img16.jpg

 

Auf der einen Seite Xavier, wegen seines Freiloses automatisch in der zweiten Runde, hatte im Viertel- und Halbfinale zwei leichte Siege errungen und bisher an diesem Tag gerade mal 25 Runden gedreht.

Auf der anderen Seite Jason, der sich als letzter Fahrer für das Turnier qualifiziert und an den drei nervenaufreibendsten Rennen des Tages teilgenommen hatte. In diesen drei Rennen, von denen zwei über volle 100 Runden gegangen waren, hatte er erstaunliche 290 Runden und insgesamt 2 Stunden und 20 Minuten auf der Piste verbracht.

Nun standen die beiden Wagen Seite an Seite auf dem Startfeld.

Der Speed Razor und der Argonaut. Wagen Nr. 1 und Wagen Nr. 55. Gespannte Stille legte sich auf die Ränge. Sogar die Sponsoren im VIP-Zelt senkten die Champagnergläser und schauten zu. Jetzt ging es ums Ganze. Das Finale.

 

Das Finale Xonora gegen Chaser

Das Finalrennen des Sponsorenturniers war ein typisches Zweierrennen.

Und das aus einem einfachen Grund: Es begann mit einer Katastrophe.

Xavier kam mit seinem Lockheed-Martin am besten von der Startlinie weg und schnitt Jason in der ersten Linkskurve, wobei der Argonaut den Frontflügel verlor.

Deshalb musste Jason nach nur einer Runde in die Box, und als er mit einem neuen Frontflügel die zweite Runde begann, fuhr der Argonaut lediglich eine knappe Wagenlänge vor dem Speed Razor her.

Die Verfolgungsjagd war erbarmungslos.

So wie Jason zuvor Horatio Wong gejagt hatte, jagte Xavier nun den Argonaut.

Seine Kurvenarbeit war tadellos, er hielt sich perfekt an die Ideallinie. In knappen Worten: Es war ein hervorragendes Hovercarrennen von geradezu chirurgischer Präzision. Mit jeder Runde verringerte sich der Vorsprung des Argonaut um etwa dreißig Zentimeter.

Jason aber beging nicht Wongs Fehler. Er wehrte Xavier auf jede denkbare Weise ab - indem er ebenso gut fuhr wie sein Gegner und den Blick gerade nach vorn gerichtet hielt.

Runde um Runde hielt er stand, und die Anfeuerungsrufe der Zuschauer wurden immer lauter. Nach dem Missgeschick mit dem Frontflügel in der ersten Kurve hatte niemand er wartet, dass Jason auch nur drei Runden durchhalten würde. Aber schließlich war er der Bursche, der heute bereits eine 9-Runden-Verfolgungsjagd überstanden hatte.

Aus einer Runde wurden fünf.

Die Jagd ging weiter.

Aus fünf Runden wurden acht.

Xavier ließ nicht locker.

Neun Runden ... zehn ... elf ...

Jason fuhr hoch konzentriert, mit zusammengebissenen Zähnen.

Xavier hetzte ihn wie ein Bluthund - Runde um perfekte Runde. Irgendwann brachte er seine Raketenspitze bis auf fünf Zentimeter an den Frontflügel des Argonaut heran ... kam aber nicht vorbei.

Am Ende hatte Jason sich den Speed Razor erstaunliche zwölf Runden lang vom Leib gehalten, bis Xavier gezwungen war, in die Box zu fahren.

Jason holte die beim ersten Boxenstopp verlorene Zeit nie auf.

Das hatte brutale Folgen: Solange sie die gleichmäßige Abfolge der Boxenstopps beibehielten - mit ihm als ewigem Zweiten - würde Jason immer eine Runde hinter Xavier zurückliegen und der Gejagte sein.

Und so entwickelte sich das Rennen zu einer endlosen Verfolgungsjagd - mit Jason als Gejagtem und Xavier als unerbittlichem Jäger, nur einen Schnitzer des Gegners vom Sieg entfernt.

Die Boxenstopps brachten keine Entlastung. Sally legte einen 8-Sekunden-Stopp nach dem anderen hin, doch Oliver Koch, Xaviers Mechaniker, war ebenso gut wie sie.

20 Runden waren verstrichen - und der erschöpfte, ausgelaugte Jason war mit seinen Kräften so gut wie am Ende.

40 Runden - und Sally durfte sich in der Box keinen einzigen Fehler mehr erlauben, was sie auch nicht tat.

60 Runden - und der Bug bekam allmählich einen steifen Hals, weil er sich so häufig nach Xavier umdrehte.

80 Runden - und Xavier ließ nicht locker.

Er legte eine tadellose Runde nach der anderen hin, während Jason mit der Perfektion eines mechanischen Kaninchens bei einem Windhundrennen immer knapp außer Reichweite vor ihm herfuhr.

Als 90 Runden gefahren waren, erhoben sich die Zuschauer von den Plätzen, und viele der Schüler meinten, wenn Jasons Rennen gegen Barnaby ein Neidrennen gewesen war, dann sei das hier ein Todesrennen, das bis zur hundertsten Runde währen würde. In der 98. Runde passierte es dann.

Etwas, womit niemand gerechnet hatte.

Beide Fahrer fuhren in die Box: Xavier als Erster und dann Jason, der erst einmal um den Rundkurs preschen musste, bevor er zum letzten entscheidenden Mal in die Box fahren durfte.

Als er in die Box schwenkte, stellte er fest, dass Xavier immer noch stand - Oliver Koch hüpfte wie ein Wahnsinniger um den Speed Razor herum, während Xavier auf ihn einbrüllte und drohend die Fäuste schüttelte.

Dann begriff Jason, was da vor sich ging.

Die Hochdrucktülle des Kühlmitteischlauchs war abgebrochen, und überaus spritzte Kühlmittel umher. Koch bemühte sich verzweifelt, eine neue Tülle am Schlauch zu befestigen.

Plötzlich war das Rennen zwischen dem Argonaut und dem Speed Razor wieder ausgeglichen.

Sally legte einen höllisch guten Stopp hin -

- während es Koch gelang, die neue Tülle zu befestigen -

- mit dem Ergebnis, dass beide Wagen fast gleichzeitig aus den Boxen schössen, bloß dass jetzt zum Erstaunen aller der Argonaut vor dem Speed Razor lag!

Jetzt ging es um einen Einminutensprint zur Ziellinie. Jason flog nur so dahin. Xavier griff an. Schuumm! Schuumm!

Noch eine Runde, und Jason war noch immer eine halbe Wagenlänge in Führung.

Die Zuschauer hielt es nicht mehr auf den Sitzen.

Die letzte Runde.

Jason blickte starr auf die Piste.

Nach links in die weit geschwungene Kurve durch die Stadt, während zu beiden Seiten schemenhafte Gebäude vorbeizischten ...

Über die Überführung hinweg ...

Und dann auf der Ideallinie in die letzte Rechtskurve hinein - da tauchte links die Raketenspitze des Speed Razor in Jasons Gesichtsfeld auf, und das Tosen der Triebwerke dröhnte lauter in seinen Ohren.

Der Speed Razor war gleichauf! Xavier ließ einfach nicht locker.

Die letzte Kurve nahmen die beiden Wagen Seite an Seite.

Jason biss die Zähne zusammen und krallte die Hände so fest ums Steuer, dass die Knöchel weiß hervortraten. Die blutunterlaufenen Augen weit aufgerissen, dicht vor dem sensorischen Overkill.

Der Speed Razor kam näher ... und machte Anstalten, ihn zu überholen!

Jason konnte es einfach nicht fassen. Er konnte nichts dagegen tun! Fahrerisch gab er sein Bestes, doch Xavier war trotzdem schneller.

Und dann auf einmal wurde Jason etwas klar.

Xavier war zu gut. Zu schnell.

Das Rennen geriet Jason aus dem Ruder.

Xavier würde gewinnen.

Auf einmal lag vor ihnen die Zielgerade, und der Argonaut und der Speed Razor rasten Seite an Seite mit Vollgas dahin und schössen gemeinsam durch den roten Laserstrahl, der die Ziellinie markierte, und der Sieger des Rennens - des Finales -des ganzen Tages und des Turniers war -

- Xavier.

Mit 0,003 Sekunden Vorsprung. Drei Tausendstelsekunden.

Während die beiden Wagen die Piste entlang glitten und allmählich langsamer wurden, seufzte Jason erleichtert auf.

Er hatte verloren. Er hatte das Finale verloren - zweifellos eine bittere Enttäuschung -, doch er war auch froh, dass der Tag, dieser lange Renntag, endlich vorüber war.

Fast keiner der 250 000 Zuschauer wollte sich die Siegerehrung entgehen lassen.

Das Publikum klatschte begeistert, als Xavier triumphierend aufs Podium trat und von Rennleiter Calder und Jean-Pierre LeClerq die Siegertrophäe entgegennahm.

Jason, der hinter dem zweithöchsten Treppchen stand, applaudierte mit.

Als der Beifall für Xavier und sein Team sich gelegt hatte, tönte erneut die Stimme des Ansagers aus den Lautsprechern:

» Und auf dem zweiten Platz Wagen Nr. fünfundfünfzig, Team Argonaut. Fahrer: Jason Chaser; Navigator: Bug Chaser; Mechanikerin: Sally McDuff.«

Mit gesenktem Haupt trat Jason aufs Treppchen.

Was dann geschah, traf ihn völlig unvorbereitet.

Die Zuschauer rasteten aus. Komplett!

Im wahrsten Sinne des Wortes.

Der gewaltige Jubel, mit dem sie Jason, Sally und den Bug feierten, brachte fast das Stadium zum Einsturz.

Blitzlichter flammten auf, Signalhörner tröteten, die Menschen reckten die Arme empor und applaudierten frenetisch. Auch Xavier war über die Lautstärke des Jubels verblüfft.

Doch es war kein Traum.

Die Zuschauer bejubelten den Zweiten lauter als den Sieger des Rennens!

Jason war vollkommen verdattert, er kapierte einfach nicht, was los war.

Gleichwohl stand er mit dem Bug und Sally auf dem zweithöchsten Treppchen und winkte den Zuschauern in seiner coolen neuen Rennmontur verlegen zu.

Das Publikum geriet auf diese Geste hin noch mehr außer Rand und Band und skandierte: »Jason! JASON! JASON!«

Jetzt erst bemerkte Jason in der Menge seine Mutter. Sie weinte vor Freude. Neben ihr machte sein Vater eifrig Digitalfotos mit Tonaufzeichnung fürs Familienalbum.

In diesem Moment wurde Jason alles klar.

Xavier hatte wohlverdient das Turnier gewonnen, und das erkannten die Zuschauer brav an.

Jason hingegen hatte verloren - aber spektakulär.

Nach schwindelerregenden 390 Runden, am Rande der totalen Erschöpfung, hatte er mit weniger als einer Sekunde Rückstand gegen einen Fahrer verloren, der alle seine Gegner eingeseift hatte - und das beeindruckte das Publikum noch mehr.

Jason musste an eine Bemerkung seines Vaters denken: Nicht die Siege zeichnen uns aus, sondern die Haltung, mit der wir verlieren. Sieger kommen und gehen, aber der Rennfahrer, der kämpfend untergeht, wird in den Herzen der Menschen ewig leben.

Lächelnd ließ Jason seinen Blick über die jubelnde Menge gleiten - die seinen Namen rief.

Derweil reichte Rennleiter Calder jedem von Xaviers Siegerteam eine große Flasche Champagner. Xavier ließ nach kräftigem Schütteln den Korken knallen und schickte eine Sektfontäne in die Luft über dem Siegertreppchen.

Am Abend feierte die Familie Chaser - zusammen mit Sally und Scott Syracuse - zum zweiten Mal im Chooka's Chicken Restaurant.

»Ratet mal, was ich gehört habe«, meinte Sally mit einem ordentlichen Burger-Bissen im Mund. »Nach der Siegerehrung soll der Chef des Lockheed-Martin-Profiteams Xavier gefragt haben, ob er nächsten Monat beim Italienrennen antreten will.« »Wahnsinn!«, rief Jason aus. »Das Lockheed-Werksteam. Wow! The Winner takes it all, muss man da wohl sagen.«

»Nur keine Bange«, sagte Henry Chaser, der ihm die Enttäuschung ansah. »Deine Zeit wird kommen. Ich glaube, deine heutige Leistung ist nicht unbemerkt geblieben.«

»Ach ja?«, meinte Jason lachend. »Also, ich seh hier keine Profiteams, die uns die Teilnahme an einem Grand-Slam-Rennen anbieten.«

In diesem Moment betrat eine hoch gewachsene Gestalt das Restaurant.

Alle Köpfe schwenkten herum, und es ertönte ein leises Raunen - schließlich kam es nicht oft vor, dass ein Milliardär in ein Burger-Restaurant hereinspaziert kam.

Es war Umberto Lombardi.

»Aha!«, dröhnte der große Italiener. »Also, das ist mal ein Essen nach meinem Geschmack! Bitte drei Superburger, Madam, mit Extra-Käse! Oh, möchte vielleicht noch jemand etwas bestellen?«

Lombardi nahm neben Martha Chaser Platz. »Bitte entschuldigen Sie vielmals, Señora Chaser, dass ich ungebeten in Ihre Feier platze. Aber ich bitte um Nachsicht, und ich werde auch nicht lange bleiben. Allerdings möchte ich diesem wundervollen jungen Team eine durchaus ernst gemeinte Frage stellen.«

Es wurde still am Tisch.

Lombardi beugte sich vor und senkte die Stimme. »Ich finde, Sie sind heute ein prima Rennen gefahren. Ganz ausgezeichnet. Kein anderes Team musste sich fast 400 Runden lang seiner Haut erwehren. Sie schon. Und damit nicht genug. Sie haben es durchgestanden und hätten beinahe gewonnen*.

Nun denn. Wie Sie vermutlich wissen, findet in drei Wochen das Italienrennen statt. Bislang hat mein Team pro Veranstaltung nur einen Wagen ins Rennen geschickt, aber kürzlich habe ich das Team erweitert... und einen zweiten Wagen dazu genommen.« Ein kalter Schauder lief Jason über den Rücken. »Ja...?«

Lombardi fuhr fort: »Ich möchte Sie Folgendes fragen: Möchten die Mitglieder des Teams Argonaut am diesjährigen Italienrennen teilnehmen?«

Jason glitt die Gabel aus der Hand. Der Bug erbleichte. Sally fiel die Kinnlade runter. Henry Chaser hörte auf zu kauen. Martha Chasers Lippen begannen zu zittern. Scott Syracuse aß einfach weiter.

»Sie ...«, stammelte Jason. »Sie möchten, dass wir beim nächsten Grand-Slam-Rennen für Sie fahren?« »Ja, allerdings«, antwortete Lombardi. Jason schluckte.

Das war zu viel. Die ungeheure Tragweite von Lombardis Angebot schüttelte ihn mit der Gewalt eines Erdbebens.

Das wäre etwas ganz anderes als ein Schulrennen. Oder selbst als ein Sponsorenturnier. Dabei ginge es um mehr - um sehr viel mehr. Das wäre ein Profirennen gegen Profifahrer, das in Italien stattfände und weltweit übertragen würde.

»Na?«, hakte Lombardi nach. »Treten Sie an?«

Jason sah den Bug an, der nur einmal kurz den Kopf senkte.

Sein Blick wanderte zu Sally, die, obwohl immer noch unter Schock, heftig nickte. Dann wandte er sich wieder Lombardi zu und sagte: »Aber klar doch treten wir an.« Damit war die Sache entschieden.

Das Team Argonaut würde nach Italien reisen.