminierte alles - noch eine Kurve und zwei Fahrer.

Der Argonaut schoss im Sturzflug in den Ellbogen hinein. Der Vizir desgleichen.

Jason kämpfte mit zusammengebissenen Zähnen gegen die Zentrifugalkräfte an.

6 G ...

Der Vizir war immer noch gleichauf. 7 G ...

Der Argonaut begann zu rütteln.

Jason umklammerte mit aller Kraft das Steuer.

Bei 8 G wurde ihm schwarz vor Augen; er drohte ohnmächtig zu werden.

Nicht ohnmächtig werden!, feuerte er sich an. Nicht ohnmächtig werden!

Der Vizir aber war immer noch neben ihm. Schlimmer noch, er schob sich an der Außenseite der grauenhaften Kurve allmählich an ihm vorbei]

Wie hält Trouveau das nur aus?, schrie es in Jasons Kopf. 8,5 G ...

Jason wurde übel. Einer solchen Belastung hatte er noch nie standgehalten - doch er konnte an nichts anderes denken als daran, dass der Vizir ihm entwischte, ihn bei einem Rennen zu schlagen drohte, das er unbedingt gewinnen musste, um im Masters zu bleiben.

Er musste gewinnen.

Gewinnen.

Dann kam das Ende der riesigen Haarnadelkurve in Sicht -und Jason verlor das Bewusstsein.

Augenblicklich wurde der Argonaut aus dem Ellbogen hinausgetragen.

Jason flog wie eine Stoffpuppe in den Sitz zurück. Undeutlich hörte er den Bug vor Angst schreien, als der Wagen steuerlos und kreischend wie ein getroffener Kampfjet über die Entmagnetisierungslichter am Kurvenrand schoss, sich überschlug und mit fürchterlicher Wucht auf das Hafenwasser aufprallte - Trümmerteile flogen in alle Richtungen. Dann krachte der Argonaut mit einem Wahnsinnsspeed gegen das Wrack eines anderen Rennwagens, der zuvor auf die gleiche Weise verunglückt war wie er und die angrenzende tote Zone blockierte.

Zum Aussteigen war es zu spät. Sie hatten keine Überlebenschance.

Der Argonaut kollidierte mit dem Wrack und explodierte.

Jason erwachte mit einem Schrei - durchgeschwitzt und kurz vor dem Ersticken.

Als sich sein Atem wieder etwas beruhigt hatte, erkannte er seine Umgebung wieder: Er befand sich im Gästezimmer seines Cousins in New Jersey. Der Bug lag im anderen Einzelbett und schnarchte friedlich vor sich hin.

Auf der Digitaluhr auf dem Nachttisch war es 4:44 Uhr.

Es war noch nicht Samstag.

Das dritte Rennen hatte noch nicht begonnen.

Er hatte einen Albtraum gehabt. Von der ganz üblen Sorte.

Die damit einhergehenden Emotionen aber konnte er nicht so leicht abschütteln: den unbedingten Siegeswillen, sein Bedauern, als Trouveau davonzog, die Übelkeit aufgrund der Kurvenkräfte, die allmählich einsetzende Ohnmacht und vor allem seine Angst vor dem Ellbogen.

Er mochte ihn einfach nicht - Liberty's Elbow war die härteste Kurve des ganzen Rennens, und er würde sie zwei Stunden lang einmal pro Minute durchfahren müssen.

 

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New York City, USA 

(Samstag) : Verfolgungsjagd

  

 

Das 3. Rennen des New York Masters gehörte zur Kategorie der so genannten »kollektiven Verfolgungsrennen«.

Wie in den Verfolgungsrennen, an denen Jason beim Schulturnier teilgenommen hatte, rasten auch hier die beteiligten Fahrer einen relativ kurzen Rundkurs entlang - beim 3. Rennen ging es rund um Manhattan Island, Start und Ziel lagen bei der Brooklyn Bridge. Jede Runde dauerte etwa eine Minute, was der Redensart »kürzer als eine New-York-Minute« eine ganz neue Bedeutung verlieh.

Allerdings wies der Kurs einige Hindernisse auf: Zunächst einmal waren da die Ionenwasserfälle, die von den New Yorker Brücken herabstürzten. Sie erinnerten an den Goldregen, wie man ihn von Feuerwerken her kennt: Die leuchtenden goldfarbenen Partikel der Ionenwasserfälle konnten den magnetischen und elektrischen Systemen schweren Schaden zufügen. Verfehlte man die Lücke von der Breite eines Wagens in den stetig strömenden Wasserfällen und fuhr ungewollt durch den Ionenvorhang hindurch, war der Hovercar, der an der anderen Seite herauskam, nur noch ein Schatten seiner selbst - die Magnetladung war auf null, der Stromkreislauf zusammengebrochen. Die Folge war ein fürchterlicher Crash.

Zweitens die Fleischwölfe: Der Verfolgungskurs wies zwei Gabelungen auf, bei Roosevelt Island und bei Ward's Randall's Island (eigentlich eine einzige Insel, die früher einmal zweigeteilt gewesen war, daher die beiden Namen). An beiden Gabelungen stand es den Fahrern frei, die längere, aber ungefährlichere Route nach rechts einzuschlagen.

Die linke Abzweigung hingegen war erheblich kürzer - in beiden Fällen aber beinhaltete sie eine gewaltige Stahlwand von vierzig Metern Dicke, die den Weg vollkommen blockierte. In der Mitte der Wand befand sich ein schmaler zylindrischer Tunnel. Die Wände des Tunnels - des gesamten Tunnels - öffneten und schlossen sich wie eine Iris. Wählte ein Fahrer die kürzere Strecke und wurde im sich schließenden Tunnel gefangen, konnte er zerquetscht werden, daher die Bezeichnung »Fleischwolf«. Allerdings kam es häufiger vor, dass ein verzweifelter Fahrer die kürzere Route wählte, das Öffnen des Tunnels verpasste und Zeit mit Warten vergeudete.

Zum Abschluss jeder Runde, am Ende der superlangen und superschnellen Geraden über den Hudson River, drohte Liberty's Elbow. Das war die größte Herausforderung für die Fahrer - die Schwächen des Körpers standen gegen den Wunsch zu gewinnen. Wie es Jason im Traum zugestoßen war, passierte es hin und wieder, dass Fahrer im Ellbogen ohnmächtig wurden, weil ihr Siegeswille stärker war als ihr gesunder Menschenverstand.

Außerdem gab es noch etwas, das bei diesem Rennen einzigartig war, und zwar die Fünfzehn-Sekunden-Regel.

Der Abstand eines Fahrers zum Führungswagen durfte nicht größer als 15 Sekunden werden. Fuhr der Fahrer an der Spitze unter einer Brücke durch, wurde ein Timer ausgelöst. 15 Sekunden später wechselte die Farbe der Ionenwasserfälle von Golden nach Rot - die Lücke im Wasserfall schloss sich, die Kaskade verwandelte sich in eine undurchdringliche Ionenwand. Schaffte man es nicht, den 15-Sekunden-Abstand einzuhalten, kam man buchstäblich nicht mehr weiter. Man war aus dem Rennen.

Da nur noch acht Fahrer übrig waren, veränderte sich auch das Punktesystem. Der erste Fahrer bekam in den letzten beiden Rennen nach wie vor 10 Punkte.

Der Zweitplatzierte hingegen bekam nur noch 8 Punkte, der Dritte 6, der Vierte 4, der Fünfte 2; die letzten drei Fahrer gingen leer aus. Die Fahrer, die das Ziel nicht erreichten, bekamen null Punkte.

Für Jason war die Situation klar.

Da er erst 8 Punkte hatte und 8 Punkte hinter dem Ersten zurücklag, musste er bei diesem Rennen als Erster oder Zweiter ins Ziel fahren - und war zudem darauf angewiesen, dass einige andere Fahrer entweder ein schlechtes Ergebnis erzielten oder ausschieden.

Wenn er in diesem Jahr jedoch eines gelernt hatte, dann dieses: Beim Hovercarrennen war alles möglich.

Als es am Samstag hell wurde, hatte sich Manhattan Island in ein riesiges Stadion verwandelt.

Gewaltige Menschenmassen säumten die Ufer des East River, des Harlem River und des Hudson River. Alle Köpfe waren dem Fluss zugewandt. Die New Yorker hatten alle verfügbaren Aussichtsplätze in Manhattan in Beschlag genommen. Die Menschen in den Parks, in den Gebäuden und an den größeren Straßen, die um die Insel herumführten - entlang des Henry Hudson Parkway, der West Street und des Roosevelt Drive - blickten alle aufs Wasser.

Und sie sahen:

acht summende Raketengeschosse, die im Schatten der gewaltigen Brooklyn Bridge über den Wellen des East River schwebten.

Jason und der Bug saßen zusammengekauert im Argonaut und blickten den Fluss entlang.

Fabians Marseiller Falke stand links von ihnen, und Trouveaus Vizir - inzwischen wusste Jason, dass er nach Napoleons Pferd benannt war - stand rechts.

»Alles ist möglich«, sagte Jason laut.

Jeden Moment war es so weit.

Die Lichter wurden grün und das Rennen begann.

 

 

New York City, USA 

(Samstag) 3. Rennen: Verfolgungsjagd 

Runde: 1 von 120

  

 

Acht Wagen. 120 Runden. Eine sehr kurze Strecke.

Auf Jason wirkten die drei New Yorker Flüsse wie ein einziger durchgehender Wassergraben, gesäumt von jubelnden Menschenmassen und überspannt von mehreren Brücken, von denen die prachtvoll anzusehenden goldenen Ionenwasserfälle herabstürzten.

Die erste Brücke nach der Brooklyn war die Manhattan Bridge, aber da sie so dicht bei der Brooklyn lag, wurde der Wasserfall erst in der 2. Runde in Betrieb gesetzt. Bei der nächsten Brücke hingegen, der kolossalen Williamsburg Bridge, wurde es wie bei der ersten Kurve eines jeden Rennens eng.

Der goldene Wasserfall würde mit Sicherheit aktiv sein -und wenn die acht Fahrer ihn erreichten, mussten sie sich hintereinander durch die schmale Öffnung im Vorhang aus goldfarbenen Ionen zwängen.

Der East River rauschte unter der Nase des Argonaut vorbei, während Jason Vollgas ab, sich in der Linksbiegung in die Kurve legte und auf die kleine Lücke unter der Williamsburg Bridge zuschoss.

Er sah die Brücke, sah die Lücke, sah die im Pulk dahinrasenden Wagen und dachte: Wie zum Teufel sollen wir da alle durchpassen?

In dem Moment aber, da sie die Brücke erreichten, reihten sich die acht Wagen im Reißverschlussverfahren auf und jagten - Schuumm-scbuumm-scbuumm-schuumm - durch die schmale Lücke hindurch.

Als er in der Mitte des Feldes durch die Lücke im Wasserfall schoss, bemerkte Jason, dass ein Wagen es nicht ganz geschafft hatte und unmittelbar in die Ionenkaskade hineingeschossen war.

Es war Dwayne Lewicki, der zweite Fahrer des USAF-Teams, mit seinem modifizierten F-55-Kampfjet, dem Wagen Nr. 23.

Zwei Wagenlängen hinter Jason kam Lewickis Wagen auf der anderen Seite des Wasserfalls scheinbar unversehrt zum Vorschein - doch der Schein trog.

Er hatte keinen Saft mehr.

Mit unerbittlicher Langsamkeit beschrieb der Wagen einen abwärts gerichteten Rechtsbogen und kam dann vor den Zuschauern am Ostufer in einer toten Zone unvermittelt zum Stehen - ausgeschieden.

»Noch alles offen«, sagte Jason.

Jason preschte den Kurs entlang - von der Intensität des Rennens schier überwältigt.

Es hatte keinerlei Ähnlichkeit mehr mit den Rennen der Rennschule. Hovercars zischten mit einem Affenzahn an seiner Nase vorbei. Die Fahrer rempelten sich gegenseitig an. Und die allgegenwärtigen Zuschauer schrien und brüllten beinahe so als ... als ob sie Blut sehen wollten. Irgendwie kam er sich vor wie bei einem römischen Wagenrennen.

Die beiden Renault-Fahrer Fabian und Trouveau hatten sich offenbar vorgenommen, Jason das Leben so schwer wie möglich zu machen. In der ersten - und dann auch in der zweiten und dritten - Runde setzten die beiden Franzosen Jason unablässig zu, zielten mit eiskalter Berechnung auf seinen Heckflügel und die Nase, nahmen den Argonaut mit ihren gefährlichen Frontflügeln aufs Korn.

Jedes Mal, wenn sie ihn schnitten, reagierten die New Yorker wie aus einer Kehle mit einem lauten »Buh!«.

Und jedes Mal, wenn Jason ihren Attacken entkam, jubelten sie. Er wehrte seine Gegner hartnäckig ab.

Dennoch war es nur eine Frage der Zeit, bis sie Erfolg haben würden, und in der 6. Runde passierte es dann.

Am Ellbogen schnitten die beiden Franzosen den Argonaut so brutal, dass Jason vor der Wahl stand, entweder aus der Kurve zu fliegen oder den Frontflügel zu verlieren. Er steuerte aus der Kurve hinaus -

- bremste ab -

- und sah zu, wie ihm das Feld davonraste. »Verdammt noch mal!«, schrie er. »Diese französischen Drecksäcke!«

Er gab wieder Gas und nahm die Verfolgung auf - der 15-Sekunden-Regel hinterherjagend.

Bei jeder Brücke empfing ihn nun ein riesiger digitaler Countdown, der verkündete, wie weit ihm der Führungswagen (der natürlich von Alessandro Romba gesteuert wurde) voraus war.

Jason erreichte die Start-Ziel-Linie an der Brooklyn Bridge elf Sekunden hinter Romba. Ziemlich knapp, aber okay.

Bei einem Rennen wie diesem - das dermaßen eng und dicht war - konnte man einen solchen Vorsprung nur in den Boxen oder mit Hilfe eines Unfalls aufholen.

Am Ende sollte Jason von beidem profitieren.

Die Boxenstopps waren bei einem kollektiven Verfolgungsrennen fest terminiert - damit es nicht zu zufallsbedingten Ausschlüssen kam. Bei diesem Rennen war alle 20 Runden ein Boxenstopp angesetzt.

Bei all diesen Stopps erwies sich Sally als wahres Genie. So war sie es, die Alessandro Rombas Vorsprung immer mehr schrumpfen ließ - bei einem der Stopps, die in Runde 20, 40, 60 und 80 stattfanden, machte sie volle drei Sekunden gut.

Dann wurde es allmählich spannend.

 

 

Runde: 105 von 120

 

Romba lag mit seinem silber-schwarzen Lockheed-Martin nach wie vor in Führung. Carver, der Pilot der US Air Force, fuhr mit seinem militärblauen F-55 an zweiter Position.

Dahinter kam eine Vierergruppe - unter ihnen auch Jason.

Auf dem 7. und letzten Platz lag Jasons Teamkollege Pablo Riviera.

Weil Riviera sich beim Boxenstopp in Runde 100 einen üblen Schnitzer erlaubt hatte, jagte er nun knapp innerhalb des 15-Sekunden-Abstands dem Feld hinterher.

In einem Anfall verzweifelter Tollkühnheit fuhr er deshalb in den zweiten Fleischwolf - der den größten Zeitgewinn versprach. Hätte es geklappt, wäre sein 13-Sekunden- Rückstand auf 3 Sekunden abgeschmolzen.

Doch bei seinem Manöver ließ er außer Acht - vielleicht wollte er es vor lauter Stress aber auch nicht wahrhaben -, dass man die Fleischwölfe von New York nur mit absoluter Höchstgeschwindigkeit bezwingen konnte: mit 810 km/h.

Und mit nahezu Schallgeschwindigkeit in einen engen Stahltunnel zu rasen, der die Breite einer Garagentür hat, ist noch schwieriger, als es sich anhört.

Riviera schoss mit coolen 750 km/h in den Fleischwolf hinein.

Dann begann der Tunnel sich wie eine Iris zu schließen. Die gewaltigen Metalllamellen verengten sich mit lautem Klirren. Die mechanische Riesenschlange schickte sich an, ihre Beute zu verschlingen.

In diesem Moment der Klarheit wurde Riviera bewusst, dass er es nicht schaffen würde.

Er schrie.

Quietschend und rasselnd schloss sich der rostige Fleischwolf um ihn.

Zuerst wurden die Flügelspitzen von den kreischenden Lamellen abrasiert ... dann wurden die seitlich angebrachten Drucklufttanks eingedrückt ... dann ereilte es den Heckflügel ... und dann ...

... wurden die bis zur Unkenntlichkeit zerquetschten Überreste von Rivieras F-3000 am anderen Ende des Fleischwolfs ausgespien und stürzten in den Fluss. Allein das verstärkte Sicherheitscockpit war unversehrt geblieben. Riviera hatte überlebt - und das allein aufgrund der besonders widerstandsfähigen Konstruktionsweise seines

Wagens (und dank des Umstands, dass sich der Fleischwolf nicht vollständig schloss). Mit seinem fahrerischen Können hatte es nichts zu tun.

Jetzt waren nur noch sechs Fahrer im Rennen.

 

 

New York City, USA (Samstag) 

3. Rennen: Verfolgungsjagd 

Runde: 110 von 120

   

Jetzt wurden in jeder Runde zwei getrennte Schlachten geschlagen.

Romba und Carver kämpften um die Führung.

Jason und die beiden Renault-Fahrer um den 3. Platz. Nur knapp innerhalb des 15- Sekunden-Abstands folgte ihnen mit dem Wagen Nr. 102 der Werksfahrer von General Motors, ein älterer australischer Pilot namens Mark Skaife.

Die 15-Sekunden-Regel hatte die angenehme Folge, dass das Feld dicht beisammen blieb - sodass sich jedem Fahrer irgendwann die Möglichkeit zum Angriff bot.

Und dann war es so weit.

Als zwei Dinge gleichzeitig geschahen:

Angus Carver versuchte, Alessandro Romba zu überholen, als sie in der 110. Runde an Ward's-Randall's Island entlang brausten. Carver drängte nach innen, doch Romba hielt stur seinen Kurs, und als sie an der Spitze der Insel die Linkskurve erreichten, prallten sie zusammen, trennten sich, schleuderten heftig in entgegengesetzte Richtungen und trafen beide auf die Entmagnetisierungslichter am Rand des Kurses. Zur selben Zeit jagten Fabian und Trouveau den East River entlang und nahmen Jason am linken Rand des Kurses in die Zange, sodass diesem bei Erreichen von Ward's- Randall's Island nur zwei Optionen blieben: entweder gegen die Insel zu brettern oder nach links auf den zweiten Fleischwolf zuzusteuern.

Jason lenkte nach links.

Und beschleunigte.

Gab alles, was er zu bieten hatte. Über die Fleischwölfe wusste er aus dem Fernsehen Bescheid. Jedes Jahr sagten die Kommentatoren das Gleiche: Erfolgreich durchfahren konnte man sie nur mit Höchstgeschwindigkeit.

Deshalb preschte er mit Vollgas um die Südseite von Ward's-Randall's Island herum und hielt auf die Einfahrt des zweiten Fleischwolfs zu.

Sie wirkte winzig.

Richtig winzig.

Es war, als zielte man mit einem Gewehr auf ein Schlüsselloch. Der Argonaut raste auf die winzige Öffnung zu. Die Tachoanzeige übersprang die 800-km/h-Marke ... 805 km/h ... 810 km/h ... und dann-'Wroooooom!

Der Argonaut schoss in den engen zylindrischen Tunnel hinein - und augenblicklich begann die Iris sich zu schließen. Jason beugte sich auf dem Sitz vor.

Der Bug blickte gebannt auf die sich rasend schnell verengenden Tunnelwände.

Auf einmal waren die irisartigen Wände so nah, dass die Flügelspitzen des Argonaut Funken schlugen. Jason glaubte schon, es wäre aus mit seinem Wagen, als sie auf einmal in den blendenden Sonnenschein hinausschössen und ...

... in Führung lagen.

Dabei hatten sie nur noch zehn Runden vor sich. Der Bug rief etwas.

Jason lächelte. »Ich sag Mum, dass du geflucht hast.«

Die Schakale aber waren ihnen dicht auf den Fersen.

Aufgrund ihrer Kollision war Rombas und Carvers Lage aussichtslos und sie wurden erst von Trouveau und dann von Fabian und Skaife überholt. (Romba und Carver trugen das Rennen anschließend unter sich aus und kämpften um die immer noch wichtigen 2 Punkte, die für den 5. Platz vergeben wurden, bis sie beide aufgrund der 15-Sekunden- Regel ausgeschlossen wurden - am Ende hielt Romba etwas länger durch als Carver.) Währenddessen kämpfte Jason an der Spitze gegen den Rest - nur noch zehn Runden waren zu fahren, und ihm bot sich die einmalige Chance, das Rennen zu gewinnen! Aufgeputscht vom Adrenalin, flog Jason anschließend die neun besten Runden seines Lebens.

Die beiden Franzosen konnten es einfach nicht fassen, dass er heil durch den Fleischwolf gekommen war, und griffen erbittert an.

Trouveau - der die Punkte dringender brauchte als Fabian -attackierte ihn besonders energisch, und als er in Runde 115 durch den ersten Fleischwolf raste, klebte er anschließend an Jasons Heckflügel.

Die letzten vier Runden des Rennens waren die härtesten, die Jason je erlebt hatte. Trouveau jagte ihn.

Jason aber nahm jede Kurve fehlerlos.

Das hieß, fast jede. In jeder Runde holte Trouveau an Liberty's Elbow auf. Der französische Fahrer wusste anscheinend, dass dies Jasons Schwachpunkt war - als witterte er Jasons Angst. Er wusste, dass Jason sich aus Angst vor den G-Kräften und einer Ohnmacht zurückhielt.

Als sie die letzte Runde des Rennens begannen - Runde 120 von 120 -, fuhr Trouveau gleichauf mit dem Argonaut.

Tief in seinem Herzen wusste Jason, dass Trouveau es schaffen würde. Trouveau würde ihn am Ellbogen überholen.

Den East River hinauf, auch diesmal wieder über die sichere Route. In den schmaleren Harlem River hinein, unter den Brücken hindurch - dann raus auf den Hudson, die lange, breite Gerade entlang, auf der Höchstgeschwindigkeit erreicht wurde, und dann gelangte auf einmal sie in Sicht.

Die Freiheitsstatue.

Jason schnitt eine Grimasse.

Er kannte den aktuellen Punktestand - der Bug hatte ihn berechnet, nachdem Romba und Carver aus dem Rennen gefallen waren: mit 8 Punkten als Zweiter abzuschließen würde nicht reichen, um Carver in der Gesamtwertung zu schlagen. Um das nächste Rennen zu erreichen, benötigte Jason alle 10 Punkte. Er musste gewinnen.

Sieg oder Niederlage, dachte er.

Als er den Ellbogen erreichte, stand seine Entscheidung fest.

Mit hohem Tempo hinein in den Ellbogen, wobei er fast auf der Seitenkante flog.

Und dann griff Trouveau wie erwartet an.

Diesmal aber hielt Jason die Ideallinie ein.

Trouveau reagierte überrascht.

Als die Hälfte des Ellbogens durchflogen war -

- verschwamm Jason allmählich die Sicht.

7G. . .

Noch weiter um die gewaltige Haarnadelkurve herum ... sein Gesichtsfeld verdunkelte sich.

Ich kann es schaffen ... dachte er. Ich kann es schaffen ... 8 G ...

Blinzelnd. Mit aller Macht ... darum kämpfend ... 8,5 ...

... nicht das Bewusstsein zu verlieren ...

Trouveau hatte ihn fast eingeholt, kam aber nicht vorbei.

9 G . . .

Jasons Gesicht wurde gegen den Schädelknochen gedrückt, die Wangen fielen ein, die Zähne pressten sich aufeinander, und auf einmal durchzuckte ihn die Erkenntnis: Ja! - Diesmal würde er es schaffen ...

Dann wurde er ohnmächtig.

 

 

New York City, USA 

(Samstag) 3. Rennen: Verfolgungsjagd 

Runde: 120 von 120

  

 

Jason kam zu sich -

- aufgeweckt vom Jubel der Zuschauer und von einem Klopfen. Jemand hämmerte auf seinen Helm.

Es war der Bug.

Die Zuschauer skandierten etwas, das sich anhörte wie: »Hoch lebe der Buuuuug!

Hoch lebe der Buuuuug!«

Jason saß im Argonaut, der sich jedoch nicht mehr bewegte - er schwebte über den Wellen des East River in einer toten Zone, ein ganzes Stück hinter der Ziellinie.

Jason blickte sich verwundert um - er konnte sich nicht mehr erinnern, wie er von Liberty's Elbow zur Ziellinie gelangt war.

Dann sah er auf einem riesigen Bildschirm am Flussufer die Wiederholung des Zieleinlaufs: Der Argonaut schoss aus dem Ellbogen hervor, richtete sich vor dem Vizir horizontal aus und raste an der Aufnahmekamera vorbei.

Wer sich da in prachtvoller Zeitlupe von hinten über Jason vorbeugte, das Steuer des Argonaut packte und den Wagen über die letzten paar hundert Meter lenkte, war der einzige Student der Internationalen Rennschule, der je eine 9-G-Kurve bei vollem Bewusstsein überstanden hatte.

Der Bug.

Nicht nur das, der Argonaut hatte die Geschwindigkeit aus der Kurve beibehalten (trotz seiner Ohnmacht hatte Jason offenbar weiterhin Gas gegeben) und mit dem Bug am Steuer vor Trouveau die Brooklyn Bridge erreicht!

Der Argonaut hatte das verdammte Rennen gewonnen, obwohl der Fahrer bewusstlos gewesen war und der Navigator das Steuer übernommen hatte!

Der Bug grinste breit. Und berichtete Jason, was geschehen war.

»Ich habe was getan?«, sagte Jason. »Ich habe vollen Schub gegeben, obwohl ich ohnmächtig war?«

Der Bug nickte und machte noch eine Bemerkung.

»Das kannst du laut sagen«, erwiderte Jason. »Ich wollte das Rennen unbedingt gewinnen.«

Die Punkte wurden augenblicklich angezeigt. 10 Punkte für Jason. 8 für Trouveau.

6 für Fabian, der den 3. Platz auf die leichte Schulter nahm.

4 für den Australier Skaife - eine gute Leistung, aber nicht gut genug, um ihn in die letzte Runde zu bringen.

Schlappe 2 Punkte für Alessandro Romba, der den 5. Platz belegte; Carver, der Pilot der US Air Force, ging auf dem 6. Platz leer aus.

Da die beiden Piloten der USAF punktlos geblieben waren und in der Gesamtwertung kläglich abschnitten, hatte sich die Rangliste grundlegend verändert:

 

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Angus Carver, der zuvor mit 17 Punkten geführt hatte, war ausgeschlossen worden, während Fabian - der gerissene Fabian - beachtliche 6 Punkte abgeräumt hatte und mit 22 Punkten in der Gesamtwertung auf dem ersten Platz gelandet war, drei Punkte vor dem nächsten Rivalen, seinem Teamkollegen Etienne Trouveau.

Am erstaunlichsten aber war, dass Jason mit seinen 10 Siegpunkten drei Fahrer übersprungen hatte. Der Bug hatte recht gehabt: Die letzte Kurve hatte den Ausschlag geben; 8 Punkte hätten nicht gereicht.

Jason konnte es nicht fassen.

Die Zuschauer konnten es nicht fassen.

Die Kommentatoren konnten es nicht fassen.

Einzig und allein dem Bug war es zu verdanken, dass der Argonaut den vierten Platz belegte und somit das Finale des New York Masters erreicht hatte.

 

 

New York City, USA 

(Samstagabend)

  

 

Am Abend wurde es still im Haus von Jasons Cousins in New Jersey.

Nachdem das Team Argonaut beim Verfolgungsrennen den Sieg davongetragen hatte, hätte man eigentlich eine rauschende Siegesfeier mit knallenden Champagnerkorken und spritzenden Getränkedosen erwarten sollen.

Doch dazu kam es nicht.

Allen war auf einmal die Bedeutung des Erreichten ins Bewusstsein gedrungen: die gewaltige Leistung, die das Team Argonaut in dieser Woche vollbracht hatte. Nach drei ultraharten Profirennen würden Jason, der Bug und Sally morgen an der vielleicht prestigeträchtigsten und auch gefährlichsten Veranstaltung teilnehmen, die der Rennsport zu bieten hatte.

Alle saßen in nachdenklichem Schweigen um den Esstisch herum: Jason, der Bug, Henry und Martha Chaser, die beiden Cousins, Sally McDuff mitsamt Familie sowie Ariel Piper.

Die Stille - verbissen vor Besorgnis, Angst und Ehrfurcht -war geradezu ohrenbetäubend.

Der Einzige, der sich von der Atmosphäre nicht anstecken ließ, war Scott Syracuse, doch er kannte schließlich den Profirennbetrieb und war den Erwartungsdruck gewohnt.

»Wissen Sie«, brach Syracuse das unbehagliche Schweigen, »die anderen Fahrer sind auch nur Menschen.«

Die Anwesenden hielten den Blick weiterhin gesenkt, nur Jason schaute zu seinem Lehrer auf.

Syracuse zuckte die Schultern. »Die Leute glauben, Fabian und Romba wären Übermenschen. Männer aus Stahl. Tollkühne Champions, die mit astronomischer Geschwindigkeit umherfliegen, ohne dass sich ihre Nerven bemerkbar machen. Aber sie sind keine Superhelden. O nein, ganz bestimmt nicht. Sie sind ganz normale Menschen wie Sie und ich, mit Ängsten, Stärken und Schwächen.

Deshalb lieben wir ja die Sportler - angefangen von Tiger Woods bis Donald Bradman und Muhammad Ali - sie halten einem Druck stand, den die meisten Menschen sich nicht einmal vorstellen können. Sie stehen auf dem Golfkurs, in einem Stadion oder Boxring, werden von hunderttausenden Zuschauern beobachtet und kriegen trotzdem keine weichen Knie. Und dann bleiben sie stehen und tun das, was sie so lange geübt haben, und machen ihre Sache obendrein auch noch gut.

Deshalb verehren wir sie. Wir glauben, wir selbst würden an ihrer Stelle versagen, sie aber halten stand. Das heißt freilich nicht, dass sie keine Angst haben.

Jason, Bug, Sally. Als Ihr Lehrer habe ich Ihre Entwicklung während des vergangenen Jahres mitverfolgt; ich habe miterlebt, wie Sie sich von blauäugigen Hoffnungsträgern ... zu Rennfahrern entwickelt haben. Als Sie bei mir angefangen haben, waren Sie gut. Jetzt sind Sie hervorragend.

Großartig im Hinblick auf Ihre jeweiligen Aufgabengebiete und ein großartiges Team - weil Sie zum Unterricht erschienen sind, obwohl Sie todmüde waren; weil Sie wie Pech und Schwefel zusammengehalten und manuelle Boxenstopps geübt haben; weil Sie den Wagen über die Ziellinie geschoben haben; weil der Bug das Steuer übernommen hat, als es nötig war.

Jetzt sind Sie Rennfahrer. Und glauben Sie mir, Sie sind gut vorbereitet. Sie mögen daran zweifeln, aber vertrauen Sie auf mein Urteil: Sie sind bereit, sich vor die ganze Welt hinzustellen, ohne dass Ihre Knie anfangen zu flattern.

Sie haben Ihre Hausaufgaben gemacht, Sie verfügen über die erforderlichen

Fertigkeiten, und Sie wollen unbedingt siegen. Jetzt ist es an der Zeit, das zu tun, weswegen Sie hergekommen sind, nämlich das Masters zu gewinnen.«

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New York City, USA 

(Samstag)

  

»Hast du's, Mum?«, fragte Jason, als sie am Morgen des vierten und letzten Mastersrennens die Boxengasse auf der Sixth Avenue erreichten.

Martha Chaser ließ ihn einen Blick in die geöffnete Geldbörse werfen, und tatsächlich, da war die »Trophäe« für die Trophäenjagd.

Der Rennmodus einer Trophäenjagd ist ganz einfach: Alle Fahrer starten von der Start-Ziel-Linie zu einem fernen Punkt, wo sie die vorher festgelegte Trophäe an sich nehmen - das kann alles Mögliche sein, doch zumeist wählen die Fahrer einen Gegenstand aus, der eine besondere Bedeutung für sie hat, etwa eine Medaille, die sie irgendwann gewonnen haben, oder ihre Nationalflagge.

Der erste Fahrer, der mit der Trophäe anschließend die Start-Ziel-Linie überfährt, hat gewonnen. Das Schwierige ist der Kurs - und der hatte es beim Masters' Quest besonders in sich.

Jasons Mutter hatte eine sehr passende Trophäe für das 4. Rennen ausgesucht.

»Ich glaube, das müssen wir bei der Rennleitung abgeben«, meinte Jason.

Als sie die Box betraten, reichte er den Gegenstand einem der Offiziellen, die die Trophäen aller vier Fahrer zum am weitesten entfernten Punkt des Kurses schaffen würden.

Der Argonaut stand glänzend, funkelnd und wartend in der Box. Es war, als besäße der kleine blau-weiß-silbern lackierte Wagen ein Eigenleben und stampfe in Erwartung der heutigen Herausforderung unruhig mit den Hufen.

Jason betrachtete seinen Wagen voller Stolz und dachte an all das, was sie bereits miteinander durchgestanden hatten -angefangen von der Regionalmeisterschaft in den Sümpfen von Carpenteria bis zu seiner heldenhaften Leistung an der Rennschule: das mörderische Turnier, bei dem er im Finalrennen die Kollidierenden Eisberge überwunden hatte, und zuletzt seine New Yorker Triumphe.

Er tätschelte den linken Flügel des Argonaut.

»Tja, Wagen«, sagte er, »jetzt ist es wieder so weit. Noch ein Rennen, um mehr bitte ich dich nicht. Noch ein Rennen. Packen wir's.«

Damit wandte er sich ab und machte sich fertig fürs Rennen.

Die stecknadelkopfgroße Sprengladung am Heckflügel seines geliebten Argonaut hatte er übersehen.

Sie war im Laufe der Nacht von geschickter Hand angebracht worden ... von einer Person, die das Bewachungspersonal bestochen hatte, um freien Zugang zu den Boxen zu erhalten ... von derselben Person, die schon einmal eine ganz ähnliche Sprengladung am Argonaut angebracht hatte.

 

 

New York City, USA 

(Samstag) 4. Rennen: Die Trophäenjagd 

Abschnitt: Hinweg

  

 

Die vier Rennwagen standen startbereit auf der Fifth Avenue, alle nach Norden ausgerichtet.

Alessandro Romba - in seinem silber-schwarzen Lockheed-Martin.

Fabian und Etienne Trouveau in ihren purpurrot und goldfarben lackierten Renaults. Und Jason - im Argonaut. Darauf also lief es hinaus. Vier Konkurrenten.

Alle in der Gesamtwertung nicht mehr als 4 Punkte auseinander.

Romba, Trouveau und Jason mussten beim 4. Rennen siegen - und den einen oder anderen höher Platzierten von seinem Rang verdrängen -, um das Masters zu gewinnen.

Fabian hingegen - der drei Punkte vor dem nächsten Rivalen lag - konnte auch mit dem 2. Platz und den damit einhergehenden 8 Punkten den Titel erringen.

Der Kurs der Trophäenjagd war lang und anspruchsvoll - er führte die Fahrer durch den ganzen Bundesstaat New York hindurch bis zu den Niagarafällen an der kanadischen Grenze. Dort würden die Fahrer auf einer hoch über den Wasserfällen schwebenden Plattform die Trophäen an sich nehmen und anschließend den Rückweg nach Manhattan antreten.

Trotz des hohen Schwierigkeitsgrads war die Route auf ihre Art doch auch außergewöhnlich reizvoll.

Denn das Hauptmerkmal des Kurses war ein superlanger unterirdischer Highway: der »Endlose Tunnel«. Vor der Erfindung der Hovercars hatte die US-Regierung den Bau eines unterirdischen Superhighways begonnen, der von der kanadischen Grenze bis nach Florida führen sollte und Superhigh way 2 genannt wurde.

Dann aber kamen die Hovercars, und das Projekt wurde eingestellt: Der Abschnitt durch den Staat New York allerdings war bereits fertiggestellt - wenn auch nur notdürftig.

Jetzt gab es ein Netzwerk achteckiger, roh behauener Tunnel, die durch alle möglichen unterirdischen Umgebungen führten - durch stillgelegte Bergwerke und Höhlen, über unterirdische Flüsse und an Wasserfällen vorbei. Beim Bau des Highways hatte man die inzwischen berühmten Zwillingshöhlen entdeckt, die größten Höhlen der Welt. Natürlich war der Endlose Tunnel mit kleinen Ionenwasserfällen ausgestattet, die die Breite des Tunnels halbierten. Außerdem gab es noch schmale Brücken, die unterirdische Schluchten und Flüsse überspannten, und zahlreiche Sackgassen: Die Navigatoren bekamen eine Karte der Tunnelsysteme ausgehändigt und spielten bei dem Rennen eine entscheidende Rolle.

Jason saß im Cockpit und musterte die von Wolkenkratzern und Tribünen gesäumte Straßenschlucht, die sich vor ihm erstreckte.

»Du wirst keine weichen Knie kriegen«, sagte er zu sich selbst. Der Bug hatte ihn nicht verstanden und wollte wissen, was Jason gesagt hatte.

»Nichts, kleiner Bruder. Nichts.«

Die Zuschauer raunten - würde Alessandro Roma das Rennen gewinnen und damit den Grand Slam vollenden? Oder würde einer der beiden Franzosen siegen? Oder vielleicht sogar Jason, der junge Außenseiter?

Jasons Eltern schauten von der Tribüne an der Start-Ziel-Linie aus zu. Bei ihnen saßen Umberto Lombardi, Scott Syracuse, der McDuff-Clan und Ariel Piper. Henry Chaser war so aufgeregt, dass es ihn kaum noch auf dem Sitz hielt.

Dann auf einmal ertönte ein lauter Signalton: In drei Sekunden war es so weit.

Rot-

Gelb-

Grün-

Los!

Die Umgebung verwischte.

Jason legte ein Höllentempo vor und trieb den Argonaut mehr als je zuvor.

Während die Rennfahrer über die Interstate 87 nach Norden rasten, machten die Wolkenkratzer erst Brücken, dann Häusern und schließlich der weiten Landschaft Platz. Jeder freie Flecken Erde war von Zuschauern in Beschlag genommen.

Dann gelangten bewaldete Hügel, Brücken, Flüsse und -allzu früh - auch die Catskill Mountains in Sicht. An ihrem Fuß lag der Eingang zum berüchtigten Endlosen Tunnel. Romba lag wie üblich in Führung, während Jason und die beiden Renaults ständig die Plätze tauschten, sich gegenseitig überholten und um den 2. Platz kämpften - derweil die beiden französischen Fahrer Jasons Flanken mit ihren messerscharfen Frontflügeln bedrohten.

Auf einmal sah Jason den Eingang des Tunnels.

Es war ein Torbogen aus massivem Beton, dahinter lag gähnende Dunkelheit. Die Öffnung war gesäumt von einem Meer jubelnder Zuschauer.

Schuum!

Jason raste in die Dunkelheit hinein.

Gewölbte Betonsäulen zischten mit rasender, sinnverwirrender Geschwindigkeit vorbei. Eigentlich waren es weniger Säulen als vielmehr »Rippen« - die Rippen des achteckigen Tunnels.

Wie Raketen schössen die vier Wagen durch den gewundenen Tunnel, legten sich rasant in die Kurven und richteten sich auf den Geraden wieder horizontal aus.

Romba - Jason - Fabian - Trouveau.

An manchen Stellen wurde die Breite des Tunnels von Ionenwasserfällen halbiert. Um die golden funkelnden Vorhänge zu durchfahren, mussten sich die Wagen hintereinander anordnen - und anschließend bisweilen abrupt nach rechts oder links schwenken, wenn sich ein zweiter oder sogar dritter Ionenwasserfall anschloss, und zwar auf der anderen Seite der Fahrbahn.

Dann gelangte Jason zu einer superlangen Brücke natürlichen Ursprungs, die eine unterirdische Schlucht überspannte. Beiderseits der geländerlosen Brücke lag bodenlose Schwärze. Doch bevor er den prachtvollen Anblick auf sich wirken lassen konnte, tauchte er auch schon wieder in das klaustrophobische Tunnelsystem ein.

In der Ferne zeigte sich eine Gabelung.

Eine Zeit lang folgten alle Alessandro Romba - im Vertrauen auf das Orientierungsvermögen seines Navigators -, doch dann setzte Romba sich ab, und auf einmal musste der Bug ansagen, wohin Jason zu steuern hatte.

Jedoch nicht lange.

Fabian - fest entschlossen, den zweiten Platz zu halten und sich den Sieg im Masters zu sichern - griff Jason mit Trouveaus Unterstützung an.

Der Argonaut raste um eine Kurve, wich einem Ionenwasserfall aus, dann - Wromm! - schoss er in eine gewaltige Höhle hinein, die erste der beiden Zwillingshöhlen, genannt die Kleine Höhle.

Aus Spalten an der Seite der gewaltigen Höhle ergossen sich fantastische Wasserfälle, stürzten 250 Meter in die Tiefe auf eine abgestufte Felswand hinab und verschwanden dann in der Dunkelheit. Von den Tribünen, die die Höhlenwände säumten, hallten mächtig die Sprechchöre der Zuschauer wider.

Eine weit geschwungene S-förmige Brücke schlängelte sich an den Wasserfällen vorbei - und verschwand an einigen Stellen sogar hinter den herabstürzenden Wassermassen. Die Hovercars auf der Brücke wirkten winzig in der ungeheuren Weite des Raums.

Hier versuchten die beiden Renaults, Jason endgültig aus dem Rennen zu werfen.

Die geschwungene Brücke war so breit, dass drei Wagen nebeneinanderpassten, doch am Ende verjüngte sie sich zu einem Tunnel von doppelter Wagenbreite.

Die beiden Renaults tauchten direkt rechts und links vom Argonaut auf.

Jason machte einen Schlenker nach links, dann einen nach rechts. Sah Fabian zur Linken, Trouveau zur Rechten - beide so nah, dass er sie fast berühren konnte.

Ein Renault-Sandwich.

»O je«, stöhnte Jason.

Die Renaults hatten ihn, wo sie ihn haben wollten - mit der gleichen Technik hatten sie schon häufiger ihre Rivalen ausgeschaltet. Fabian brauchte Jason nur noch gegen Trouveaus gefährlichen Frontflügel zu drücken.

Fabian begann Jason zu rammen, drängte ihn immer weiter nach rechts ...

... Trouveaus funkelndem Frontflügel entgegen.

Jason erwiderte Fabians Rammstöße und wehrte sich - mit nervösem Blick auf die ihm entgegen rasende Tunnelöffnung.

Dann kam auch Trouveau ganz dicht heran, der furchteinflößende Frontflügel nur noch Zentimeter vom Argonaut entfernt.

Jason schwenkte den Kopf nach links und nach rechts. Es gab keine Ausweichmöglichkeit. Er wurde gegen Trouveaus Klingen gedrückt und konnte nichts dagegen tun.

Jeden Moment würden sie ihn erwischen ... Jetzt...

Fabian versetzte ihm einen letzten Stoß. Und das war's.

 

 

4. Rennen: Die Trophäenjagd 

Abschnitt: Der Endlose Tunnel (Hinweg)

  

 

Als Fabian ihm gerade den Todesstoß versetzen wollte, tat Jason etwas total Unerwartetes. Er trat auf die Bremse.

Das Heck des Argonaut stieg in die Luft, und die Folgen des Manövers waren ebenso spektakulär wie überraschend.

Fabian - der zuvor mit aller Kraft gegen den Argonaut gedrückt hatte - stieß auf einmal ins Leere, sodass sein Wagen einen Satz nach vorn machte. Ehe er sich's versah, rasierte sein scharfer Frontflügel Trouveaus Flügel ab!

Trouveau fielen schier die Augen aus dem Kopf, als er mit ansah, wie sein Frontflügel abfiel - worauf er die Kontrolle über den Wagen verlor. Der Vizir schwenkte nach rechts und raste gefährlich dicht am Rand der geschwungenen Brücke und dem tiefen Abgrund entlang. Dann prallte er mit fürchterlicher Wucht gegen den senkrechten Betonrahmen der Tunnelmündung am Ende der riesigen Höhle.

Blech prallte auf Stein.

Mit 700 km/h.

Der Vizir explodierte in einem Feuerball.

Die Explosion hallte dröhnend in der Höhle wider. Die Zuschauer sprangen entsetzt von den Sitzen. Trouveau und sein Navigator entfernten sich schließlich zu Fuß von der Unfallstelle, benommen und lädiert. Dank des verstärkten Cockpits und der

Sicherheitssysteme hatten sie überlebt. Der Vizir hingegen würde nie wieder an einem Rennen teilnehmen.

Die Trümmerteile blockierten die rechte Hälfte der Tunneleinfahrt.

Jason hatte nach wie vor ein Mordstempo drauf - das kurze Bremsmanöver hatte ihn nur unwesentlich verlangsamt, weshalb er gegenüber Fabian kaum an Boden verloren hatte -, und beide Wagen schössen hintereinander am Wrack des Vizir vorbei und verschwanden im Tunnel am Ende der Kleinen Höhle.

Der Tunnel beschrieb einen sehr weiten Rechtsbogen - wobei die Fahrer aufgrund der auftretenden Beschleunigungskräfte einer ebenso harten Belastungsprobe unterzogen wurden wie im Ellbogen - und mündete dann in die zweite Zwillingshöhle.

Das war die Große Höhle.

Und sie ließ die Kleine Höhle winzig erscheinen.

Es war der größte unterirdische Hohlraum der Welt und erst wenige Jahre zuvor entdeckt worden. Der Anblick der Höhle verschlug einem den Atem. Aus großer Höhe herabstürzende Wasserfälle und wolkenkratzerhohe Felsspitzen reihten sich in der lang gestreckten Höhle aneinander. Prachtvolle Aquädukte natürlichen Ursprungs verbanden einige der Felsspitzen miteinander, das an ihnen herunterfließende Wasser ergoss sich an den Enden der Aquädukte in die Dunkelheit.

Eine sanft abfallende Felsbrücke führte durch die ganze gewaltige Höhle, an einigen Stellen durchbrochen von schmalen Wasserfällen, die sich im Laufe der Zeit durch den Rand der Brücke hindurchgefressen hatten. Darüber preschten die Fahrer hinweg und schlängelten sich an den schmalen, aber kraftvollen Wasserströmen vorbei.

Romba fuhr noch immer an der Spitze, dahinter kamen Fabian und Jason.

Unter dem Jubel der Zuschauer auf den Tribünen schössen die drei noch im Rennen befindlichen Fahrer die Felsenpiste entlang und verschwanden im letzten Abschnitt des Endlosen Tunnels - der an den Niagarafällen endete.

Die Niagarafälle.

Der Anblick: atemberaubend. Das Tosen: ohrenbetäubend. Die riesigen Menschenmassen, die die berühmtesten Wasserfälle der Welt säumten: wogend vor gespannter Erwartung.

Die Zuschauer blickten gebannt auf die röhrenförmige Tunnelausfahrt am Fuß der Wasserfälle, neugierig, welcher Fahrer als Erster zum Vorschein kommen würde. Alessandro Romba.

Die Zuschauer gerieten außer sich.

Fabian schoss als Nächster heraus, dann folgte Jason.

Die drei Wagen legten sich sogleich in die Kurve und jagten den Hügel auf der amerikanischen Seite der Wasserfälle hinauf, dann hielten sie am landwärtigen Ende der langen, schmalen Fußgängerbrücke ohne Geländer, die unmittelbar vor dem in die Tiefe stürzenden Wasser über den Fluss hinausragte.

Jason sprang aus dem Argonaut und rannte zu Fuß hinter Romba und Fabian her über die schmale Brücke.

Auf einer Plattform am Ende der Brücke befanden sich vier Podeste, und auf jedem Podest lag eine Renntrophäe.

Rombas Trophäe war eine italienische Fahne. Er nahm sie an sich, machte kehrt und lief zu seinem Wagen zurück ... um den Rückweg anzutreten.

Fabians Trophäe war typisch für ihn: ein gerahmtes Foto von ihm selbst, wie er neben dem Marseiller Falken stand. Er schnappte es sich und rannte zurück zum Wagen, wobei er Jason auf der schmalen Brücke anrempelte.

Als Letzter erreichte Jason sein Podium.

Er nahm die Trophäe an sich, die seine Mutter gemacht hatte.

Sie funkelte im Sonnenschein wie ein Schatz, geschmückt mit einem Regenbogen, der sich in der Gischt der Wasserfälle gebildet hatte.

Ein kleines Stück weicher Wolle.

Golden bemalt.

Ein goldenes Vlies.

Wie sein klassischer Namensvetter nahm Jason das Vlies an sich, machte eilig kehrt und rannte, so schnell er konnte, zu seinem Gefährt. Dann begann die nervenaufreibendste Stunde Autorennen, die er in seinem kurzen Leben bislang miterlebt hatte.

4. Rennen: Die Trophaenjagd 

Abschnitt: Der Endlose Tunnel (Rückweg)

   

 

Jason sprang ins Cockpit des Argonaut und gab Gas.

Der kleine Ferrari startete mit dröhnenden Triebwerken, beschrieb über den Niagarafällen einen weiten Bogen, senkte sich dann auf die Straße an deren Fuß hinab, schwenkte hinaus auf den Fluss und schoss wie eine Patronenkugel wieder in den Endlosen Tunnel.

Hinein in die Dunkelheit.

Dem Ziel entgegen.

Mit brüllenden Triebwerken angreifend, jagend, kämpfend.

Jason trieb den Argonaut durch die verzweigten Gänge des Endlosen Tunnels, schwenkte nach links, steuerte nach rechts, raste mit Romba und Fabian um die Wette dem Ziel entgegen.

Nicht weit vor ihm leuchteten Fabians rote Heckleuchten -als auf einmal eine Stimme in Jasons Kopfhörer ertönte, eine Stimme mit französischem Akzent, die eigentlich nicht hätte zu ihm durchkommen dürfen.

»Du kannst unmöglich gewinnen, Kleiner.«

Fabian!

Offenbar hatte er Jasons Funkfrequenz entdeckt und wollte ihn nun, in der entscheidenden Phase des Rennens, verhöhnen. Das war zwar unfair, streng genommen aber nicht illegal.

»Warum versuchst du es überhaupt?«, fragte Fabian. »Für ein Kind hast du deine Sache bislang doch gut gemacht. Warum überlässt du den Rest des Rennens nicht den Männern?« Jason starrte auf die Heckleuchten des Franzosen.

»Ich bin an dir dran, Fabian ...«, sagte er entschlossen. Und so war es auch.

Während sie durch die dunklen Felsentunnel rasten, holte er stetig auf, bis sich der Argonaut schließlich beim Erreichen der Großen Höhle rechts neben den Marseiller Falken setzte.

Fabian bemerkte Jason und runzelte die Stirn - »Kuckuck!«, sagte Jason.

Fabian antwortete, indem er ihn rammte.

Jason aber wich geschickt aus und dämpfte den Stoß.

Das machte den Franzosen noch wütender, und als sie über die lange Rampe der Großen Höhle schössen, rammte der Franzose erneut den Argonaut.

Jason aber zeigte sich der Herausforderung gewachsen und hielt Kurs, sodass beide Wagen Seite an Seite die Brücke entlangschossen und in die weit geschwungene Linkskurve des Tunnels hineinrasten, der die Große mit der Kleinen Höhle verband. Sie legten sich in die Kurve.

Gaben alles.

Mit Maximalspeed.

Fabian an der Innenseite, Jason an der Außenseite, beide Wagen sozusagen in vollem Galopp, frästen sich durch das Gewebe der Luft.

Und dann erblickte Jason einen flüchtigen Moment lang Fabians Augen hinter dem Helmvisier und sah, dass sein Gegner ihn höhnisch und hasserfüllt anfunkelte.

»Ich krieg dich schon noch, du kleiner Scheißer!«

»Heute nicht«, erwiderte Jason.

» Und warum nicht?«

»Weil ich mich an etwas erinnere, was du vergessen hast«, sagte Jason.

In diesem Moment bogen sie exakt gleichauf um den letzten Kurvenabschnitt - Fabian links, Jason rechts -, und das, woran Jason sich erinnerte, lag auf einmal vor ihnen. Etienne Trouveaus Autowrack.

Es lag noch immer an der Tunneleinfahrt - die jetzt die Ausfahrt war - und blockierte die linke Seite der Piste. Fabians Seite.

Fabian sah den Trümmerhaufen zu spät - seine Augen weiteten sich vor entsetztem Staunen, als ihm klar wurde, dass Jason ihn absichtlich auf die Seite gelockt hatte, die vom Autowrack seines Teamkollegen blockiert wurde.

Fabian schrie.

Dann schlang er schützend die Arme um den Kopf, und der Marseiller Falke raste mitten durch die Überreste des Vizir hindurch, sodass Trümmerteile beider Renaults sternförmig in alle Richtungen flogen - während der Argonaut völlig unbeschadet am Doppelwrack vorbeischoss.

Das verstärkte Cockpit überstand den Durchstoß des Vizir -was zu Fabians Leidwesen nicht für Seiten-, Front- und Heckflügel galt.

Die verbeulten Überreste beider Wagen stürzten von der s-förmig geschwungenen Brücke in der Kleinen Höhle und segelten hinab in die Schwärze ...

... wo sie, vielleicht eher unverdientermaßen, von einer Sicherheitszone aufgefangen wurden. Für Fabian war das Rennen gelaufen.

Überflüssig, anzumerken, dass der Unfall für das Rennen und das ganze Masters elektrisierende Folgen hatte.

Fabian war soeben aus dem Rennen ausgeschieden - das hieß, er würde auch keine Punkte bekommen.

Also wurde das Masters nun zwischen den beiden letzten Fahrern auf der Piste ausgetragen: Alessandro Romba und Jason Chaser.

Jetzt, da die beiden Renaults endgültig ausgeschaltet waren und er auf einer gewaltigen Adrenalinwoge dahinflog, fasste Jason die Heckleuchten von Alessandro Romba in den Blick. Romba la Bomba.

Der weltweit beste Fahrer, der Mann, der als Erster den Grand Slam komplettieren wollte, der Mann, der im ganzen Jahr noch nicht einmal überholt worden war.

Bis heute, dachte Jason.

Ein Zweierrennen.

Romba der Gejagte.

Jason der Jäger.

Und er jagte seinen Gegner mit aller Macht. Durch die Kleine Höhle hindurch, dann in das Tunnellabyrinth hinein.

Romba drückte mächtig auf die Tube. Jason fuhr makellos.

Und so holte er auf dem zwanzigminütigen Abschnitt gegenüber der Nummer eins stückweise auf, bis Romba nur noch mit einer Wagenlänge Abstand vor ihm fuhr -

- als sie auf einmal aus dem Tunnel hinausschössen.

Jetzt befanden sie sich auf der Interstate, die sich zwischen Wäldern und Hügeln hindurchschlängelte - Jason klebte an Rombas Heck und machte dem Weltmeister das Leben schwer.

Dann griff Jason an und versuchte, Romba an der linken Innenseite zu überholen. Romba wehrte ihn ab - regelgerecht und mühelos.

Jason versuchte es erneut, diesmal auf der rechten Seite.

Romba blockierte ihn auch diesmal wieder.

Jason ließ nicht locker und suchte hartnäckig nach einer Lücke, ohne sich vom Champion einschüchtern zu lassen.

Dann griff Jason wieder einmal links an - Romba lenkte in die gleiche Richtung -, doch diesmal handelte es sich um ein Täuschungsmanöver. Jason machte plötzlich einen Schlenker nach rechts ...

... und zog an Romba vorbei, während der Italiener zu weit nach links schwenkte!

Den Zuschauern stockte der Atem.

Dann brüllten sie vor Entzücken, begeistert von Jasons Geschicklichkeit.

Jason war nicht aufgrund eines Unfalls, durch pures Glück oder mit einem unfairen Manöver an Romba vorbeigekommen.

Sondern allein aufgrund seiner Fahrkünste.

Ganze zehn Minuten vor dem Ende des New York Masters lag Jason auf einmal in Führung.

In der Ferne tauchte die Skyline von New York auf.

Die Interstate entlang zischend, sah Jason die in den Himmel ragenden Wolkenkratzer. Er gab Vollgas und verdrängte alle Gedanken daran, dass er in Führung lag, das Rennen anführte und im Begriff stand, seinen größten Wunsch wahr zu machen.

Denk nicht an den Sieg!, schärfte er sich ein. Nicht leichtsinnig werden!

Das Rennen war noch lange nicht gewonnen.

Er durfte keine Sekunde in seiner Konzentration nachlassen.

Und auf den letzten Kilometern vor Manhattan baute er die Führung tatsächlich noch weiter aus, fuhr erst eine und dann mehrere Wagenlängen vor dem Italiener her.

Dann ging es über die Broadway Bridge an der Spitze von Manhattan Island, und auf einmal befand er sich wieder in der Stadt mit dem Labyrinth rechtwinklig angeordneter Straßen.

Die Zuschauer bejubelten lautstark jede Kurve, die er nahm.

Romba lag inzwischen siebzig Meter hinter ihm.

Als er auf die Fifth Avenue schwenkte und sich klarmachte, dass keine weiteren Kurven mehr vor ihm lagen - dass dies das Ende war - dass er es geschafft hatte -, erlaubte Jason sich den Anflug eines Lächelns.

Er hatte es geschafft ...

Eine Gestalt in der Zuschauermenge beobachtete, wie Jason über die Fifth Avenue auf die Ziellinie zuraste. Sie drückte einen Knopf an einer Fernsteuerung und zündete die stecknadelkopfgroße Sprengladung am Heckflügel des Argonaut.

Zum zweiten Mal in diesem Jahr - und zum zweiten Mal bei einem Grand-Slam-Rennen - explodierte spontan der Heckflügel des Argonaut.

Nein!, dachte Jason. Nicht auf der Zielgeraden!

Die Zeit reichte gerade noch aus, eine Warnung zu rufen: »Festhalten, Bug!«

Jetzt, da der Heckflügel verschwunden war, senkte der Argonaut augenblicklich die Nase und pflügte mit wahnwitzigen 790 km/h in den Straßenbelag der Fifth Avenue. Funken stoben auf.

Der Frontflügel des Argonaut löste sich und wurde fortgeschleudert, Trümmerteile wirbelten im Fahrtwind davon, die Flügel prallten aufs Pflaster und rissen ab.

Der kleine, ramponierte Argonaut rutschte seitlich über den Asphalt und kam quälende zweihundert Meter vor der Ziellinie mitten auf der Fifth Avenue zum Stehen, dann kippte er schwerfällig auf die Seite. Das Cockpit wies zur Ziellinie.

Jason verrenkte sich den Kopf und erblickte die um neunzig Grad gekippte Ziellinie - so nah und doch so fern.

»Bug! Alles okay bei dir?«

Der Bug sagte etwas.

Blitzschnell wog Jason die verschiedenen Möglichkeiten gegeneinander ab.

Er wusste, dass Romba dicht hinter ihm war - dem Triebwerkslärm nach zu schließen hatte er ihn fast erreicht -, zu nah, um die Ziellinie wie der Bug beim Schulrennen noch rechtzeitig zu Fuß zu erreichen.

»Verdammt noch mal!«, rief er. »Ich will das Rennen nicht verlieren!«

Als er spürte, dass Romba den bewegungslos daliegenden Argonaut erreicht hatte, kam ihm plötzlich eine Idee. Jason drückte sich das goldene Vlies auf den Schoß, löste das mit einem Sender ausgestattete Lenkrad und tat das Einzige, was er noch tun konnte, um das Rennen zu gewinnen.

Er betätigte den Schleudersitz.

 

 

4. Rennen: Die Trophäenjagd 

Abschnitt: Fifth Avenue (Zielgerade)

 

Dieses Bild würde kein Rennfan jemals vergessen.

Alessandro Rombas schwarzer Lockheed preschte gerade am Wrack des Argonaut vorbei - als auf einmal -Schuuuuuum! - Jason auf dem Schleudersitz aus dem Schrotthaufen hervorschoss, mit dem Kopf voran wie eine menschliche Kanonenkugel kaum einen halben Meter über das Pflaster der Fifth Avenue hinwegraste ...

... Romba im Flug überholte ...

... und dreißig Zentimeter vor dem geschockten Italiener die Ziellinie überquerte!

Erst als der Schleudersitz die Ziellinie überquert hatte, verlor er an Vorwärtsschwung, senkte sich dem Boden entgegen, prallte auf und rutschte in Seitenlage weiter - Jason wurde in einen Funkenregen gehüllt, war aufgrund der Spezialkonstruktion aber geschützt.

Dann kam er zum Stehen.

Ein glühend heißer, qualmender Schrotthaufen.

Von allen Seiten kamen besorgte Rennfunktionäre angerannt.

Es herrschte betroffene Stille.

Henry und Martha Chaser hielten Ausschau nach einem Lebenszeichen in dem qualmenden, von immer mehr Rennfunktionären umringten Schleudersitz.

Etwas Derartiges hatte es noch nie gegeben - der Junge hatte sich tatsächlich mit dem Schleudersitz über die Ziellinie katapultiert!

Dann hob jemand Jason aus dem zerknautschten Schleudersitz. Jason stand schwankend da und reckte das Lenkrad und das goldene Vlies empor -

- im nächsten Moment stießen die auf Höhe der Ziellinie versammelten Zuschauermassen ein Gebrüll aus, wie man es in der Geschichte des Hovercarrennsports noch nie vernommen hatte.

Man meinte, die ganze Stadt würde einstürzen.

Henry und Martha Chaser seufzten erleichtert auf - dann sprang Henry vom Sitz hoch und reckte die Fäuste.

»DU ... VERDAMMTER ... KLEINER ... TEUFELSBRATEN!«, schrie er.

Es folgten rauschhafte Szenen.

Als wäre ein Damm gebrochen, strömte die ekstatische Menge die Absperrungen, stürmte auf die Fifth Avenue und sammelte sich um Jasons zerknautschten Schleudersitz.

Jason - mittlerweile umringt von Rennfunktionären und Sicherheitspersonal - trat zu Alessandro Romba und schüttelte ihm die Hand.

»Tut mir leid, dass es mit dem Grand Slam nicht geklappt hat, Mr. Romba«, sagte Jason.

Romba lächelte wehmütig. »Ich habe so das Gefühl, als wäre das heute meine letzte Chance gewesen - von jetzt an habe ich es in jedem Rennen mit einem gefährlichen neuen Gegner zu tun.«

Jason nickte. »Sie sind ein starkes Rennen gefahren.«

»Sie auch. Und jetzt los, junger Freund. Feiern Sie.«

»Das werde ich«, versprach Jason und zeigte ein breites Lächeln.

Er rannte über die Fifth Avenue zum Wrack des Argonaut, der immer noch seitlich auf dem breiten Boulevard lag. Der Bug hatte sich mittlerweile aus den Trümmern befreit. Die beiden Brüder umarmten sich - während ein Blitzlichtgewitter auf sie niederging.

»Jason! Knuddelbug!« Gefolgt von Henry Chaser, kam Martha von der VIP-Tribüne angelaufen.

Martha schloss Jason in die Arme und drückte ihn an die Brust.

Henry Chaser blieb ein paar Schritte hinter ihr stehen, denn er wusste, dass sich der Bug - der im Moment allein dort stand - nicht gern von ihm umarmen ließ.

Deshalb reagierte er überrascht, als der Bug ihm entgegensprang, ihn herzlich drückte und den Kopf an seine Schulter legte.

»Gut gemacht, mein Sohn«, sagte Henry mit brechender Stimme. »Gutgemacht.« »Danke ... Dad«, flüsterte der Bug - die ersten Worte überhaupt, die er unmittelbar an Henry Chaser richtete.

Martha ließ Jason los. »Mir war fast das Herz stehen geblieben, als auf der Zielgeraden auf einmal dein Heckflügel explodiert ist. Was war da los? Wie konnte das passieren?« »Ich hab da so eine Idee«, antwortete Jason und wandte sich um, als Ariel am Ort des Geschehens eintraf. Bei ihr waren zwei New Yorker Cops, die einen Mann in die Mitte genommen hatten: Ravi Gupta, den indischen Buchmacher. Er trug Handschellen.

»Ist er das?«, wandte einer der Cops sich an Jason.

»Ja, das ist er«, antwortete Jason. »Das ist der Typ, der in Italien und hier in New York jeweils eine Sprengladung an meinem Wagen angebracht hat.«

Martha und Henry fuhren herum. Auch die Rennfunktionäre drehten sich um und fassten Gupta in den Blick.

Jason erklärte, was das alles zu bedeuten hatte. »Mir wurde alles klar, als ich im Fernsehen die Rennquoten gesehen habe. Bei einem Rennen kann man auf alle möglichen Ergebnisse wetten: zum Beispiel, dass ich gewinne oder dass ich unter die ersten drei komme. Besonders auffallend aber waren die Quoten für den Fall, dass ich bei jedem Rennen unter die ersten fünf komme. Da musste ich auf einmal an das Italienrennen denken.

Beim Italienrennen hatten wir zwei Zwischenfälle zu verzeichnen: einmal bei der Explosion auf der Zielgeraden, aber auch schon vorher, kurz vor dem zweiten Boxenstopp, als Sally daran gehindert werden sollte, die Boxen von Pescara zu erreichen.

Beide Male traten die Zwischenfälle in dem Moment auf, als ich auf den fünften Platz vorrückte. Auf dem Weg nach Pescara habe ich durch die Abkürzung einen Satz nach vorn gemacht. Dann explodierte der Heckflügel, kurz nachdem ich Trouveau überholt hatte und als es so aussah, dass ich als Fünfter ins Ziel komme.

Das konnte nur bedeuten, dass jemand genau das verhindern wollte. Also habe ich überlegt, wer ... und kam zu dem Schluss, dass es jemand aus dem Wettgeschäft sein musste. Und es gab nur einen Buchmacher, der sich für mich interessiert hat: Gupta. Bevor ich gestern ins Bett ging, sah ich nach, welche Quoten Gupta für den Fall gestellt hatte, dass ich in Italien unter die ersten fünf käme. Die waren enorm. Gupta hätte ein Vermögen verloren, deshalb hat er dafür gesorgt, dass dieser Fall nicht eintritt: erstens, indem er Sally vor Pescara gerammt hat, zweitens, indem er eine Sprengladung an meinem Heckflügel angebracht hat.«

»Aber wie konntest du das beweisen?«, wollte Henry wissen.

»Das konnte ich nicht. Ich musste abwarten, ob heute wieder etwas Ähnliches passieren würde. Deshalb bat ich Ariel, den Cops davon zu erzählen und sie so auf Gupta anzusetzen. Die haben ihn während des Rennens im Auge behalten und ...«

Er wandte sich dem Cop an Ariels Seite zu.

Der Cop sagte: »Uns liegen digitale Aufzeichnungen vor, die zeigen, wie Mr. Gupta eine Fernsteuerung auf den Argonaut richtet und unmittelbar vor der Explosion des Heckflügels einen Knopf drückt. Die Funküberwachung hat zudem ein Ruf-und- Antwort-Signal aufgefangen, das zwischen Guptas Fernsteuerung und dem Argonaut ausgetauscht wurde. Deshalb wird Mr. Gupta uns jetzt begleiten.«

Er führte Gupta ab.

»Wettbetrug«, knurrte Sally. »Eine schlimme Sache.« »Ach, so schlimm auch wieder nicht«, meinte Martha Chaser zaghaft.

»Wie meinst du das, Mum?«, fragte Jason verwundert.

Seine Mutter wirkte verlegen. »Ach, ich hab doch vor dem ersten Rennen, als die Quote noch eintausendfünfhundert zu eins stand, einen Dollar auf deinen Sieg beim Masters gesetzt. Somit habe ich gerade anderthalbtausend Dollar gewonnen. Jetzt kann ich mir eine neue Nähmaschine leisten.«

Jason schüttelte grinsend den Kopf.

Und dann stand er mit seiner Familie, seinen Freunden und dem goldenen Vlies inmitten der jubelnden und winkenden Zuschauermassen auf der Fifth Avenue in New York. Es war Samstag, das Masters war beendet ... und er war der Sieger.

Das gleiche Grinsen stand ihm auch wieder ins Gesicht geschrieben, als er auf Liberty Island am Fuße der Freiheitsstatue hinter dem Siegertreppchen stand und zusah, wie Romba (26 Punkte) und Fabian (nur 22 Punkte, da er im 4. Rennen aufgrund seines Unfalls leer ausgegangen war) die Siegerkränze für den 2. und 3. Platz entgegennahmen. Dann war es so weit.

»Und nun, meine Damen und Herren«, verkündete der Ansager, »der Champion des diesjährigen Masters. Auf dem ersten Platz mit insgesamt 28 Punkten aus allen vier Rennen, davon zwei Siege und ein dritter Platz ... Jason Chaser! Das Team: Argonaut/Lombardi. Navigator: Bug Chaser. Mechanikerin: Sally McDuff.«

Alle drei sprangen aufs Treppchen.

Jason, der Bug und Sally.

Sie nahmen die Siegerkränze und die große Masterstrophäe entgegen.

Dann reckte Jason die schwere Trophäe in die Luft, und die Zuschauer gerieten außer sich.

Als er den Blick umherschweifen ließ, dachte Jason an all das, was er im vergangenen Jahr erlebt hatte.

Es war ein unglaubliches Jahr gewesen - ein Jahr, das in den Sümpfen von Carpenteria begonnen hatte. Dann folgten die vielen Qualifikationsrennen an der Schule, die Teilnahme am Italienrennen, und schließlich - ja, es war kein Traum! - hatte er die prestigeträchtigste und anspruchsvollste Rennserie überhaupt gewonnen: das New York Masters.

Und jetzt hatte er zur Krönung des Ganzen einen Vertrag von Umberto Lombardi in der Tasche, der ihm und seinem Team das Privileg zusicherte, im nächsten Jahr für das Lombardi Racing Team an den Profirennen teilzunehmen.

Jason reckte lächelnd die Trophäe.

Er war Jason Chaser.

Hovercar-Champion.